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Abgedrehte Erinnerungen

"Travestie" ist ein einziger, langer innerer Monolog eines Schriftstellers, der sich an seine Jugend erinnert. Doch bei Mircea Cartarescu muss man sich einlassen auf Wahn und Irrsinn - sein Buch ist wie im Fieber geschrieben.

Von Simone Hamm | 29.12.2010
    Ein Schriftsteller sitzt im Winter in einem kleinen Zimmer, in dem die heiße Luft steht. Er wohnt im heruntergekommenen Bukarest, einem Bukarest der verwaisten Plätze und der baufälligen Wohnblöcke. Er beschwört die Vergangenheit, die Zeit im Schullandheim vor 17 Jahren, als er 17 war und sich also genau in der Mitte seines bisherigen Lebens befand.

    Allein im überheizten Zimmer, kannst Du schließlich in deine Welt hinabsteigen, in deine Wahrheit, in all das, was tief und rätselhaft in dir drinsteckt, wenn du dazu fähig bist, mit dem gleichen Mut dem Widerwärtigem und dem Erhabenen, der Katastrophe ebenso wie der Läuterung, dem Erzengel wie dem Krüppel zu begegnen.

    Er will sich rückhaltlos erinnern, an die Zeit, als er noch einsamer war, als er es heute ist.

    Er denkt an Lulu, an Lulus Tanz, Lulus grotesk mit Lippenstift verschmierten Mund, seinen ausgestopften Wattebusen, seinen verrutschten Rock, an Lulu, wie er die Lippen auf die seinen presst. Lulu, klein und drahtig und doch ein guter Volleyballspieler, ist an diesem Abend kein Junge und auch kein Mädchen. Und von jener Zeit an gab es nur zwei Zeiten: die Zeit vor Lulu und die Zeit danach.

    Victor, so nennt der Erzähler sein bleiches Spiegelbild, ist mit 17 mit einer Schülergruppe aufs Land gefahren. Er wollte nicht teilhaben an deren postpupertären Spielchen, die obszönen Lieder weder mitgrölen noch überhaupt hören. Die Ekstase der anderen ekelte ihn an. Wenn alle sich zum Tanz herausputzten, blieb er im Schlafsaal auf seinem Bett sitzen. Er versank in Träume. Raum und Zeit waren aufgehoben.

    "Travestie" ist wie im Fieber geschrieben. Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu scheut die großen, schmückenden Worte nicht. Seine Jugenderinnerungen haben nichts gemein mit jenen flapsig und witzig geschriebenen Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der Provinz, mit denen einige junge deutsche Autoren im letzten Jahr aufhören ließen. Bei Cartarescu muss man sich einlassen auf Wahn und Irrsinn, auf die abgedrehtesten Erinnerungen, auf Halluzinationen, auf eine morbide Erotik, auf psychedelische Träume, die fast immer zu Albträumen werden.

    Mircea Cartarescu hebt alle Grenzen auf. Was spielt sich im Kopf des Schülers ab? Was ist Wirklichkeit? Was hat er sich eingebildet? Was hat ihn so erschreckt, so verstört, so verletzt, dass er noch 17 Jahre später in Schweiß gebadet aufwacht, wenn er davon träumt? Oder verweist auch dieser Traum nur auf etwas, was noch tiefer liegt, viel tiefer? Was ist die Innenwelt? Was das Äußere?

    Wie seltsam, wie seltsam ich damals war. Wie weich, wie ungeformt, wie verfügbar das Fleisch meiner Psyche war. Gelbe Abenddämmerungen ließen sich wie Leintücher über den alten Wohnblocks nieder und schmerzten mich, als wären sie meine eigene Haut gewesen, die baufälligen Häuser spürte ich wie innere Organe.

    Im alten Herbergsgebäude haust unterm Dach eine Riesenspinne, zu der man nur über unendlich lange und steile, knarzende Treppen gelangt und durch enge Gänge, auf denen die Schritte lautlos sind, weil der Boden bedeckt ist von einem weißen Filz aus den feuchten, klebrigen Fäden der Spinne. Die Spinne greift zu, fängt Lulu, umgarnt und umspinnt ihn, macht aus ihm eine festeingewickelte Puppe.

    Es war meine Rache, es war die schale und schauerliche Genugtuung, auf die ich damals auf dann nicht verzichtet hätte, wenn ich gewusst hätte, dass Wahnsinn der Preis dafür sein würde. Ich musste alles sehen – um alles reinzuwaschen.

    Cartarescu ist fasziniert von Spinnen, Schmetterlingen, Insekten. Wäre er nicht Schriftsteller, wäre er gern Entomologe geworden. Kafkas Insekten, Poes Raben und Rilkes Engel glaubten die Kritiker wiedergefunden zu haben (und ich füge hinzu Nabokovs Schmetterlinge in den schillerndsten Farben). Sein Hauptwerk, die 1500 Seiten starke Romantrilogie "Orbitor", deren erster Band in Deutschland unter dem Titel "Die Wissenden" erschienen ist, trägt im Rumänischen die Untertitel: "Linker Flügel", "Körper", "Rechter Flügel".
    Und da er auch ein großes Interesse an Neurophysiologie und Quantenphysik hat, fügt er in seine surrealen Traumsequenzen Fremdwörter aus der Physik, der Zoologie, der Medizin ein. Wie kleine Fremdkörper wirken sie inmitten des Fieberflirrens. So erschafft Cartarescu eine apokalyptische Bilderwelt und durchbricht sie sogleich. Das unterscheidet ihn von Manieristen à la Hysmanns.

    Während ich der Spinne wie in teuerste Edelsteine in die Augen schaute, spürte ich plötzlich, wie mir das Hirn knackte, wie sich meine zerebralen Hemisphären separierten, die eine behielt das Ganze Grauen, das endlos zunahm, die andere die ebenso unbegrenzte Ekstase vor dem Schönen. Allen Willens entleert, kauerte ich dort, bloß noch Auge, an dem wie ein Lumpen der restliche Körper hing, ein großes und durchscheinendes Auge, das fasziniert und erleuchtet von der wilden Sonne mit acht Strahlen, von der kriminellen Sonne mit den Klauen von Krätzemilben, der Bestie in die Punktaugen starrte.

    "Travestie" ist ein einziger, langer innerer Monolog. Es gibt keine Dialoge, keine Kapitel. "Travestie", großartig übersetzt von Ernest Wichner, das sind magische Bildfolgen, soghaft, rauschhaft, rätselhaft, fremd, nicht leicht zu lesen und - über die Massen beeindruckend.

    Mircea Cartarescu: "Travestie". Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Suhrkamp Verlag.172 Seiten. 17.90 Euro