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Abbrechendes Eis

Wenn in der Antarktis ein Schelfeisgebiet abbricht, macht das rund um die Welt Schlagzeilen. Diese schwimmenden Rieseneisberge von der Fläche ganzer Länder sind ein Synonym für den Klimawandel: Das Eis "stirbt" vor laufenden Kameras. Am Nordpol ist das anders. Auch dort gibt es - allerdings viel weniger - Schelfeis, auch dort verschwindet es, und mit ihm ein einmaliges Ökosystem. Aber kaum jemand nimmt davon Notiz.

Von Dagmar Röhrlich | 29.04.2009
    1907 war die Welt noch in Ordnung. Damals reiste Polarforscher Robert Peary, der als erster Mensch den Nordpol erreicht haben soll, mit dem Hundeschlitten entlang der Küste von Ellesmere Island im Norden Kanadas. Und er beschrieb ausgedehnte Schelfeisareale, die steil ins Meer abfielen.

    "Schelfeis entsteht immer dort, wo Gletscherzungen auf das Meer strömen und große Flächen von 'Eisland' formen. Am Nordpol gibt es dieses Schelfeis heute nur noch in einem schmalen Küstenstreifen im Hohen Norden Kanadas","

    so Luke Copland von der Universität Ottawa. 1907 bedeckte das Schelfeis noch die doppelte Fläche des Saarlands. Heute entspricht die Gesamtfläche vor Ellesmere Island und im äußersten Norden Grönlands nur noch der Hamburgs:

    ""In den vergangenen fünf Jahren haben wir eine dramatische Abnahme des arktischen Schelfeises beobachtet. 2005 haben wir das gesamten Aysle-Eisschelf mit einer Fläche von der Größe Manhattans verloren. Das haben wir damals für ein großes Ereignis gehalten. Dann kam der Sommer 2008, und der Eisverlust war dreimal höher. Zwischen Juli und August sind zwei von sechs verbliebenen Schelfeisgebieten zerbrochen. Von ihnen sind nur noch Puzzleteile übrig, die nur noch herumdümpeln, kein solider Eisschelf mehr. Auch die verbliebenen Eisschelfe sind stark dezimiert worden."
    Innerhalb weniger Wochen ging fast ein Viertel der Fläche verloren. Die rasante Abnahme hat mehrere Ursachen. Einmal wird der Schutz durch das Meereis schwächer: Das schmilzt durch den Klimawandel, und so kann die Brandung viel leichter an der Eiskante nagen. Auch die im dunklen Ozeanwasser gespeicherte Wärme greift an.

    "Außerdem sorgen die Gletscher heute kaum noch für Nachfluss, denn die meisten haben ihren Kontakt zu den Eismassen im Hinterland verloren. Wenn es dann im Sommer noch sehr warm wird und ein starker Wind aufs Meer hinaus weht, bricht das Schelfeis ab. Der Eisverlust des vergangenen Sommers war deshalb so groß, weil im Norden von Ellesmere Island längere Zeit hinweg 20 Grad herrschten. Dabei steigt das Thermometer dort normalerweise kaum über Null."

    Die Schelfeisgebiete brechen ab und treiben davon. Dabei gehen aber auch einmalige Ökosysteme verloren, die seit dem Ende der Eiszeit entstanden sind:

    "Die Schelfeisgebiete haben sich teilweise von ihren Gletschern gelöst und wirkten seitdem wie Staumauern: Zwischen Gletscher und Schelfeis entstanden auf dem Meer Schmelzwasserseen. Diese Seen sind so tief wie das Schelfeis dick, also 40 bis 50 Meter. Die obersten ein oder zwei Meter waren permanent gefroren. Diese Seen waren nach oben hin durch das Eis von der Außenwelt isoliert und nach unten hin haben sie Kontakt zum Meerwasser. Auf der Welt einzigartige mikrobielle Ökosysteme konnten sich entwickeln. Wenn das Schelfeis zerbricht, verlieren wir diese Lebensgemeinschaften."

    Gefährdet sind sie schon vorher. In den warmen Sommern der vergangenen Jahre schmolz das Eis auf den Seen. Erstmals seit Jahrtausenden hatten die Ökosysteme Kontakt mit der Atmosphäre. Ihre Isolation war dahin.

    "Wir haben erst vor kurzem gemerkt, wie einmalig diese Seen auf der Erde sind - und da sind sie dann auch schon verschwunden."

    So ganz unbemerkt verschwindet das Schelfeis des Nordens allerdings nicht. Wenigstens die Ölindustrie nimmt es zur Kenntnis: Wenn es zerbricht, entstehen Eisinseln, die nichts anderes sind als gewaltige Eisberge.

    "Diese Eisinseln werden von den Meeresströmungen nach Westen getrieben, in ein Gebiet, in dem gerade nach Öl gesucht wird. Die ein oder zwei Milliarden Dollar teuren Bohrplattformen, die sie dort aufstellen, werden zwar mit dem Meereis fertig, aber kaum mit einer 40 Meter dicken Eisinsel."

    Deshalb lassen die Firmen die Eisinseln künftig mit Satelliten verfolgen. Wenn dieser Sommer allerdings wieder so warm wird wie der vergangene, sind diese Sorgen bald überflüssig: Dann gibt es in wenigen Jahren kein Schelfeis am Nordpol mehr.