Archiv


Abgründe des Katastrophenzeitalters

Der Schweizer Historiker Aram Matttioli beleuchtet in seinem aktuellen Buch "Experimentierfeld der Gewalt" den italienischen Krieg in Abessinien und deutet ihn als Blaupause für den deutschen Vernichtungskrieg im Osten. Auf dem abessinischen Experimentierfeld wurde ausprobiert, was in späteren Kriegen des 20. Jahrhunderts mit noch größerer Perfektion praktiziert wurde.

Von Carl Wilhelm Macke |
    Kramt man in den Erinnerungen italienischer Familien, stößt man in auffallend vielen Fällen auf Namen von Männern, die in Afrika den "Heldentod" gestorben sind, die dort während des faschistischen Eroberungskrieges gekämpft oder sich während der Besatzungszeit als Kolonisatoren niedergelassen haben. Was aber genau dort passiert ist, weiß man nicht mehr oder will es auch nicht mehr wissen. Der "Abessinien-Krieg" galt und gilt teilweise immer noch als ein Tabu, das man am besten nicht anspricht, um den Mythos von den "braven Italienern" nicht zu zerstören.

    Jahrzehntelang wurde eine der brutalsten Militärexpeditionen eines europäischen Staates zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg selbst von kritischen italienischen Journalisten als ein letztlich misslungenes "afrikanisches Abenteuer" von Mussolini tituliert und verharmlost. Inzwischen liegen jedoch über diese Afrika-Feldzüge des italienischen Faschismus umfangreiche historische Studien vor, die Leugnungen oder Verdrängungen nicht mehr erlauben. Auch ist die verbreitete These nicht mehr zu halten, für die militärische Expansionspolitik der Faschisten habe es in der italienischen Bevölkerung keinen Rückhalt gegeben. Dass die Gräueltaten der faschistischen Militärs noch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Italien tabuisiert wurden, zeigt, wie groß der Unterstützungskonsens innerhalb der italienischen Gesellschaft bis weit hinein in die katholische Kirche gewesen ist.

    Wir arbeiten mit Gott zusammen in dieser nationalen und katholischen Mission des Guten – vor allem in diesem Augenblick, in dem auf den Schlachtfeldern Äthiopiens die Fahne Italiens im Triumph das Kreuz Christi vorwärts trägt.

    So der Mailänder Kardinal Schuster anlässlich der Segnung heimkehrender Soldaten. In Italien war es vornehmlich der Historiker Angelo del Boca, der ebenso nüchtern wie obsessiv diesen weißen Fleck der italienischen Geschichte im 20. Jahrhundert erforscht hat. Seine Erkenntnisse über das barbarische Wüten italienischer Soldaten in Afrika, vor allem im völkerrechtswidrigen "Abessinien-Krieg" Mitte der dreißiger Jahre, wurden in der Öffentlichkeit zunächst nicht zur Kenntnis genommen, dann vornehmlich von den nationalen Rechten bis hin zum liberalkonservativen "Corriere della Sera" heftig angegriffen. Erst heute beginnt eine neue Historikergeneration, die Arbeiten von del Boca und wenigen anderen Historikern als einen Durchbruch in der Bewertung der Abessinien-Zeit zu würdigen.

    Auf del Boca stützt sich auch der Schweizer Zeithistoriker Aram Mattioli. Auf dem abessinischen Experimentierfeld wurde alles ausprobiert, was dann in den späteren Kriegen und Konflikten des 20. Jahrhunderts mit noch größerer Perfektion praktiziert wurde: die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Osteuropa, die massenhaften Vertreibungen am Ende des Zweiten Weltkrieges, die ethnischen Ausrottungen auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien am Ende des 20. Jahrhunderts – das alles ist im Abessinienkrieg der italienischen Faschisten in nuce enthalten. Zwar waren bereits vor der faschistischen Epoche italienische Truppen in Afrika präsent, aber erst Mussolini erklärte die Unterwerfung Äthiopiens zum zentralen Ziel seiner aggressiven Geopolitik.

