Matthew ist nicht allein nach Paris gekommen. Er hat eine Frau namens Helen dabei. Die Geschichte zeigt sie zunächst, gesehen mit Matthews Augen, als große, gut gebaute und gut gelaunte, sexuell ein bißchen überaktive amerikanische Frau über 40. Eher als Nebensache erwähnt der Text, daß Helen an Krebs erkrankt war. Ganz unauffällig und großartig subtil leitet der Satz, der die Krankheit erwähnt und seine Präteritumform den Skandal der Geschichte ein. Denn Matthew ist, was ihm sein zwanghaftes Beschönigen und sein Illussionscharakter zu sehen verbietet, mit einer todkranken Frau unterwegs. Er sieht dunkle Verfärbungen auf ihren Beinen, er sieht, daß Helen offensichtlich Schmerzen hat, daß sie im Bad Tabletten nimmt, aber die Bilder durchdringen nicht den sedierenden Nebel über seinem Ego. Bei den Mitteln, mit denen er sich und seine Wahrnehmung betäubt, handelt es sich obendrein um literarische Techniken. "Abendländer" ist unter anderem eine Reflexion über jenen Typ des etwas trivialen Geschichtenerfinders, der, den Regeln des Realismus folgend, in die Welt der Wunscherfüllung strebt. Seine Grundhaltung ist euphemistisch. Was Richard Fords Novelle zu einem kleinen Meisterwerk macht, ist auch die Art und Weise, wie sich der Erzähler Matthews Euphemismus als Erzählton und Erzählhaltung zu eigen macht. Er streut dem Leser Sand in die Augen - und öffnet sie ihm gleichzeitig. Er konspiriert hinter Matthews Rücken mit dem Leser. Daß sich eine Katastrophe abzeichnet, merkt Matthew als Letzter. Er will sie nicht wahrhaben. Als er am dritten Tag der Paris-Reise von einem langen Streifzug durch die Stadt ins Hotel zurückkommt, findet er Helen tot vor. Sie hat sich das Leben genommen. Krass, geradezu brutal sticht dieses tragische Ende der Geschichte gegen ihre versteckte Ironie und ihren streckenweise offenen Humorismus ab. Den hinreißend komischen Höhepunkt der Erzählung stellt eine Art touristisches Gipfeltreffen auf der zweiten Ebene des Eiffelturms dar. Matthew und Helen treffen da auf zwei amerikanische Archetypen der Mc Donalds-Moderne, ein kurioses Paar, das mit Spitznamen Schmusi und Rex heißt. Des weiteren erscheinen ein paar Deutsche und ein paar Japaner auf der Bildfläche, die allesamt in die Karikatur neigen.
Vermutlich wollte Richard Ford, indem er sich über die eigene und befreundete Nationen ein wenig lustig machen, dem Vorwurf begegnen, speziell die Franzosen und ihre Hauptstadt durch den Kakao zu ziehen. Diesen Vorwurf hat ihm die Paris-Erzählung "Der Frauenheld" nämlich eingetragen. Vielleicht machten sich die Franzosen nicht genügend klar, daß viele Erzähler und Helden von Richard Ford mit dem Silberblick der Tagträumerei auf die Welt sehen und von ihr ein entsprechend verzerrtes Bild vermitteln. In früheren Romanen, zumal im erwähnten "Sportreporter" nannte Ford sein Thema noch beim Namen. Regelmäßig legte der erzählende Reporter das Geständnis ab, ein Träumer zu sein. "Abendländer" zeigt, wie wunderbar freihändig, subtil und souverän ein Autor mit seinem Thema spielen kann, wenn er es bearbeitet, aber aus seiner Phantasie noch nicht entlassen hat.
Diese Dezenz der Erzählung fördert noch den Schock von Helens Suizid. Er stellt die unerhörte Begebenheit dieser Novelle dar. Ohne sichtbare erzählerische Anstrengung und mit großer Eleganz entwickelt sich diese Begebenheit aus dem Gefälle zwischen Matthews Einbildungen und den Tatsachen des Lebens.