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Ab in die Prekarität

Die Zahl der Beschäftigten in Minijobs, Leiharbeit oder in staatlich geförderter Tätigkeit ist in den vergangenen Jahren gewachsen. In der öffentlichen Debatte ist von der Prekarität die Rede. Eine Vortragsreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung beschäftigt sich derzeit mit den Rahmenbedingungen unter denen Prekarität entsteht und fragt, wie man dem Phänomen begegnen kann.

Von Ursula Storost | 05.02.2009
    Es war einmal ein großes Schweizer Traditionsbankhaus. Das beschäftigte viele tausend Mitarbeiter. Das Unternehmen war kerngesund und hatte beste Bilanzen. Und die vielen fleißigen Angestellten arbeiteten dort wie unter dem Dach einer großen glücklichen Familie.

    "Es war bis in die 90-er Jahre stolz darauf, noch nie jemanden entlassen zu haben. Und es gab eine Unternehmenspolitik, die auch schwächere Mitarbeiter, die physische oder psychische Leiden hatten, die behindert waren, immer mitgetragen hat."

    Eines Tages, Ende der 90-er Jahre, kamen die Manager des Bankhauses auf die Idee, dass man sich dem Weltmarkt anpassen und den Betrieb modernisieren müsse. Modernisieren, das hieß in dem Fall: 4400 Arbeitsplätze sollten gestrichen werden.

    "Um diese 4400 Opfer dieses Modernisierungsprozesses zu identifizieren, hat man Workshops eingerichtet. Man hat alle Mitarbeiter für zwei, drei Tage in schöne Hotels in den Alpen verfrachtet. Und dort mussten sie quasi ihren Überlebenskampf organisieren. Und ihre Marktfähigkeit unter Beweis stellen. Derjenige, der gewann durfte bleiben. Diejenigen, die in diesen dreitägigen Überlebenskämpfen nicht bestehen konnten, hatten das Schiff zu verlassen."

    Franz Schultheis, Soziologe an der Universität St. Gallen, hat zusammen mit Kollegen und Studierenden, die Entwicklung dieses Bankhauses untersucht. Er hat nach den veränderten Werten und Geschäftpraktiken des Unternehmens geforscht. Dabei hat er festgestellt: Modernisierung heute bedeutet vor allem eine Radikalisierung des kapitalistischen Geistes.

    "Was seit den 90er Jahren in der Unternehmenspolitik zentral zählt, ist schlichtweg der Börsenwert. Und wir wissen aus Untersuchungen, dass die Börse auf Entlassungen positiv reagiert, weil dann eben Nebenkosten der Unternehmen radikal reduziert werden. Wir haben bei diesem Unternehmen feststellen können, dass pro gefallenem Kopf von Mitarbeitern der Börsenwert um 600.000 Franken gestiegen war. Also etwa 400.000 Euro."

    Die Börse als Maß aller Dinge. Franz Schultheis schlussfolgert, dass Europa sich inzwischen einem Unternehmensstil anpasst, wie man ihn früher nur aus den USA kannte.

    "Und es entsteht eine neue Form von Kapitalspekulation. Das Finanzkapital kriegte Überhand im Bankgeschäft. Und was wir dann in den letzten zehn Jahren erleben, das Aufblasen einer enormen Spekulationsblase, die jetzt vor wenigen Monaten geplatzt ist, ist eigentlich eine direkte Konsequenz dieser Unternehmensveränderungen der 90-er Jahre, ist also hausgemacht."

    Besagte Schweizer Großbank wurde von einem Dienstleistungsbetrieb, wo der Kunde König sein sollte, zu einem Geldvermehrungsbetrieb für Großanleger. Und um die Schieflage komplett zu machen, hat das Unternehmen zeitgleich mit den Massenentlassungen ein Bonussystem für die Vorstandsetage eingeführt.

    "Die Gesamtsummen, die man dort ausgibt für Führungskräfte, die jenseits eines schon sehr guten Gehaltes noch einmal mehr als das Doppelte dazu geschossen bekommen, übertrifft bei weitem die Summe der eingesparten Löhne von diesen 4400 Mitarbeitern."
    Solche Unternehmenskultur sei dem Geist des Neoliberalismus geschuldet, befindet Franz Schultheis. Und der, da ist er sich mit vielen Sozialwissenschaftlern einig, führe zu einer Radikalisierung des Marktdenkens.

    "Dabei versucht man, das Menschenkapital, das Humankapital, noch straffer zu organisieren. Es werden Konzepte eingeführt wie Employability, also die Fähigkeit auf dem Markt einen Abnehmer für seine eigene Arbeitskraft zu finden. Flexibilität ist ein ganz wichtiger Begriff. Mobilität, Bereitschaft in kurzfristigen Projekten zu arbeiten und nicht mehr auf eine lebenslange Karriere im gleichen Betrieb einzustellen."

