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Abitur in Bayern
"Kein wissenschaftlicher Grund für generelles Zurück zu G9"

In Bayern sollen Schüler künftig wieder nach neun Jahren Abitur machen und nicht nach acht. Der Bildungsforscher Wilfried Bos hält das für falsch. Es gebe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Rückkehr zu G9 begründen würden, sagte er im DLF. Die Politik gebe damit lediglich dem Wunsch "kampagnenfähiger" Eltern nach.

Wilfried Bos im Gespräch mit Sandra Pfister |
    T-Shirt mit der Aufschrift "Ja! zu G9".
    Bayern kehrt zurück zu G9, in Nordrhein-Westfalen soll noch mit einem Volksbegehren darüber entschieden werden. (dpa/picture alliance/Sven Hoppe)
    Sandra Pfister: Bayern kehrt zum G9 zurück. Und ist damit nicht allein: Niedersachsen hat als erstes Bundesland wieder die Rolle rückwärts hingelegt. Leistungsstarke Schüler haben aber weiterhin die Möglichkeit, ein Jahr früher Abi zu machen. Hessen und Schleswig-Holstein haben Wahlfreiheit eingeführt. In Baden-Württemberg wird an 44 Schulen G9 erprobt. Und Nordrhein-Westfalen bietet beide Optionen, aber da läuft gerade ein Volksbegehren: Zurück zur längeren Gymnasialzeit. Darüber reden wir jetzt mit dem Bildungsforscher Wilfried Bos vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dresden. Herr Bos, Sie waren vor 18 Jahren einer der überzeugtesten Befürworter von G8. Haben Sie sich geirrt?
    Wilfried Bos: Nein, das war ja durchaus eine sinnvolle Entscheidung unter dem, was man damals wusste, G8 einzuführen. Da sprach ja einiges dafür. Wir hatten die Untersuchungen mit der TIMSS-Studie und verschiedene andere Untersuchungen. Und im internationalen Vergleich hatten wir uns das weltweit angesehen, und nach den Ergebnissen sprach einiges dafür, dass man das in acht Jahren durchaus schaffen kann, junge Menschen reif fürs Studium zu machen. Das gelingt international ja auch in fast allen Ländern auf dem Globus so. Und dann ist das in Deutschland in manchen Bundesländern mehr und in manchen Bundesländern weniger übereilt eingeführt worden, im Hauruck-Verfahren, und dabei sind natürlich viele Sachen schiefgegangen, das war auch absehbar und hat zu Irritationen geführt. Allerdings war es dann im Groben und Ganzen eigentlich auch ganz gut implementiert. Und wenn jetzt die Politik meint, sie müsste das alles wieder zurückfahren, dann wird sie dem Willen einiger Eltern, die kampagnenfähig sind und die das groß in die Presse gemacht haben, dann wird sie denen eben folgen.
    Zunahme von Burn-out: "Die empirischen Befunde geben das nicht her"
    Pfister: Also, Sie sagen, die Idee war damals gut, die Umsetzung war dann in vielerlei Hinsicht mangelhaft. Aber jetzt, wo es läuft, sollte man es eigentlich nicht zurückdrehen?
    Bos: Sagen wir mal so, wissenschaftlich und empirisch sehe ich wenige Gründe dafür, das umzudrehen und wieder zurückzuführen. Wobei ich es bedenklich finde, auf Eltern zu hören, die eine Kampagne machen. Ich bin mir nicht sicher, ob das die gesamte Elternschaft ist. Die Lehrerschaft vor allen Dingen, ob die das auch ist, dass die die ganzen Änderungen wieder haben wollen, da bin ich mir nicht so sicher.
    Pfister: Was Eltern, was Schüler ja oft gesagt haben, sie haben sich beschwert über das Arbeitspensum, das sei so hoch, und dass Abiturienten kurz vorm G8-Abi dann vor dem Burn-out stehen. Sind das Horrorgeschichten?
    Bos: Also, das mag in Einzelfällen durchaus so vorkommen und so sein, aber die empirischen Befunde geben das an sich nicht her. Also, wir haben irgendwie nicht Erkenntnis darüber, jedenfalls liegt sie mir nicht vor, dass wir jetzt einen massenhaften Anstieg von Burn-out et cetera haben. Dem ist also nicht so. Auch die Vereinbarkeit mit Sport, mit Musik, mit Vereinen et cetera: Wenn man in die Empirie guckt, hat sich da zwischen G8 und G9 nicht grundlegend was geändert.
