Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv

Abitur im Jahr 1915
Kriegsrhetorik und Manipulation

Der Geschichtslehrer Norbert Fabisch hat an der Essener Viktoria-Schule Mitschriften einer Abiturientin aus dem Jahr 1914 entdeckt - und mit heute vergleichen. Damals ging es "nicht um problemlösendes, selbstständiges Lernen, sondern es sollte bestmöglichst reproduziert werden", sagte Fabisch im DLF. Kriegsrhethorik dominierte das Abitur während des 1. Weltkriegs.

Norbert Fabisch im Gespräch mit Regina Brinkmann | 27.04.2017
    Französische Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg (1914-1918).
    Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg: Deutsche Abiturienten waren "durchdrungen vom Gedanken, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg führt und dass Frankreich, England, Russland mit großem Neid auf die Erfolge Deutschlands blicken." (picture alliance / AFP)
    Regina Brinkmann: Bundesweit sind gerade wieder zehntausende Schülerinnen und Schüler im Abi-Stress. Es ist die Hochzeit der Abi-Klausuren. Wenn die dann mal geschrieben und die Abschlussnoten auf dem Zeugnis eingetragen sind, landen die meisten für die nächsten Jahre im Archiv der Schule. Aber nicht jede Schule kann wohl so einen reichen Schatz vorweisen wie die Viktoria-Schule in Essen.
    Norbert Fabisch, ehemaliger Geschichtslehrer an diesem Gymnasium, hat sich dieses Archiv mal genauer angeschaut und Klausuren aus dem Jahr 1915 gefunden. Und wie sich das Abi 2017 von 1915 unterscheidet, merkt man schon an den Kommentaren, die die Lehrer ihren Schülerinnen an den Heftrand geschrieben haben. Herr Fabisch, welche Bemerkungen sind Ihnen dabei besonders ins Auge gesprungen?
    "Schwere körperliche und geistige Indisposition"
    Norbert Fabisch: Also, der Schulleiter Professor Borchert schreibt mit fein ziselierter Schrift an den Rand etwa: "nichts als luftige Redensarten", oder etwas besser: "leidlich brauchbarer Ausdruck", "korrekt, aber farblos" kommt vor. Oder schön finde ich auch: "nicht ganz harmonische Rhetorik".
    Dann die positiven Bemerkungen: "tiefe innere Anteilnahme", "tief und treffend" oder: "Die Wärme der Darstellung berührt wohltuend." Es gab ein Mädchen – es waren 14 insgesamt, die 1915 bei uns Abitur gemacht haben –, die die Abiturprüfung abbrechen musste, und da schreibt er dann: "Die Arbeit zeigt eine schwere körperliche und geistige Indisposition." Also Bemerkungen, die heute manchmal sehr kurios wirken, aber damals durchaus zeittypisch waren für solche Abiturarbeiten.
    Brinkmann: Welche Themen waren denn zeittypisch für damalige Abi-Klausuren?
    Fabisch: Ja, das war der Grund, warum ich mir auch diese Arbeiten genauer angesehen habe. Es war ein Thema, das sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigte. Die genaue Themenformulierung lautete: "Wann dürfen wir von einem Heiligen Krieg sprechen?"
    Manipulation der Gedankenwelt
    Brinkmann: Und wir reden nicht von Dschihadismus.
    Fabisch: Nein. Dieses Thema war 1914 von Paul Borchert – damals mit dem Titel Professor – eingereicht worden. Es gab noch ein Alternativthema: "Mit welchem Rechte kann man sagen, dass im Opfer der Keim alles Großen liegt?" Aber gewählt wurde dann von der Behörde das Thema: "Wann dürfen wir von einem Heiligen Kriege sprechen?"
    Und alle 14 Mädchen waren davon fest überzeugt, dass dieser Krieg, der da gerade stattfand, ein heiliger ist. Und das auch um Ostern 1915, als schon einige in ihren Familien haben Verluste erleben müssen.
