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Abgründe des Menschen

Der Petrarca-Preisträger Philippe Jaccottet gehört zu den prägenden zeitgenössischen Autoren einer sprachbewussten Literatur, ohne wirklich im Literaturbetrieb eine angemessene Beachtung gefunden zu haben. Umso mehr ist die Kontinuität zu begrüßen, mit der vor allem der Carl Hanser Verlag seine Werke - Lyrik, Prosa, Impressionen und Aufzeichnungen - herausbringt.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 08.07.2009
    "An der Chalerne entlanggehend: kleine Wasserfälle unter den Bäumen, in den Felsen; fast überall Veilchen, auffliegende Vögel; und in der Märzsonne eine zarte Wärme.

    Ein Stück weiter schimmert das Wasser beinahe farblos, denn das Gefälle ist sanfter geworden; und die ersten Blätter zittern bereits über dem Bach. Das ruhige Wasser schimmert an manchen Stellen: nasse und kühle Funken, kleine glitzernde Kreuze, die, wären sie zahlreicher, blendeten."

    Dieser Passus aus dem Kernstück des Bandes Notizen aus der Tiefe verdeutlicht beispielhaft, wie die Landschaftsbilder entstehen, die Philippe Jaccottet als Dichter zeichnet: Er ergeht sich in der Landschaft, und er ergeht sie wandernd, er erforscht sie mit der Zärtlichkeit eines Liebenden. Er ist von ihr getrennt und verschmilzt doch auch mit ihr, kraft seiner Gefühle, seiner Einfühlungen, Berührungen und seiner poetisch beschreibenden Sprache.

    Der "Landschaft" nähert er sich konkret, das Einzelne erfahrend. Es sind die Formen und die Farben, die Naturereignisse, das Gestalthafte und der Gestaltwandel, denen sich der 1925 in der Schweiz geborene und seit 1953 in Südfrankreich lebende Schriftsteller sinnlich und seinen Assoziationen folgend zuwendet.

    Das Alltägliche des Lebens und das Naturgeschehen, das Licht, die Wolken, die Tiere und die Blumen, die Flüsse, die Wälder, die Felsen und die Berge umspielt Jaccottet mit seinen Worten, erhöht sie, formt sie zu einem Bild, einer Chiffre, einem Symbol -und möchte sie doch auch in ihrer Gegenständlichkeit belassen. Zitat:

    "Leichter Berg, der sich unmerklich in einen Engel verwandelt, oder in einen Schwan ... Diese verwitterten, fleckigen Steine, bereit, in die Erde zurückzukehren, aus der man sie geholt hat, diese uralten Bäume, brüchig und struppig, die nur noch herbe Früchte hervorbringen -und das Wasser, immer alterslos."

    Ein wenig hat das Wasser eine Sonderstellung inne in dieser von der Vergänglichkeit und dem Tod durchwirkten Natur und in der vom Menschen bewohnten Welt. Jaccottet durchstreift die Natur, und er besucht Kranke und Sterbende, spricht von dem Krieg und den Menschen, die alles verloren haben und selbst verloren sind.

    "Der eine ist in seinem Haus und weiß nicht mehr, dass er dort ist, verwechselt es mit einem anderen, wo er vielleicht früher einmal gelebt hat, vielleicht auch nicht, tappt nur noch zwischen den vorhandenen Dingen herum, und zwischen denen, die nur noch in seinem müden Geist da sind.

    Der andere hat nur noch einen Traum: Wieder nach Hause kommen, sein Haus wiederfinden; doch selbst wenn er es wiederfinden würde, was es auch sein mag, es wäre nicht mehr sein Haus; unabänderlich."

    Jaccottets "Notizen aus der Tiefe" handeln von den Abgründen des Menschen und des Seins, von der Tiefe und der Schönheit der Natur -und in allem gegenwärtig das Sich-Auflösende. An keiner Stelle glättet dieser Dichter das Wahrgenommene, lässt das Diverse und Heterogene so stehen, wie es in sein Blickfeld gerät und zur sprachlichen Form drängt. Die von ihm gewählten Formen sind Fragmente, Skizzen, Notate, Impressionen, Prosagedichte, Metamorphosen und metaphorische, poetische Überhöhungen.

    Zuweilen wird Jaccottet von der Vorstellung beherrscht, als grüßten ihn die Blumen, als tanzten sie, gleich Ballettfiguren, als gäbe es tatsächlich eine "Anmut" der Blumen, während es doch immer unsere Vorstellung, unsere Einbildung und unsere Worte sind, die diese Eigenschaft den Blumen zusprechen. In dem Band Der Unwissende. Gedichte und Prosa hatte er geschrieben:

    "Und wenn die Blumen ein 'Inneres' hätten, durch das jenes, was uns das Innerste ist, sie treffen würde, mit ihnen verschmelzen? Sie entfliehen uns; und so lassen sie uns entfliehen: tausend Richtungen, um das Weite zu suchen."

    In all seinen Büchern, die überwiegend vom Göttlichen handeln, das aber nichts Übernatürliches sei, sondern ganz nah am Menschen lokalisiert werden müsse und dem Ersehnten und Geträumten verwandt sei, in all diesen "Landschaftsaufnahmen" hat der Erzähler, Lyriker und Übersetzer Jaccottet einer überzeitlichen Schönheit mannigfachen Ausdruck verliehen.