    Pfister: Aber so viel Empirie gibt es doch gar nicht. Ist nicht das Problem bei all diesen Argumentationen: Weder die eine noch die andere Seite hat so viele Studien, dass sie sagen könnte, so, das stimmt jetzt?
    Bos: Das ist richtig, ich bin aber, was das angeht, eher konservativ. Ich ändere etwas, wenn ich genügend Empirie dazu habe, dass man das ändern soll und muss. Sonst kann ich ja das andere beibehalten, und das Beibehalten wäre eigentlich G8 gewesen. Denn solange ich nicht wirklich abgesicherte Empirie darüber habe, dass G8 schädlich ist, warum soll ich das schon wieder ändern?
    "Man hätte es nicht zurückdrehen müssen"
    Pfister: Wenn jetzt in Bayern in 18 Monaten alles wieder umgestellt wird auf das längere Abi, dann müssen die Lehrer, müssen die Schüler wieder was Neues wuppen. Ist das purer Stress jetzt oder läuft das entspannter, weil man es ja schon mal hatte?
    Bos: Wenn das anderthalb Jahre Zeit hat, dann wird man das sicherlich entspannter angehen können als damals die Einführung, da waren nur wenige Monate Zeit und das hat natürlich zu Irritationen geführt. Wenn man das vernünftig plant, dann wird das bayrische Ministerium das hinkriegen, da mache ich mir keine großartigen Gedanken drum. Wenn die anderthalb Jahre Planungszeit haben, das sind gute Leute im Ministerium, die werden das schon hinkriegen. Und die Schulen werden das mit der Vorlaufszeit auch hinkriegen, man muss ja keine Angst haben, dass jetzt irgendwas Schreckliches passiert.
    Pfister: Aber man hätte es eben auch nicht zurückdrehen müssen.
    Bos: Nee, man hätte es nicht zurückdrehen müssen. Und die Lehrer, die ich kenne, und was ich da auch aus entsprechenden Befragungen weiß, die sagen also im Großen und Ganzen eigentlich: Die Messe ist gesungen, das war erledigt, damit waren wir durch, und um Himmels Willen, warum müssen wir das jetzt alles wieder umkrempeln!
    "Ich vermute, dass NRW ein Mehrwegemodell machen wird"
    Pfister: Jetzt ist Nordrhein-Westfalen wahrscheinlich der nächste Hotspot, an dem eine Entscheidung ansteht, da läuft ja gerade ein Volksbegehren. Was empfehlen Sie denn den Nordrhein-Westfalen?
    Bos: In Nordrhein-Westfalen haben wir ja noch mal die andere Situation, dass wir hier auch die Gesamtschulen haben, die ja so und so im G9-Modell sind. Da hat ja im Prinzip das Gymnasium das Alleinstellungsmerkmal, dass es eben in acht Jahren zum Abitur führen kann. Ich vermute mal, dass Nordrhein-Westfalen so ein Mehrwegemodell machen wird, dass man sowohl G8 als auch G9 anbietet. Wenn das denn die Mehrheit unserer Bevölkerung so will, dass beide Alternativen da sind, ja, warum dann nicht?
    Pfister: Aber wenn Sie als Wissenschaftler der Politik Ratschläge geben können, was raten Sie dann?
    Bos: Wenn es eine gewisse Breite in unserer Bevölkerung gibt, die auch am Gymnasium beide Wege haben will, dann wäre die Politik im Grunde schlecht beraten, wenn sie das nicht ermöglichen würde. Aber ein generelles Zurück zu G9 an den Gymnasien, da sehe ich wissenschaftlich gesehen keinen Grund zu.
    Pfister: Sagt Wilfried Bos, Schulentwicklungsforscher in Dresden und noch immer Freund des Abi nach zwölf Jahren, das in Bayern demnächst der Vergangenheit angehören wird. Ganz herzlichen Dank, Herr Bos!
    Bos: Gerne, bis dann, tschüs!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.