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Abgründe im Richter-Prekariat

Regisseurin Andrea Breth inszeniert auf der Ruhrtriennale 2009 das Stück "Der zerbrochene Krug" von Heinrich von Kleist. Auf der Bühne wird viel gelitten - und geschwiegen.

Von Karin Fischer |
    Adam liegt auf dem Stuhl in der Ecke wie eine gerade vom Kreuz abgenommene Christus-Figur: in sich zusammen gesunken, nur mit einem Hemd um die Lenden, frische Wunden am Leib. Wenn er dem Schreiber Licht seine Schrammen erklärt, spricht er aber wie ein verlotterter Penner, der noch lallt vom Besäufnis am Abend vorher. Noch nie hat man einen so erbärmlich leidenden und so wenig strategisch denkenden Dorfrichter gesehen, wie Sven-Eric Bechtolf ihn gibt.

    Er ist mit seinem dauerweinerlichen Tonfall, seinem dauerleidenden Blick und seinem dauerwankenden Gang wirklich in Not und dabei so offensichtlich der Falsche in seinem Amt, dass man sich fragt, wie die Aufklärungsorgie hier vonstatten gehen soll, da sie doch von Anfang an entschieden ist. Also muss vermutet werden, dass Andrea Breth anderes mit ihm vor hatte.

    Keiner hatte erwartet, dass die Regisseurin einen funkensprühenden Schlagabtausch, eine flotte Komödie aus dem Stück macht. Für diesen "Zerbrochenen Krug" aber braucht man viel Geduld. Das liegt an dem speziellen Hyperrealismus, dem Andrea Breth gerne frönt. Tischdecken und Schürzen sind fleckig; hinten liegt, was man erst später bemerkt, eine Sau im Stroh. Der Stall reicht bis in die Stube, dafür die Akten vor hellgrün bröckelndem Putz bis an die Decke. Hier ist tiefstes Dorfdunkel, Recht und Gesetz eher unbekannt, hier passiert auch gerne einfach mal gar nichts.

    Am Anfang hocken die zwei Mägde viertelstundenweise tumb und stumm herum. Wenn Frau Brigitte geholt wird, bleibt reichlich Realzeit fürs Vesper mit Gerichtsrat Walter. Und die zwei Minuten, von denen Eve erzählt, die Adam sie in ihrer Stube anstarrt - denn natürlich spielt Andrea Breth am Schluss die längere "Variante" - sind zwei echte, lange Minuten. In denen sich aber die tollsten Dramen abspielen, in den Gesichtern der anderen.

    In dem von Marthe Rull - Swetlana Schönfeld als stämmige Klägerin, die sich sonst gern ausführlich Stirn und Nase tupft - spiegelt sich die ganze Not eines jungen Mädchens. Rupprecht, der Verlobte, der seine ehrliche Haut gern mit Aggression bemäntelt, ist jetzt offen verzweifelt. Und Gerichtsrat Walter wappnet sich gegen das Undenkbare mit einem Ausdruck verächtlicher Gefasstheit. Da ist die Natur des Menschen so realistisch dargestellt, so direkt lesbar, das ist große Kunst.

    Die Inszenierung lebt überhaupt – und bekommt ihren wenigen Witz – durch die stummen Rollen. Niemand kann acht Personen auf der Bühne so beredt zusammen schweigen, sich so beziehungsreich den Rücken zukehren lassen wie Andrea Breth. Wolfgang Michaels als Schreiber Licht ist grandios, obwohl er hauptsächlich lakonische Handbewegungen und einen zutiefst desillusionierten Gesichtsausdruck macht. Und Norman Hacker verpasst seinem hochintelligenten Gerichtsrat Walter ein so sprechendes Mienenspiel, dass er damit den Krimi praktisch allein erzählt.

    Doch das alles reicht nicht, um die Ermüdung und auch Verstörung zu erklären, die der Dorfrichter auslöst. Hier wird nicht Gerichtstag gehalten über einen Krug, hier wird das Drama des gefallenen Menschen erzählt, der Kampf des Guten gegen das Böse. Deshalb ist Bechtolf alias Adam nicht der durchtriebene Rechtsbrecher, sondern hinkt, man könnte auch sagen: stolpert, wankt so elend durchs Stück, mal aggressiv, mal bittend, ein Bild des Menschen in Not. Und Norman Hacker im hellen Stadtmantel und blütenweißen Hemd fungiert als Cherubim, der das Paradies nicht wieder eröffnen, seine Unterstützung bei der Flucht daraus aber nicht versagen kann.

    Dass Walter am Ende versucht, das zerstörte Vertrauen in die Gerichtsbarkeit mit dem Vorzeigen einer geprägten Goldmünze wieder herzustellen - Geld war auch früher schon wie Gott! - , wirkt wie ein durchtriebener Hinweis darauf, wie aktuell unerlöst die Gesellschaft auch heute ist.

    Ein anstrengender, grund-dunkler Abend, mit einigen leuchtenden Stellen und tollen Schauspielern, der auch die Intelligenz des Stücks breitest herausarbeitet. Ein Abend, für den man sich die Zeit nehmen sollte.

    Service:

    "Der zerbrochene Krug" von Heinrich von Kleist ist bis Donnerstag, den 8. Oktober 2009 auf der Ruhrtriennale 2009 zu sehen.