Montag, 06. Mai 2024

Archiv


Ab in den Urlaub

Reisen - das bedeutet den Aufbruch ins Unbekannte, gefährliche Abenteuer, das Erfahren, Erforschen, vielleicht auch Erobern fremder Kontinente. Die Reiseliteratur erzählt davon - auch für Kinder und Jugendliche.

Von Sylvia Schwab | 30.06.2012
    Reiseliteratur – der Begriff steht von Anfang an für den Aufbruch ins Unbekannte. Für Abenteuer, Spannung, die Entdeckung, vielleicht auch Eroberung fremder Länder und Kontinente. Während Frauen sich früher in Liebesromane versenkten und Mädchen Backfischromane verschlangen, schmökerten Männer und Jungen in Reisebüchern. Die richteten den Blick des Jungen nach außen in die große weite Welt, weiteten das Herz und schärften den Blick für das Fremde wie für das Eigene. Klar, dass Männer oder Jungen auch das Personal dieser Gattung bildeten. Mark Twains Tom Sawyer zum Beispiel.

    "Der Professor ließ Tom das Luftschiff in alle Richtungen steuern und brachte ihm das Ganze im Nu bei, und Tom sagte, es sei total einfach…und schon waren wir draußen über dem Ozean selbst und sausten wie der Wirbelwind."
    Doch wie sieht es heutzutage aus mit der Reiseliteratur, speziell mit der für Jugendliche? Wovon soll sie erzählen, wo doch alle Länder und Kontinente längst erobert wurden und Entdeckungen kaum noch zu machen sind? Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung in Frankfurt, konstatiert:

    "Das ist auch ein Element, dass mit der Veränderung der Verkehrsmittel eine Gattung verschwindet. Denn wir reisen heute nicht mehr. Wir legen Distanzen zurück und kommen von dem einen Ort zu dem anderen. Alles das sind Veranlassungen, dass Reiseliteratur mehr und mehr ins Metaphorische versinkt."

    Trotzdem: Reisebücher für Jugendliche sind weiterhin "in". Viele neue Bücher beweisen das. Und sie erzählen nicht nur metaphorische, sondern auch sehr realistische Geschichten: Katja Behrens zum Beispiel erzählt in "Der Raub des Bücherschatzes" von einer Reise von Heidelberg über die Alpen bis nach Rom:

    "Weite in der Brust und Weite in der Landschaft, als Jakobe bei Sonnenaufgang neben Anna sitzt, auf dem Weg nach Donauwörth durch morgendliche Nebelschwaden in diffusem Licht…Das Rattern der hölzernen Räder. Das dumpfe Trappeln der Hufe. Das Knarren und Ächzen der Wagen. Verschneite Bäume. Vereiste Bäche. Die Sonne steht jetzt höher am Himmel, der Schnee blendet."

    Katja Behrens Roman erzählt eine authentische Geschichte aus dem 30-jährigen Krieg. Sie beginnt im Winter 1622/23 in Heidelberg. Die katholischen Truppen unter Tilly haben die Stadt erobert und verwüstet, und Leone Allacci, ein päpstlicher Gesandter, soll die wertvolle Heidelberger Bibliothek für den Papst nach Rom schaffen. Fünfzig Fuhrwerke mit 3550 Handschriften und 5960 Drucken rollen Richtung Süden. Mit von der Partie sind zwei Mädchen, die, als junge Männer verkleidet, der Not in Heidelberg entkommen wollen: Jakobe und Anna.

    "Sie verbrachten die Nacht im Feien unter den Frachtwagen auf ein wenig Stroh. Anna schlief sofort ein und fing an zu schnarchen. Jakobe lag neben ihr und war todmüde, konnte aber nicht schlafen, döste ein und schreckte hoch und döste wieder ein. Sie fror, und sie hatte Hunger."

    Jakobe und Anna erleben auf ihrer sechs Monate dauernden Reise alle nur denkbaren Abenteuer und Strapazen. Sie begegnen vielen seltsamen Menschen, geraten immer wieder in Gefahr, entdeckt zu werden und verlieben sich zum ersten Mal. Sie machen unzählige beklemmende wie beglückende Er-Fahrungen in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Katja Behrens hat einen historischen Reiseroman für Jugendliche voller spannender Erlebnisse, großartiger Landschaftsbeschreibungen und eindringlicher Portraits geschrieben. Wie dringlich manche Themen der Autorin sind ¬- die Grausamkeit des Kriegs, die Unterdrückung der Bauern, die Ungeheuerlichkeit der Hexenprozesse oder die Judenverfolgung – das spürt man auf fast jeder Seite. Die historischen Fakten sind gut recherchiert und meist ganz natürlich in die fiktive Geschichte von den beiden Mädchen verwoben. Nur selten kommen sie etwas demonstrativ daher.

