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Abd Samad Moussaoui: Zacarias Moussaoui - mein Bruder.

Spätestens seit den Attentaten des 11. September vor einem Jahr hat sich bei vielen Menschen gerade in der westlichen Hemisphäre eine latent wohl stets vorhandene, wenn auch weitgehend diffuse Furcht vor "dem" Islam noch vertieft. Jetzt sind im Zürcher Pendo-Verlag zwei Arbeiten erschienen, die ergründen wollen, weshalb jemand zum Terroristen wird, dies religiös zu begründen versucht - dabei aber oft nicht merkt, dass er nur benutzt und letztlich für ganz andere Interessen instrumentalisiert wird: "Schmutzige Geschäfte und Heiliger Krieg - Al Qaida in Europa" geschrieben von Johannes und Germana von Dohnanyi - so der eine Titel. Der andere heißt "Zacarias Moussaoui - mein Bruder" und dessen Autor Abd Samad Moussaoui. Er ist der Bruder des verhafteten sogenannten "20. Mannes", der die Attentate von 11. September mitgeplant haben soll und offenbar nur durch einen Zufall nicht mitgeflogen ist.

Esther Saoub | 30.09.2002
    Man stellt sich am besten einen enormen Kraken vor, von dessen Kopf unzählige Fangarme ausgehen. Jeder dieser Tentakel kann sich unabhängig von den anderen bewegen, auch wenn er mit demselben Kopf verbunden ist.

    Mit diesem Bild versucht Abd Samad Moussaoui, die Terrororganisation Al Qaida zu beschreiben. Sein Buch ist eine Annäherung an etwas, dem er doch nicht nahe kommt. Warum? Ist die Frage, die Abd Samad nicht mehr loslässt; wie konnte sein kleiner Bruder, intelligent und charmant, sein Bruder, der sich nie mit Religion beschäftigt hat, der kein Arabisch spricht und nicht wusste wie man betet, wie konnte Zacarias muslimischen Extremisten verfallen?! Und: wie hätte die Familie das verhindern können?! Abd Samad Moussaoui beginnt seine sehr persönliche und doch nie sentimentale Darstellung dort, wo auch ein Analytiker beginnen würde: In der Familie. Die vier Geschwister wachsen mit ihrer geschiedenen Mutter in Frankreich auf. Eine typische Einwandererbiographie: Die Mutter arbeitet, dient sich langsam bis zur Staatsbeamtin hoch, spart wo es geht. Sie hat keine Zeit für ihre Kinder, ist ungerecht und launisch, gibt ihnen weder Zuwendung, noch ein Gefühl von Heimat: Sie verneint ihre arabisch-muslimische Identität, erzählt den Kindern nichts über ihre Religion. "Ich habe Wert darauf gelegt, dass sie keinen Umgang mit Arabern haben" sagt sie Ende September 2001 der Zeitung "Le Monde".

    Manchmal ließ sich meine Mutter zu Äußerungen hinreißen, die aus dem Mund eines französischstämmigen Franzosen als fremdenfeindlich eingestuft würden. Meine Mutter aber war, selbst wenn sie es anscheinend vergessen wollte, auch Araberin. Sie wollte ein Leben ohne Zwänge, ganz nach ihren Vorstellungen, und sie wollte dafür sorgen, dass ihre Söhne keinerlei Kontakt zu dieser Welt hatten, aus der doch auch sie stammte. (...) Wir fühlten uns nicht als gebürtige Franzosen. Das wurde uns immer dann klar, wenn wir mit rassistischen Äußerungen konfrontiert wurden. Und wir lebten auch nicht wie Marokkaner. Das Resultat war ein Gefühl der Leere, das sich bei uns einschlich.

    Zacarias entscheidet sich trotz guter Noten zunächst für eine Berufsausbildung und macht dann das Fachabitur. Er möchte Kaufmann werden. An der Universität gerät er in Kreise ausländischer muslimischer Studenten, die ihn zur Solidarität mit den bedrängten Glaubensbrüdern in Bosnien oder Palästina aufrufen. Zacarias ist emotional betroffen, ohne die religiösen Hintergedanken seiner Gesprächspartner zu durchschauen. 1991 schließlich geht er nach London, um Englisch zu lernen. Später wird seinem Bruder Abd Samad klar, dass er hier wohl endgültig in die Fänge der Islamisten geraten sein muss.

    Die Anwerber gehen stets nach dem gleichen Muster vor. Zuerst machen sie junge Opfer aus, die gewollt oder gezwungenermaßen aus ihrer Familie entwurzelt sind. (...) Zacarias fühlt sich als Franzose nicht recht wohl in seiner Haut und spricht als Marokkaner nicht einmal Arabisch. (...) Seine Verlorenheit hat dazu beigetragen, sein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe zu fördern, die ihn bei sich aufgenommen hat. Die Anwerbung meines Bruders war aufgrund seiner völligen Unkenntnis in Glaubensfragen um so einfacher. Er war unbedarft und hatte weder entsprechende Grundkenntnisse noch die nötige geistige Standfestigkeit, um sich dagegen zu verteidigen.

    Auch Abd Samad sucht nach seiner Religion, doch er hat Glück und findet in Montreux eine liberale Moschee. Dort unterrichtet ihn ein Imam, der den Koran in den Kontext der Gegenwart stellt und ihn auf diese Weise verständlich macht.

    Die Schriften des heiligen Koran lehren Gerechtigkeit und Mäßigung. (...) Man kann dort lesen: "Und der Hass, den ihr gegen Leute hegt, weil sie euch von der heiligen Kultstätte abgehalten haben, soll euch ja nicht dazu bringen, dass ihr Übertretungen begeht. Helft einander zu Frömmigkeit und Gottesfurcht, aber nicht zu Sünde und Übertretung."

