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Abgründe und Rätsel

Das Paralleluniversums-Fieber ist in der Literatur schon vor einer ganzen Weile ausgebrochen. Ob in anspruchsvollen Texten oder verschroben-dickleibigen Fantasy-Romanen: Immer wieder tauchen dort seit einigen Jahren mysteriöse Gulis, Schwellen oder Tunnel auf, durch die verwunderte Romanhelden in solche rätselhaften Parallelwelten stolpern.

Von Uwe Pralle | 07.03.2006
    Mit Astro- oder Quantenphysik haben diese Paralleluniversen - obwohl der Begriff daher kommt - jedoch wenig zu tun. Meistens sind es einfach nur Gegenwelten zur Alltagsrealität, die den tagtäglich entzauberten Bedürfnissen nach Abenteuern und Geheimnissen literarischen Stoff verschaffen, und wenn sie Ähnlichkeit mit etwas besitzen, dann sind es oft eher die virtuellen Räume von Computerspielen.

    Auch in Antje Wagners Roman "Hinter dem Schlaf" gibt es allenthalben solche seltsamen Zugänge zu Parallelwelten; manchmal sind es Landstraßen, die mitten im flachen Norddeutschland plötzlich in die eisige Einsamkeit eines veritablen Dreitausenders führen, manchmal sind es unscheinbare Stellen auf den Deichen der Elbe, und manchmal ist es auch nur der Log-In zu einem Chatroom im Internet. Doch in dem Roman der einunddreißigjährigen Potsdamerin geht es weniger effekthascherisch zu als in Fantasy-Abenteuern, während die Geschehnisse in dem Roman dafür allerdings wesentlich rätselhafter sind.

    Zu rätseln ist etwa allein schon, wer von den Romanfiguren eigentlich wer ist, und übrigens auch, an welchem Ort zu welcher Zeit man sich gerade befindet. Patrick jedenfalls, Biologe an der Universität in Dresden, dem seine Frau den Laufpaß gegeben hat, sitzt an einem Maitag allein in seinem Auto an einer Tankstelle in Norddeutschland, obwohl gerade noch eine gewisse Anne bei ihm war. Mit ihr hat er, wie er sich erinnert, in der eisigen Leere auf einem Berg eine Woche in einem Haus ohne jede Verbindung zur Außenwelt verbracht, wobei diese Anne ihn dort aber nicht Patrick nannte, sondern zu seiner Verwunderung immer nur Pierre.

    Hundertvierzig Seiten später hat Patrick sich in Hamburg ein möbliertes Zimmer gemietet, beginnt sich nun seinerseits Pierre zu nennen und versucht, Anne wiederzufinden. Sogar einen Zeppelin mietet er, der mit einer Botschaft an die Verschwundene und seiner Telephonnummer am Himmel über Hamburg schwebt. Doch alles, was er findet, ist Lena, Biologin wie er selbst, die er zuerst für die Gesuchte hält und die ihn ebenfalls mit jemandem zu verwechseln scheint. Nachdem die beiden den Verwechslungsreigen sogar noch gesteigert haben, indem sie nachts in einem Chatroom miteinander eine Geschichte ausbrüten, geht es am Ende des Romans ein zweites Mal in die eisige Parallelwelt des Dreitausender-Gipfels, wo die beiden sich in einer Woche zarter Selbsterkundung nicht nur nahe kommen, sondern schließlich auch darin fügen, Anne und Pierre zu heißen.

    "Diese Selbstverständlichkeit, mit der nichts geschah und sich gleichzeitig alles veränderte", wie es einmal heißt, kennzeichnet auch das ziemlich verstiegene Handlungsgerüst dieses Romans. Wer von Antje Wagners immer wieder auf Hans Christian Andersens Märchen von der "Schneekönigin" anspielendem Romanmärchen also eine klare oder gar rasante Handlung erwartet, hätte sich den falschen Roman ausgesucht.

    Doch wer sich für literarische Vexierspiele mit der identitätsverstörenden Macht der Gefühle begeistern kann, wird in diesem Roman auf seine Kosten kommen. Denn was hier zuerst nur als modisches Spiel mit Parallelwelten erscheint, ist tatsächlich eine literarische Erkundung der Abgründe vor allem jener hochaufgeladenen und zugleich diffusen Gefühlspektren, die unter dem Namen "Liebe" bekannt sind.

    Antje Wagner ist in der auf den ersten Blick verrätselten Erzählweise ihres Romans der eigentlich ziemlich geläufigen Erfahrung nachgegangen, dass so starke Gefühle wie Liebe allesamt ihre Tücken haben wie eben jene Paralleluniversen, in die man an den unscheinbarsten Orten plötzlich hineingerät. Zum Beispiel dadurch, dass man eher die Vorstellung liebt, die man sich von jemandem macht, und gar nicht diese oder diesen selbst, woran eine solche Liebe früher oder später scheitern kann. Es sind solche Inkongruenzen und Störungen der Gefühle, von denen in diesem Roman erzählt wird - sowie von den meist recht schmerzhaften Prozeduren, den Gefühlen weit genug in ihre Abgründe zu folgen, um herauszufinden, woraus die einem eigene Gestalt, gewissermaßen der Atomkern, der Gefühle letztlich besteht. Das hätte dann doch manches mit Quantenphysik zu tun, obwohl Antje Wagners Roman vor allem ein starker Zug von Romantik innewohnt, eine spröde, manchmal sogar störrische und überaus schwarze Romantik allerdings.

    Antje Wagner: Hinter dem Schlaf
    Roman. 271 Seiten
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005
    Euro 18,90