    "Es ist nicht so, dass man was mitgeben will, wenn man ein Buch schreibt, dann geht es drum zu erzählen. Das fängt damit an, dass man selbst eine Figur liebt. Und das andere findet sich dann. Also ich denke…. da holt sich jeder das, was ihm etwas gibt."

    Hier können sich junge Leser eine Menge holen: Katja Behrens’ Liebe zu den Pferden, ihre Liebe zu den Büchern, zu den Menschen und zur Musik. Und das in einer Sprache, die zwar ab und zu ein wenig gedrechselt wirkt, aber nur, wenn die Autorin ihre Begeisterung über die Schönheit eines Gewölbes oder einer Landschaft nicht mehr zügeln kann. Ansonsten sind ihre Bilder und Beschreibungen knapp und eindringlich.
    Schade allerdings, dass Katja Behrens ihre so bodenständige Reisegeschichte mit Vampiren aufgeladen hat. Der Gesandte des Papstes und eine Heilige begleiten den Treck als Untote. Das ist einfach zu weit hergeholt!


    "Alle machten viel Wirbel um ihn, und er trug seine Nase immer höher und lief in der Stadt herum, als ob sie ihm gehörte. Manche nannten ihn Tom Sawyer, den Reisenden, und das schwellte ihm vor Stolz dermaßen die Brust, dass er kurz vorm Platzen war."

    Tom Sawyer, der Reisende? Das sind überraschend neue Töne von Mark Twain. Der Schriftsteller und Übersetzer Andreas Nohl hatte zu Twains 100. Todestag vor zwei Jahren eine hochgelobte Neuübersetzung des "Tom Sawyer" und des "Huckleberry Finn" vorgelegt. Danach brachte er auch zwei relativ unbekannte Texte Twains auf den Weg: Im vergangenen Jahr "Tom Sawyer als Detektiv" und in diesem Jahr "Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt. Erzählt von Huck Finn."
    Mark Twain, der ja selbst ein großer Reisender und Reiseschriftsteller war, schrieb "Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt" in erster Linie für Jugendliche. Er entspringt demselben Geist wie seine großen "Brüder" "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn":

    "Es steckt eine Erlebenswelt dahinter, die mit Hannibal und Mississippi und der großen Freiheit und Entlegenheit dieser Welt zu tun hat, die es in Europa nicht gab."

    Tom, Huck und Jim starten bei einer Besichtigung völlig unverhofft mit einem verrückten Erfinder in dessen Fesselballon in die Lüfte. Der Ballon ist kinderleicht zu steuern, und als der "alte Mistkerl", wie sie ihn nennen, aus der Gondel purzelt, fliegen die Drei allein weiter Richtung London. Sie überqueren den Atlantik, landen in der Sahara, und kämpfen dort mit Löwen und Tigern – Letztere gibt es ja gar nicht in Afrika. Sie erleben einen Sandsturm, eine Fata Morgana und Überfälle von Beduinen, schließlich erreichen sie Ägypten und die Pyramiden.

    "Tom legte den Rückwärtsgang ein, und als wir zum Stillstand kamen, guckte ein Menschengesicht, so groß wie ein Haus, in unsere Gondel, genauso wie ein Haus aus seinen Fenstern guckt, und ich fiel um und war tot. Ich muss mindestens eine Minute oder länger mausetot gewesen sein, dann kam ich wieder zu mir. Jim lag mit gefalteten Händen auf den Knien, starrte das Riesending flehend an und bewegte seine Lippen, ohne aber einen Ton herauszubringen. Ich sah nur flüchtig hin und war kurz davor, wieder in Ohnmacht zu fallen. Da sagte Tom:"Das ist doch nicht lebendig, ihr Blödmänner, das ist die Sphinx!"