    Wir pfeifen auf alle Neger der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und deren eventuelle Verteidiger. Es wird nicht lange dauern, und die fünf Erdteile werden ihr Haupt vor dem faschistischen Willen beugen müssen.

    So tönte Benito Mussolini 1935 bei einer Ansprache vor Soldaten, die nach Abessinien aufbrechen sollten. Von Mussolini wird auch der Befehl überliefert, mit dem er seinen Oberbefehlshaber Emilio de Bono in den Osten des afrikanischen Kontinents geschickt hat:

    Hauptsache ist, schnell machen und kräftig draufhauen.

    Nicht weniger direkt und martialisch lautete ein Befehl des als besonders Mussolini-treu geltenden Marschalls Rodolfo Graziani:

    In Brand stecken und zerstören, was brennbar und zerstörbar ist. Alles säubern, was säuberbar ist.

    Das systematische Abbrennen großer landwirtschaftlich genutzter Gebiete und den gezielten Einsatz von Gasbomben kommentierte Graziani brutal lakonisch:

    Sehr gut. Weiter so, erbarmungslos vom Erdboden ausradieren.

    Und diese Befehle wurden auch wörtlich genommen und exekutiert. In der Zeit zwischen 1935 und 1941 fielen vermutlich etwa 380.000 Äthiopier einem brutalen, einzig dem Expansionsdrang des faschistischen Italiens geschuldeten Krieg zum Opfer. Auf italienischer Seite hat es etwa 25.000 Tote gegeben. Chemische Waffen wurden gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, als handele es sich um Ungeziefer –, was ja wohl auch der Meinung der Obersten Heeresleitung entsprach. Dieser Ausrottungsfeldzug, so die These von Aram Mattioli, stand den im 20. Jahrhundert noch kommenden Großverbrechen Modell. Fern von jeder öffentlichen Wahrnehmung und aufgehetzt durch rassistische Arroganz und imperiale Wahnideen, hielten die Truppen Mussolinis Abessinien bis Ende 1941 besetzt. Die Okkupation brach durch den Einmarsch englischer Truppen und den anhaltenden äthiopischen Widerstand zusammen.

    Es dauerte dann Jahrzehnte, bis in Italien die ganzen horrenden Dimensionen des faschistischen Kolonialkrieges auch öffentlich und nicht nur in kleinen Zirkeln von Fachhistorikern zur Kenntnis genommen wurden. Als Gianfranco Fini, der Vorsitzende der rechtsnationalen "Alleanza Nazionale’ und spätere Außenminister in der Regierung Berlusconi, öffentlich die historischen Leistungen des Duce lobte, begann langsam wieder eine intensivere Beschäftigung mit der "faschistischen Epoche".

    Italien hat sich spät auf den Weg gemacht, um ein angemessenes Verhältnis zu seiner Tätervergangenheit zu finden. Überzeugend gelungen ist dies dem Land bis heute nicht. Der Prozess der Entmythologisierung der faschistischen Vergangenheit hat in der italienischen Öffentlichkeit erst begonnen.

    Über Italien hinaus ist die Studie von Aram Mattioli bedeutend, weil hier nicht Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts gegeneinander aufgerechnet und damit relativiert werden. Indem er seinen Blick auf ein einziges, in der historischen Forschung erst spät zur Kenntnis genommenes "Mega-Verbrechen" fokussiert, öffnet er gleichzeitig den Blickwinkel auf ein ganzes Zeitalter, in dem Prozesse der Zivilisierung immer auch begleitet wurden von Rückfällen in Massenterror und Gewaltexzesse.

    In Abessinien hinterließ das faschistische Italien sein widerwärtiges Gesicht. Hier hinterließ es eine Blutspur als Massentötungsregime; hier bereitete es einem neuen Zeitalter der Gewalt den Weg. Wer diese Erkenntnis nicht ernst nimmt, wird in Zukunft nicht mehr überzeugend behaupten können, die Abgründe des "Katastrophenzeitalters"auch nur annähernd erfasst zu haben.

    Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935 – 1941, Orell Füssli Verlag, Zürich 2006, 239 Seiten, 32,80 Euro