    Brinkmann: Und das wurde auch von den Schülerinnen verlangt, damit sie auch eine entsprechende Benotung bekommen? Weil, ja, alles andere wäre wahrscheinlich in dieser Zeit politisch unkorrekt gewesen?
    Fabisch: Also, von ihren Elternhäusern waren diese Mädchen sicherlich auch so geprägt, dass sie da keinerlei Widerspruch empfanden. Die Mädchen waren durchdrungen vom Gedanken, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg führt und dass Frankreich, England, Russland mit großem Neid auf die Erfolge Deutschlands blicken und es gelte jetzt, die angegriffene Stellung Deutschlands so gut wie möglich zu verteidigen.
    Schülerinnen-Heft als Glücksfall
    Brinkmann: Wie haben denn die Lehrer ihre Schüler und Schülerinnen in der Zeit auf das Abitur überhaupt vorbereitet? Wie sah der Unterricht aus?
    Fabisch: Ja, wir haben den Glücksfall, dass wir das Heft einer Schülerin haben, die 1914 in der Oberprima minutiös alles mitgeschrieben hat, was ihre Lehrer ihr aufgegeben haben, insbesondere auch ihr Deutschlehrer. Und man kann anhand dieser Mitschriften sehen, dass die Lehrer bestrebt waren, Schüler zielgenau auf die ihnen ja zumindest bekannten Abiturthemen vorzubereiten.
    Man wusste ja nicht, welches Thema ausgewählt wurde, aber von den drei eingereichten kam ja eins sicher dran. Und so war also eine punktgenaue Vorbereitung möglich. Und was heute, wenn man diese Arbeiten liest, auffällt, ist auch, dass es nicht um problemlösendes, selbstständiges Lernen geht, sondern es sollte bestmöglichst reproduziert werden.
    Brinkmann: Also das, was der Lehrer vorher im Unterricht gesagt hat.
    Fabisch: Ja. Und dazu gehörte zum Beispiel auch ein großes Repertoire genau gelernter Zitate, die eingebracht wurden. Und wir können also aus diesem Vorbereitungsheft genau sehen, was Käthe Kirschbaum dann in ihre Abiturarbeit hat einbringen können.
    "Wir haben alle nur einen Feind: England"
    Brinkmann: Und wo dringt dann zum Beispiel die Lehrermeinung oder das Lehrerzitat durch?
    Fabisch: Also, ich sage mal ein Beispiel, es wird von einer Schülerin Ernst Lissauer zitiert: "Wir wollen euch hassen mit langem Hass, wir wollen nicht lassen von unserem Hass"; die letzte Zeile dann: "Wir haben alle nur einen Feind, England". Und der Lehrer korrigiert dann die Formulierung eines Wortes, das nicht genau dem Original entsprach, ist aber natürlich inhaltlich hundertprozentig damit einverstanden, dass dieses englandfeindliche Zitat so in die Arbeit eingebracht wird.
    Brinkmann: Die Bemerkungen waren andere, die Klausurvorbereitung auch. Haben Sie vielleicht noch ein abschließendes Beispiel, Herr Fabisch, dafür, wie sich Abi 2017 von Abi 1915 unterscheidet?
    Fabisch: Eine Zahl macht da doch sehr betroffen: 1915 haben in Preußen – da war das erste Jahr eines Mädchenabiturs – 622 Mädchen das Abitur gemacht, an unserer Schule waren das dann 14, die bestanden haben. Wenn Sie sich heute die Zahlen anschauen, liegen natürlich Welten dazwischen. Und in mancherlei Beziehung können wir sicherlich froh sein, dass der Bildungsgedanke sich so demokratisch hat entfalten können.
    Brinkmann: Abitur gestern und heute. Norbert Fabisch hat das Archiv der Viktoria-Schule in Essen durchstöbert und dabei unter anderem Abiturklausuren aus dem Jahr 1915 gefunden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.