    Die Rollen sind verteilt wie eh und je. Tom ist der schlaue Anführer, Huck der bodenständige Beobachter und Jim der dumme und untertänige "Nigger" – Andreas Nohl bleibt bewusst bei dieser politisch unkorrekten Bezeichnung. Tom lässt keine Gelegenheit aus, die beiden Anderen während des langen Flugs zu belehren: Über Astronomie und die Zeitzonen, über die Pyramiden wie über Flöhe. Das war im Erscheinungsjahr 1894 sicher zum Teil ernst gemeint und pädagogisch wertvoll, Mark Twain bürstet Toms Besserwissereien allerdings auch genüsslich gegen den Strich. Ironische Schlenker, maßlose Übertreibungen und schlagfertige, zum Teil auch absurde Diskussionen sorgen während der Ballonfahrt für Unterhaltung.

    "Natürlich kam es mir darauf an, dem Original …. so nahe zu sein wie irgend möglich und zugleich eine absolut flüssig lesbare Sprache im Deutschen herzustellen."

    In diesen Ballonszenen mit ihren prasselnden Pointen ist der alte Twain at his best. Richtig spannend ist "Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt" aber nicht. Twain drückt sich um eine spannende Ausgestaltung der Reise, geht gefährlichen, gar dramatischen Situationen sichtbar aus dem Weg. Das ist auch darum schade, weil wir es ja nicht mit einem realistischen Roman zu tun haben. Der phantasievolle Erzähler Huck hätte da mal so richtig auf die Pauke hauen können!

    Kinder von heute, die so einiges gewöhnt sind, was Suspense und Action betrifft, werden den Roman etwas brav und angestaubt finden. Umgekehrt werden Erwachsene ihn mögen, obwohl sie gar nicht die Adressaten sind. Denn Hucks herrlicher Schnodderton und Sprachwitz, Toms doppelbödige Exkurse in die Philosophie und Twains hintergründige Ironie – das alles ist typisch Twain, für Kinder und Erwachsene! Bleibt die Frage: Sind Katja Behrens’ "Raub des Bücherschatzes" und Mark Twains wieder aufgelegte "Ballonfahrt" Beweise dafür, dass die These vom Untergang der Reiseliteratur falsch ist? Eher nicht! Denn ein historischer Roman und ein historischer Autor – beide erzählen sie ja keine modernen Reisegeschichten!


    "Am ersten Morgen auf offener See wachte Wilhelm davon auf, dass ein paar Kinder johlend durch das Zwischendeck tobten. Er beeilte sich aufzustehen und folgte ihnen die steile Treppe hinauf und durch die Luke hindurch an die frische Luft. Er musste die Augen zusammenkneifen, so sehr blendete ihn die Morgensonne nach der Dunkelheit im Zwischendeck. Die See war ruhig."

    Anke Bärs Bilderbuch "Wilhelms Reise" ist "eine Auswanderergeschichte" für Kinder ab 8 Jahren. Aber kein Bilderbuch im üblichen Sinn, sondern ein Buch für größere Kinder und auch ein Familienbuch. Anke Bär erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich Ende des 19. Jahrhunderts ganz alleine aus dem Spessart auf den Weg macht Richtung USA. Von Bremerhaven aus fährt er auf einem der letzten Segelschiffe für Auswanderer, der Columbia, über den Atlantik.

    "Da ist für mich natürlich eine ganz wichtige Botschaft dabei. Dass er da seiner eigenen Stimme folgt. Seiner eigenen Neugier folgt und sich öffnet für diese ungewisse Zukunft und seinen eigenen Weg geht."

    "Wilhelms Reise" ist Reiseliteratur par excellence. Ein Aufbruch ins Unbekannte voller Strapazen und Abenteuer. Ein Buch über die Erforschung eines neuen Kontinents – in diesem Fall des Schiffs – mit all seinen Menschen, Aufgaben und Gefahren. Texte und Bilder sorgen dafür, dass sich diese Reise erstaunlich lebhaft und konkret vor den Augen des Lesers abspielt. Anke Bär hat Fakten und Fiktion, authentisches historisches Material und Wilhelms Geschichte sorgfältig miteinander verknüpft. Das Ergebnis: eine sehr vielseitige Gestaltung durch verschiedenste Illustrations- und Textformen.