    Ein Denken und Handeln, das zu Prekarität führe. Prekarität, abgeleitet vom lateinischen Wort precarius bedeutet soviel wie unter Vorbehalt. Heute ein Schlüsselbegriff in sozialwissenschaftlichen Diskussionen.

    "Und zwar das Wiederauftauchen von Formen der sozialen Frage, wie wir sie im 19. Jahrhundert kannten, Unsicherheit am Arbeitsplatz, working poor, also Leute, die voll arbeiten und trotzdem am Ende des Monats nicht über die Runden kommen. Unsichere Arbeitsstellen, Identitätsverlust durch kurzfristige schlechte Jobs, die man noch über Leiharbeit und so weiter nur bekommt."

    Diese Entwicklung betrifft unsere gesamte Gesellschaft, Menschen, für die noch bis vor wenigen Jahren an ein gewisses Maß von Wohlstand normal war. Denn auch vor dem Mittelstand macht die Prekarisierung nicht halt, weiß Natalie Grimm, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie hat eine zweijährigen Studie zu Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen erarbeitet.

    "Was man sagen kann, ist, dass es immer noch so ist, dass Qualifikation und Bildung eine Rolle spielt, aber auch soziale Netzwerke. Also hat man gute Kontakte, worüber man Arbeit finden kann. Allerdings breitet sich das soweit aus, dass auch Hochqualifizierte von einem befristeten Job oder von einem Praktikum ins nächste springen. Das heißt diese ganz klaren Aufwärts- und Abwärtsspiralen sind gar nicht mehr so erkennbar. Es kann wirklich jeden treffen."

    Und, fügt Natalie Grimm hinzu, bei ihrer Erhebung wurde auch deutlich, dass Arbeitsmarktreformen wie Hartz IV die Menschen sehr stark verunsichert.

    "Das heißt, sie sorgen sich darum, ob sie in ihrer Wohnung bleiben können oder ob sie in eine schlechtere Wohngegend absteigen, ob sie umziehen müssen - oder auch, es geht um einfache Dinge: Kann ich das Auto halten oder das Zeitungsabo oder den Telefonanschluss?"

    Bei all dem ist erstaunlich, dass sich große Teile der Bevölkerung nicht längst zusammengeschlossen haben, dass es keine Massendemonstrationen und Generalstreiks gibt, dass Regierungen nicht zum Rücktritt gezwungen werden.

    "Das Problem ist, dass sie sich gar nicht als Gruppe sehen, sondern jeder für sich guckt, wie er irgendwie über die Runden kommt. Also es gibt keine gemeinsame soziale Bewegung - und das sorgt mich ein bisschen."

    Dazu trägt sicher auch bei, dass manche Teile der Mittelschicht mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen besser zurecht kommen als andere, sagt der Soziologe Berthold Vogel vom Hamburger Institut für Sozialforschung.

    "Auch mit ihren Qualifikationen als Ressource einigermaßen im gesellschaftlichen Wandel bestehen können. Andere in der Tat zurückbleiben, ihre Position nicht halten können, berufliche Verschlechterungen in Kauf nehmen müssen, materielle Verschlechterungen in Kauf nehmen müssen. Also die Mittelklasse wird sich in besonderer Weise neu sortieren, neu fragmentieren und sicherlich als eine etwas zersplitterte soziale Einheit sich darstellen, als das in der Vergangenheit der Fall war."

    Die jetzige Finanzkrise, die ein Auswuchs jahrelanger Fehlentscheidungen einzelner Unternehmen und verschiedener Regierungen ist, hat für Berthold Vogel wenigstens eins bewirkt: Sie hat wieder eine gesellschaftliche Diskussion über die Gestaltbarkeit des Sozialen in Gang gesetzt.

    "Bis vor wenigen Jahren war ja die Mehrheitsmeinung unter den politischen und wirtschaftlichen Eliten, dass man im Grunde die Gesellschaft im Zeichen der Globalität kaum mehr steuern kann, sondern dass wir alle nur den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu folgen haben. Und diese Debatte ist vom Tisch. Durch die Entwicklung, die wir in den vergangenen Monaten beobachtet haben."

    Und, fügt Franz Schultheis von der Universität St. Gallen hinzu, es könnte jetzt auch eine Chance geben, dass Politiker und Öffentlichkeit sich wieder ihrer Traditionen bewusst werden.

    "Es wird gesagt, wir haben seit den 90-er Jahren den sozialen Kapitalismus und die soziale Marktwirtschaft, die wir mühsam aufgebaut haben hier in Europa, aufgrund unserer Anleihen am amerikanischen Kapitalismus, an diesen unzivilisierten, wilden Raubtierkapitalismus aufgegeben. Wir müssen diese Tradition wiederbeleben, wieder zurück zu ihr finden. Und müssen auf dieser europäischen Tradition eines einigermaßen gerechten, gerecht war er ja nie, einigermaßen befriedeten und einigermaßen lebbaren Kapitalismus zurückfinden."