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Abendländer

Matthew, einer der vielen echten und literarischen Amerikaner in Paris, ist Illussionist. Er hatte sich zum Beispiel vor dem Antritt seiner Reise nach Europa eingebildet, die französische Hauptstadt läge viel südlicher, als sie es in Wahrheit tut, mehr, so dachte er, im Zentrum des Landes. Nun, während der Taxifahrt vom Pariser Flughafen zum Hotel, belehrt ihn ein Blick auf die Landkarte eines Besseren. Paris, wundert sich Matthew, liegt auf einem Breitengrad mit Neufundland und in erstaunlicher Nähe zu so nördlich klingenden Städten wie Kopenhagen. Matthew hatte sich von Paris auch klares, strahlendes Winterwetter erwartet. Aber die Metereologie beugt sich seiner Einbildungskraft so wenig wie die Geographie. Es ist regnerisch, klamm und neblig in Paris. Aber der schlimmste Absturz seiner optimistisch verdrehten Vorstellungen in die schnöde Realität steht Matthew noch bevor: Im Hotelzimmer, welches sich selbstredend als stickiges Loch erweist, ruft der angereiste Amerikaner den Lektor des französischen Verlages an, der Matthews erstes und einziges Buch, irgend etwas Autobiographisches über eine gescheiterte Ehe, in Übersetzung herausbringen will. Glänzend und souverän hatte sich Matthew seinen Auftritt im Pariser Verlagshaus ausgemalt. Auch daraus wird nichts. Der Lektor teilt ihm telefonisch mit, daß er drauf und dran ist, Paris zu verlassen, um Urlaub zu machen. So scheint der ganze Paris-Trip, kaum begonnen, bereits nach einigen Seiten von Richard Fords Novelle "Abendländer" zu Ende zu sein.

Ursula März |
    Matthew steht griesgrämig am Hotelfenster, mit einem Pyjamaoberteil bekleidet und unten herum lächerlich nackt, ein dem Leser freimütig dargebotenes Inbild des Helden als Trottel. Da aber fängt Richard Fords raffiniertes Spiel mit der Asymmetrie zwischen Einbildung und Wahrheit erst richtig an. Der Trottel Matthew fängt sich. Er entwickelt die Energie jener mittleren Zufriedenheit, die sich einerseits als Terror der Selbstzufriedenheit gegen die Mitmenschen und andererseits als Verwirrung des Lesers auswirkt. Beispielhaft hat Richard Ford diese Gemütslage in der Figur des ewig tagträumenden Sportreporters in dem gleichnamigen Roman dargestellt. Eine verlorene Seele, die sich und dem Leser unentwegt weis macht, daß sie sich auf dem Glückspfad befindet, steht auch im Zentrum der Novelle "Der Frauenheld", dem ebenfalls in Paris spielenden literarischen Zwillingsprodukt von "Abendländer".

    Matthew ist nicht allein nach Paris gekommen. Er hat eine Frau namens Helen dabei. Die Geschichte zeigt sie zunächst, gesehen mit Matthews Augen, als große, gut gebaute und gut gelaunte, sexuell ein bißchen überaktive amerikanische Frau über 40. Eher als Nebensache erwähnt der Text, daß Helen an Krebs erkrankt war. Ganz unauffällig und großartig subtil leitet der Satz, der die Krankheit erwähnt und seine Präteritumform den Skandal der Geschichte ein. Denn Matthew ist, was ihm sein zwanghaftes Beschönigen und sein Illussionscharakter zu sehen verbietet, mit einer todkranken Frau unterwegs. Er sieht dunkle Verfärbungen auf ihren Beinen, er sieht, daß Helen offensichtlich Schmerzen hat, daß sie im Bad Tabletten nimmt, aber die Bilder durchdringen nicht den sedierenden Nebel über seinem Ego. Bei den Mitteln, mit denen er sich und seine Wahrnehmung betäubt, handelt es sich obendrein um literarische Techniken. "Abendländer" ist unter anderem eine Reflexion über jenen Typ des etwas trivialen Geschichtenerfinders, der, den Regeln des Realismus folgend, in die Welt der Wunscherfüllung strebt. Seine Grundhaltung ist euphemistisch. Was Richard Fords Novelle zu einem kleinen Meisterwerk macht, ist auch die Art und Weise, wie sich der Erzähler Matthews Euphemismus als Erzählton und Erzählhaltung zu eigen macht. Er streut dem Leser Sand in die Augen - und öffnet sie ihm gleichzeitig. Er konspiriert hinter Matthews Rücken mit dem Leser. Daß sich eine Katastrophe abzeichnet, merkt Matthew als Letzter. Er will sie nicht wahrhaben. Als er am dritten Tag der Paris-Reise von einem langen Streifzug durch die Stadt ins Hotel zurückkommt, findet er Helen tot vor. Sie hat sich das Leben genommen. Krass, geradezu brutal sticht dieses tragische Ende der Geschichte gegen ihre versteckte Ironie und ihren streckenweise offenen Humorismus ab. Den hinreißend komischen Höhepunkt der Erzählung stellt eine Art touristisches Gipfeltreffen auf der zweiten Ebene des Eiffelturms dar. Matthew und Helen treffen da auf zwei amerikanische Archetypen der Mc Donalds-Moderne, ein kurioses Paar, das mit Spitznamen Schmusi und Rex heißt. Des weiteren erscheinen ein paar Deutsche und ein paar Japaner auf der Bildfläche, die allesamt in die Karikatur neigen.

    Vermutlich wollte Richard Ford, indem er sich über die eigene und befreundete Nationen ein wenig lustig machen, dem Vorwurf begegnen, speziell die Franzosen und ihre Hauptstadt durch den Kakao zu ziehen. Diesen Vorwurf hat ihm die Paris-Erzählung "Der Frauenheld" nämlich eingetragen. Vielleicht machten sich die Franzosen nicht genügend klar, daß viele Erzähler und Helden von Richard Ford mit dem Silberblick der Tagträumerei auf die Welt sehen und von ihr ein entsprechend verzerrtes Bild vermitteln. In früheren Romanen, zumal im erwähnten "Sportreporter" nannte Ford sein Thema noch beim Namen. Regelmäßig legte der erzählende Reporter das Geständnis ab, ein Träumer zu sein. "Abendländer" zeigt, wie wunderbar freihändig, subtil und souverän ein Autor mit seinem Thema spielen kann, wenn er es bearbeitet, aber aus seiner Phantasie noch nicht entlassen hat.

    Diese Dezenz der Erzählung fördert noch den Schock von Helens Suizid. Er stellt die unerhörte Begebenheit dieser Novelle dar. Ohne sichtbare erzählerische Anstrengung und mit großer Eleganz entwickelt sich diese Begebenheit aus dem Gefälle zwischen Matthews Einbildungen und den Tatsachen des Lebens.