    "Die unappetitliche Suppe, die sich mit der Zeit ganz unten im Schiff ansammelte, war ein Gebräu aus eingedrungenem Wasser, Urin, fauligen Abfällen und Rattenschiss: die sogenannte Bilge. Von Zeit zu Zeit wurde die Bilge abgepumpt. Lenzen nannte man das, um das Seuchenrisiko an Bord zu verringern."

    Anke Bär erzählt vom ganz normalen Alltag an Bord, von Seekrankheit und Klogängen, von Unsauberkeit und Enge, Stürmen und der Ankunft in Castle Garden in New York. Bemerkenswert ist dabei, wie sie ihren Text gliedert. Da gibt es zuerst einmal eine Rahmenerzählung – eine Hommage an Anke Bärs Großmutter. Dann Wilhelms Geschichte, außerdem kursive Erläuterungen zu vielen Sachthemen – in kleinen Extra-Kästchen. Zusätzlich viele kleine Randbemerkungen, die der Autorin wichtig oder kurios vorkamen und schließlich auch handschriftliche Texte. Diese vielen Formen wirken auf den ersten Blick leicht verwirrend, laden aber ein zum genaueren Lesen.

    " Was ich so schreibe, hat auch ganz viel mit meinem Kinderbild zu tun, weil ich der Ansicht bin, dass Kinder ja grundsätzlich Welt so wahrnehmen. Sie strecken ihren Kopf in eine unglaublich komplexe Welt und nehmen Bruchteile davon auf, verarbeiten die und je älter sie werden, desto mehr verlagert sich das oder weitet sich aus. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass das eine Überforderung ist oder ein falscher Ansatz, sondern ich finde das natürlich. "

    Anke Bärs Illustrationen, an denen ihre Kollegin Uta Ratz mitgearbeitet hat, sind genauso vielseitig wie ihre Texte. Bunte Bilder über zwei ganze Seiten, großformatige und kleine Skizzen, historische Abbildungen, dramatische Zeichnungen, Schaukästen mit Knoten oder Fischsorten – fast jedes Kapitel hat eine eigene kreative Ausdrucksform. Dass das ganze Buch in den gedeckten Farben alter Fotos gehalten ist, passt genau! Nicht nur zu der über hundert Jahre alten Geschichte, sondern auch zu der Atmosphäre an Bord des Schiffes. Wo schließlich Enge herrschte, Dunkelheit, schlechte Luft und oft auch gedrückte Stimmung. Anke Bär beschreibt und zeigt das alles detailgetreu in ihrem sehr interessanten und schönen Bilderbuch.

    "Die beiden riesigen Schornsteine des Dampfers spuckten bereits schwarze Rauchschwaden, die Schiffssirene stieß ein dumpfes Blöken aus und die Bordkapelle intonierte einen flotten Marsch. Die riesigen Schiffsschrauben wirbelten das Wasser zu weißer Gischt... Inge spürte den gewaltigen Schiffsleib unter sich beben, das Stampfen der Maschinen ließ ihre Fußsohlen vibrieren. Zwischen Kaimauer und Schiffswand klaffte eine Lücke, die sich rasch mit schmutzigem Hafenwasser füllte und immer größer wurde. …Fassungslos sah sie zu, wie man ihr das Land wegzog. "

    Auch die zehnjährige Inge wandert aus. Nicht aus sozialen, sondern aus politisch-religiösen Gründen, denn ihr Vater ist Jude. Nach der Reichspogromnacht ergattert ihre Familie im letzten Augenblick Karten für eine Schiffspassage von Genua nach Schanghai. Das Leben in Schanghai, von dem Susanne Hornfeck in ihrem Roman "Torte mit Stäbchen" für Jugendliche ab 14 erzählt, ist für die Eltern der reine Horror. Für Inge aber wird er zum großen Abenteuer. Sie ist ein neugieriges und intelligentes Mädchen. Sie lernt schnell Chinesisch und schmuggelt Leberwürste und Zigaretten durch die von den Japanern besetzte Stadt. Sie fühlt sich pudelwohl im prallen chinesischen Alltagsleben und verliebt sich schließlich in Samnao, einen jungen Deutschchinesen. Als die Eltern 1947 nach Australien ausreisen können, muss Inge eine schwere Entscheidung treffen.