    Al-Qaida streckt überallhin ihre Tentakel aus, und findet immer Hände, die diese ergreifen und festhalten, auch wenn sie es später nicht mehr wahrhaben wollen. In ihrem Buch "Al-Qaida in Europa" haben Germana und Johannes von Dohnanyi einige dieser Verbindungen aufgespürt und akribisch nachgezeichnet. Über Presseberichte, Polizei- oder Prozess-Protokolle, und nicht zuletzt durch ausführliche Interviews mit Beteiligten oder Augenzeugen verknüpfen die Autoren diese Aussagen zu einer soliden Material-Basis. Für die Leser fügt sich plötzlich eins zum anderen: Der sowjetische Krieg in Afghanistan, der Zusammenbruch Albaniens, der Krieg in Bosnien und im Kosovo, Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenien – immer wieder finden sich dieselben islamischen Ideologen, die Einfluss nehmen, und dieselben westlichen Geschäftsleute oder Politiker, die von den Krisen profitieren. Im Machtgefüge zwischen der Supermacht USA auf der einen und den ärmeren Staaten auf der anderen Seite, weisen die Autoren hier auf die Gefahren eines "asymmetrischen Konflikts" hin:

    Ironischerweise war es ausgerechnet der größte Erfolg der amerikanischen Militärdoktrin seit dem Zweiten Weltkrieg, der die Suche nach neuen Strategien erforderlich gemacht hat. Die auf dem Technologievorsprung westlicher Waffensysteme beruhende Leichtigkeit, mit der sich die von den USA geführte Koalition im Golfkrieg gegen die irakische Armee durchsetzte, hatte allen potentiellen Opponenten die Option auf den klassischen Krieg, also eine direkte Konfrontation großer Militärverbände, auf nicht absehbare Zeit genommen.

    Die islamischen Terrororganisationen setzen genau das als Waffe ein, was die USA verschonen wollen: Das Leben ihrer Kämpfer und das unschuldiger Zivilisten. Bisheriger Höhepunkt dieser brutalen Strategie ist der Anschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York:

    Eine noch größere Gefahr als von den Selbstmördern geht von chemischen oder gar nuklearen Waffen aus. Hier weisen die Autoren auf eine erschreckende Verbindung hin: Die Terroristen finanzieren sich teilweise über Giftmüllgeschäfte: Skrupellose Entsorger verschiffen hochgiftigen Müll aus dem Westen in die Dritte Welt, da diese Art der Entsorgung um ein Vielfaches billiger ist, als die sichere Variante im Verursacherland. Dabei werden die Drittweltländer oft in Waffen bezahlt, und manche der hochgiftigen Substanzen taugen sogar selbst als Komponenten für chemische Kampfstoffe. Johannes und Germana von Dohnanyi kommen auch hier zu dem Schluss, dass ein Netzwerk wie Al-Qaida nie derart global und effektiv operieren könnte, wenn es nicht von Geschäftsleuten und Politikern in vielen Staaten der Welt gefördert, gedeckt oder wenigstens geduldet würde.

    Diese Ereignisse haben die Welt in zwei Teile gespalten: in den der Gläubigen und den der Ungläubigen.

    Osama Bin Laden in einer seiner Video-Ansprachen nach dem 11. September. Mit solchen Ideen haben er und seine fanatischen Gefolgsleute Zacarias Moussaoui das Gehirn gewaschen, da ist sich der Bruder sicher. Seither sucht er nach Antworten auf die Frage, wie man Zacarias von diesem Weg hätte abbringen können? Doch anders als das Autorenpaar von Dohnanyi geht es Abd Samad Moussaoui nicht nur um härtere Gesetze, oder mehr Überwachung. Für ihn ist es vor allem wichtig, dass den Werbern der Islamisten der Boden entzogen wird. Und das bedeutet: Jugendliche Muslime der zweiten und dritten Generation in Europa brauchen eine solide religiöse Bildung sowie ein echtes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer neuen Heimat. Die beiden Bücher nähern sich Al-Qaida auf zwei sehr unterschiedlichen Wegen: Die Autoren Dohnanyi beweisen die weltweite Verzweigung des Terrornetzwerks – sie stützen sich auf eine bewundernswert detailreiche, gründliche Recherche. Sobald sie jedoch spekulieren, über größere Zusammenhänge zwischen Neonazis, Islamisten und Globalisierungsgegnern etwa, drohen sie in eine Verschwörungstheorie abzurutschen, die wenig glaubwürdig wirkt. Abd Samad Moussaoui dagegen umgeht bewusst jede Mutmaßung: Dadurch fehlt zum Beispiel Zacarias’ Zeit in den Trainingscamps. Doch das Buch trägt einer Tatsache Rechnung, die leicht in Vergessenheit gerät: Auch die muslimischen Terroristen sind in erster Linie Menschen, und irgendwo muss es eine Möglichkeit geben, mit ihnen zu kommunizieren.

    Esther Saoub besprach "Zacarias Moussaoui - mein Bruder" von Abd Samad Moussaoui. Erschienen ist das Buch im Pendo-Verlag Zürich, es hat 174 Seiten und kostet 14,90 Euro. Ebenfalls im Zürcher Pendo-Verlag herausgekommen ist: "Schmutzige Geschäfte und Heiliger Krieg - Al Qaida in Europa" von Johannes und Germana von Dohnanyi, 283 Seiten, 14 Euro.