    Im vorliegenden Band nun steht im Vordergrund die Vergänglichkeit der Schönheit, der Schrecken des Krieges, des menschlichen Leidens und des Todes, des Grauens und des Übels, des Fortdauerns von bitterem Hass, von Gewalt und Riten der Gewalt. So zeigt sich Jaccottet in dem einleitenden Bericht einer Reise nach Israel zutiefst erschrocken über das Anhalten der in christlichen Riten verborgenen Gewalt, wie sie in den heutigen Handlungen "gleich einem Knoten der Finsternis erstarrt und geronnen" sind.

    "Vor der Klagemauer und an anderen heiligen Orten des Judentums ... war es mir, als ob der gesamte Schmerz, der das Schicksal des 'auserwählt' genannten Volkes seit so vielen Jahrhunderten war, über einem hinge ... Ich konnte den Eindruck nicht loswerden, dass sich hier eine Art Wahn bemerkbar machte, eher beunruhigend als Ehrfurcht gebietend; als überdaure vor diesen Steinen ein wilder, blinder Ritus, den Rücken zur Welt ..."

    Es zeichnet alle drei Teile dieses Bandes, die im Französischen als Einzelpublikationen 2001, 2002 und 2004 erschienen, aus, dass sie die wahrgenommene Realität immer auch mit der in der Kunst und Literatur dargestellten Wirklichkeit, zum Beispiel mit den Passionen Johann Sebastian Bachs oder Dostojewskis, Hölderlins und Paul Celans Dichtung in Verbindung bringen und so das Nichtverstandene zu erhellen versuchen. Und in der sprach-und geschichtserforschenden Meditation über "Das Wort 'Russland'" sind es der Klang und die Tiefenschichten russischer Wörter, die ihn zur historischen Wirklichkeit hinführen. So sind es also -vergleichbar dem von Michel Leiris praktizierten Verfahren -das Imaginäre und das in der Kindheit einsetzende Faszinationsverhältnis zur Sprache, die Jaccottet den Weg zum Erkennen bahnen.

    "... es geht mir hier nicht darum, alles zu wissen, noch gerecht zu sein; ich rufe nur Leseabenteuer, Träumereien, Leidenschaften meiner Kindheit und Jugend herauf. ... Es will mir demnach so vorkommen, als hätten sich damals schon, in jenen fernen Jahren, bewusst oder nicht, berechtigterweise oder nicht, um diesen unbestimmten Drang nach Osten zu nähren, in meinem Geist die nämlichen beiden Neigungen verbündet, die mich später hier in die Drôme lockten, in der ich heute wohne: das Wohlgefallen an der Wildnis und das an der Kultur, auch in ihrer höchsten Verfeinerung, und dass ich damals schon, ohne es zu ahnen, danach trachtete, ihre Übereinstimmung zu suchen."

    Jaccottet bläht sich nie als Wissender auf; im Gegenteil: alle seine bewertenden Äußerungen wirken zurückgenommen und verhalten. Dort, wo er sie selbst noch als zu vorläufig empfindet, setzt er ganze Passagen in Klammer, so, als wollte er den Leser warnen: Hört mit äußerster Vorsicht auf meine Worte. Dies gilt sogar für seine einzige, sich selbst auferlegte Regel:

    "... nämlich dem eigenen Wesen und der eigenen Erfahrung folgend zu sprechen; oder gar nichts mehr zu sagen."

    Voller Skrupel spricht er von seinen "mageren Notizen" zu Problemen, zum Beispiel in Israel, denen er, "mangels Wissen, Intelligenz, geistiger Tiefe", nicht gewachsen sei. Er empfinde sich als lau und gebe sich mit "leichten Berührungen" zufrieden.

    Das wenige, von ihm in Worte Gefasste wolle er aber, aus Selbstachtung, nicht verschweigen, denn es erhebe ihn über sich selbst. Zurück bleibe er, zum Beispiel nach der Israelreise, als einer, der machtlos dem "Unentwirrbaren" gegenübersteht.

    "... ich habe Zeichen gelesen oder zu lesen geglaubt, die mir auf unmittelbare Weise, manchmal fast heimlich, in meiner Unwissenheit und durch sie hindurch, gegeben wurden."

    Philippe Jaccottet hat einmal notiert, sein einziges Geschäft sei es, sich immer wieder neu zu erinnern -und zu vergessen, inständig und offen gegenüber dem Wunder zu bleiben, aufs neue zu entdecken und sich zu verlieren. So verliert er sich im Hin und Her der Bewegungen, im Flüchtigen der Blicke, im Nachsinnen des Wahrgenommenen und in der Antizipation des Zukünftigen. Der Dichter müsse sich dem "Schicklichen der Welt" mit seiner poetischen Sprache zuwenden und versuchen, eine "Mitte" zu orten, ohne sie starr zu fixieren. Zwischen dem Offenen des Bildes und einer Ortsbestimmung müsse er seine Wahrheit und seine Sprache finden, jenseits der "intellektuellen Schemata und Masken", der "gebieterischen Vereinfachungen des Intellekts" und des "falschen Glanzes der Okkultismen".

    "Als ich gestern Abend Schuberts letzte Klaviersonate wiedergehört habe, überraschend, habe ich mir einmal mehr ganz einfach gesagt: 'Das ist es.' Das ist es, was unerklärlicherweise standhält, gegen die schlimmsten Stürme, gegen den Sog der Leere; das ist es, was wahrhaftig verdient, geliebt zu werden: die zarte Feuersäule, die einen führt, selbst in der Wüste, wo es weder Grenzen noch Ende zu geben scheint."

    Hans-Jürgen Heinrichs
    Philippe Jaccottet: Notizen aus der Tiefe. Deutsch von Friedhelm Kemp,
    Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Edition Akzente, Carl Hanser Verlag
    München, 171 S., 17,90 Euro.