    "Herr Finkelstein drückte seine Tochter fest an sich. "Neues Spiel, neues Glück, Papa" flüsterte Inge in das kratzige Revers seines wollenen Wintermantels. Er lächelte ihr zu, ein Lächeln, das trotz Abschiedsschmerz Zuversicht ausstrahlte. Während sie sich überflüssigerweise fragte, ob er diesen Mantel am Ende der Reise wohl brauchen würde…hatte Herr Finkelstein seine Frau bereits bei den Schultern genommen und schob sie vor sich her die Gangway hinauf."

    Susanne Hornfeck beschönigt die schwierige Geschichte der Familie nicht! Das Heimweh der Eltern, deren Verzweiflung, als sie auch in Schanghai ins unglaublich schmutzige und enge Ghetto vertrieben werden, die Bombenangriffe der Amerikaner auf die Japaner, das alles schildert die Autorin mit klarem Blick.
    Frisch und charmant, manchmal eine Spur betulich, erzählt sie von Inges Erwachsenwerden. Der bunte, lebenspralle und zugleich unterhaltsame Schmöker schildert die Gefühle seiner Protagonistin immer wieder in eindringlichen Bildern. "Torte mit Stäbchen" ist ein zugleich sinnlich erzählter und sehr informativer Roman, in dem die Atmosphäre und die chaotische Fremdheit der Stadt ebenso deutlich werden wie die Folgen des Weltkriegs. Der fremde Alltag ist exotisch und spannend. Das hat auch Anke Bär, Autorin von "Wilhelms Reise" und Spezialistin für Auswandererthemen, festgestellt.

    "Das hat natürlich einen ganz starken Abenteuer-Anteil auch. Und was ich ja auch merke in meinen Lesungen, die ich in Schulklassen halte, das Interesse für diese alltäglichen Lebensbereiche….all diese ganz alltäglichen Sachen kriegen ja sofort was Abenteuerliches."

    Aber: haben wir es hier oder auch in Anke Bärs "Wilhelms Reise" mit moderner Reiseliteratur für Jugendliche zu tun? Dagegen spricht zweierlei: Zum einen erzählen beide Bücher von einer Reise vor langer Zeit, sie wenden sich zurück in die Geschichte. Außerdem steht in "Torte mit Stäbchen" nicht die Reise selbst im Mittelpunkt, sondern das Leben am Zielort, in Schanghai.

    "Das ist die Auswandererliteratur. Das ist die Migrationsliteratur. .. also im 20.Jahrhundert ist die Reiseliteratur ersetzt worden durch die Migrationsliteratur…Die Migration hat die gleiche emphatische Vorstellung von Veränderung, Bewegung, neue Räume erobern, .. das ist das Leben in der neuen kulturellen Umgebung mit den ganzen kulturellen Differenzerfahrungen, die da gemacht werden."

    "Aufwachen!"
    Cora kitzelte mich mit einer Kissenfeder im rechten Nasenloch. Ich fuchtelte mit der Hand vor dem Gesicht herum, als wollte ich eine Fliege verscheuchen. Der in Morgenrot getauchte Himmel spiegelte sich in den Fenstern der Häuser. Hellblau und rosa. Auf den feucht glänzenden Straßen waren nur wenige Autos und ein paar Radfahrer unterwegs.


    Haben wir ihn da nicht doch noch erwischt, den modernen Reiseroman? In Antonio Gedas "Emils wundersame Reise" ist der 13-jährige Titelheld im Auto unterwegs. Mit einer Gruppe schräger Jugendlicher fährt er von Turin über Berlin nach Madrid, um seinen Großvater zu suchen. Das ist nicht gerade der direkte Weg, so wie auch Antonio Geda nicht auf direktem Weg erzählt. Stattdessen entwickelt er Emils sonderbare Geschichte in immer neuen Anläufen und Andeutungen, Assoziationen und Mäandern. Chronologie, faktische Zusammenhänge, Handlungsfäden – all das muss der Leser sich im Laufe der über 250 Seiten selbst zusammenpuzzeln.
    Emil ist ganz auf sich gestellt. Ohne Papiere hatte er sich mit seinem Vater von Rumänien bis nach Italien durchgeschlagen. Der Vater wird ausgewiesen, Emil kommt bei einer Freundin unter. Ein ominöser Architekt geht ihm an die Wäsche, Emil schlägt ihm die Nase ein und flieht. Sein Ziel: der unbekannte Großvater Viorel, den er nur aus Briefen kennt und der mit seiner Artistentruppe von Stadt zu Stadt zieht.

    "Wir fuhren noch einen ganzen Tag. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten wir Carcassonne. Die tief stehende, blasse Sonne färbte das Kanalwasser gelb. Sebastiano machte ein Foto von mir, als ich mich vorbeugte, um das schwarze Wasser mit den Fingerspitzen zu berühren. "Es wimmelt nur so von Reisenden auf der Welt", sagt eich.
    Sebastiano nickte. "Viele haben lieber keinen festen Wohnsitz"


    Doch "Emils wundersame Reise" - mit dem Auto, dem Laster, dem Schiff und mit dem Zug – spielt nur eine Nebenrolle in Antonio Gedas Roman. Im Mittelpunkt stehen Emils Erlebnisse in Turin, Berlin und dann im Madrid. Emil erzählt kaum vom Fahren, vom Unterwegs-Sein, vom Reisen als Bewegung von Ort zu Ort. Seine Reise ist entweder Flucht oder Verfolgung, es geht ihm nicht um den Weg, sondern um das Ziel.

    "Mit dem Auto kann man nicht mehr reisen. Da kann man Entfernungen bewältigen… Im Extremfall ist das mit dem Fliegen so. Wir sagen zwar noch, wir verreisen, aber mit dem Flugzeug sind wir in sieben Stunden in Delhi, sind aber nicht gereist. Sondern haben auf phantastische Weise den Schauplatz gewechselt. .. steigen aus… über den Wolken."

    Antonio Gedas "Emils wundersame Reise" ist kein ausgesprochenes Jugendbuch, für ältere Jugendliche aber genauso interessant wie für Erwachsene. Ein wundersamer Roman, der die verschiedensten Erzählstränge und Handlungsmotive, Erzählformen und Töne miteinander kombiniert. Der Autor zitiert den Künstler- und den Bildungsroman, erzählt von Missbrauch und Vatersuche, integriert eine ganze Comic-Serie und Zahlentheorien bis hin zur Fibonacci-Folge. Dem Leser schwirrt der Kopf, bis er sich ausruhen kann in humorvollen Passagen und poetischen Bildern. Eine Geschichte voller Überraschungen und unvorhergesehener Zufälle, die Plausibilität spielt eine ebenso untergeordnete Rolle wie die Chronologie.

    Was dazu führt, dass "Emils wundersame Reise" auseinanderfällt in zwei Teile, die sich inhaltlich zwar ergänzen, formal aber kaum zusammenpassen: Die Geschichte von dem Jungen, der sich wie im Märchen aufmacht, seinen Großvater zu finden – eher eine Kindergeschichte. Und die Geschichte von dem Architekten, der sich in seiner Ästhetik einmauert, weil er sich selbst abhandengekommen ist – eine Geschichte für Erwachsene.

    "Ich bin der Interior Designer meiner selbst. Ich erschaffe Welten. Ich kann die perfekte Welt erschaffen. Ich kann sie entwerfen und die dafür am besten geeigneten Materialien auswählen."

    Reiseliteratur erzählte immer von Welterfahrung. Von Er-Fahrung im ursprünglichen Sinn des Wortes. Moderne Reisen sehen meist anders aus, moderne Reiseliteratur damit auch.

    "Welchen Begriff von Reisen, von Entfernung, von Entdeckung kann man heute noch haben? .. Hier fällt einem das Global Village ein. Wir sind alle in ein Dorf gepfercht, und wenn wir nicht demnächst auf den Mond kommen, sehe ich schwarz für die Reiseliteratur. "

    ...resummiert Hans-Heino Ewers. Vielleicht könnte man es so formulieren: Moderne Reiseliteratur für Kinder und Jugendliche ignoriert die veränderten Bedingungen des Reisens und greift noch immer zurück auf traditionelle Themen und Formen. Sie erzählt und erzählt und erzählt – ebenso interessante wie spannende Geschichten.

    Literaturhinweis:

    Katja Behrens: "Der Raub des Bücherschatzes" (Hanser)

    Mark Twain: "Tom Sawyers abenteuerliche Ballonfahrt" (Hanser)

    Anke Bär: "Wilhelms Reise" (Gerstenberg)

    Susanne Hornfeck: "Torte mit Stäbchen" (dtv)

    Fabio Geda: "Emils wundersame Reise"(Albrecht Knaus Verlag)