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Internationale Studien
Ist Bildung messbar?

PISA, Vergleichsarbeiten und Ländervergleiche: Statistiken und Rankings haben mittlerweile einen großen Einfluss auf Bildungssysteme. Aber ist Bildung tatsächlich messbar? Ja, erklärte Olaf Köller, Bildungsexperte an der Universität zu Kiel. Allerdings seien die Studien nicht dazu geeignet, Defizite im Bildungssystem zu heilen. Das müssten andere leisten.

Olaf Köller im Gespräch mit Sandra Pfister | 04.04.2017
    Eine junge Lehrerin schreibt am 17.08.2016 an eine Schultafel im Mathematikunterricht einer 8. Klasse an einer Integrierten Gesamtschule in Hannover (Niedersachsen).
    Professor Olaf Köller von der Universität zu Kiel hält nichts davon, den Kanon der bei PISA und Co getesteten Fächer zu erweitern. (dpa/ picture alliance/ Julian Stratenschulte)
    Sandra Pfister: Ist Bildung messbar? Das ist seit Jahren, seit der ersten PISA-Studie ein heiß diskutiertes Thema. Denn inzwischen bestimmen ja Rankings und Tabellen, nationale und internationale Statistiken, in welche Richtung unser Bildungssystem sich entwickelt. Die empirischen Bildungsforscher und Statistiker sind zwar inzwischen hoch anerkannt, aber auch unter Druck, weil man ihnen vorwirft, sie mäßen zwar, was in der Bildung gut gelinge und was nicht, könnten aber nicht erklären, warum. Darüber habe ich vorher gesprochen mit Professor Olaf Köller, Professor für empirische Bildungsforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
    Olaf Köller: Also, wenn wir uns das anschauen, dann ist im Prinzip jede Schülerin, jeder Schüler der dritten Jahrgangsstufe und der achten Jahrgangsstufe einmal im Jahr betroffen, wenn die sogenannten Vergleichsarbeiten kommen, VerA.
    Wenn wir uns PISA anschauen, alle drei Jahre circa 6.000 15-Jährige in Deutschland, 6.000 von fast 800.000, wenn wir uns die Ländervergleiche des IQB in Berlin anschauen, alle drei Jahre in der Sekundarstufe I, 9.-Klässler, dort reden wir bundesweit von 40.000.
    Das sind alles kleine Zahlen. Das heißt, letztendlich trifft es relativ wenige Schülerinnen und Schüler regelmäßig. Ausnahme: Die kleinen Bundesländer, die Stadtstaaten wie Bremen, dort trifft es tatsächlich ziemlich viele.
    Pfister: Also, es wird nicht zu viel gemessen, sagen Sie. Die andere Kritik lautet: Das, was gemessen wird, wird nicht richtig umgesetzt. Trifft Sie diese Kritik?
    Köller: Nein. Also, man muss einfach anerkennen, wenn man eine Schulleistungsmessung macht, stellt man fest, was Schülerinnen und Schüler können; man hat aber nicht festgestellt, wo sie es gelernt haben, wie sie es gelernt haben beziehungsweise, wenn sie Defizite haben, wie man das verändert. Das heißt natürlich, allein von der Messung kann man nicht versprechen, dass man auch heilt. Allein, dass der Arzt feststellt, dass man zu hohen Blutdruck hat, führt natürlich auch nicht zur Heilung. Und das müssen wir natürlich konzedieren, da kommt die Diagnose, die liefern wir. Was danach kommt, die Heilung, die Therapie im System, dazu braucht man mehr Wissen als allein die Schulleistungsstudien.
    "Die einen messen mehr und die anderen kümmern sich darum, dass es besser wird"
    Pfister: Aber machen Sie sich damit nicht irgendwie einen schlanken Fuß, indem Sie sagen, so, das spielen wir jetzt alles weiter, alles Weitere muss die Politik entscheiden?
    Köller: Na, es muss nicht die Politik entscheiden. Wissenschaft teilt sich ja die Aufgaben auf. Es gibt Bildungsforscherinnen und -forscher, die beschäftigen sich im Wesentlichen mit dem Messen, das ist das IQB in Berlin. Es gibt auf der anderen Seite aber auch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die führen Studien durch, indem sie versuchen, neue Unterrichtsansätze auszuprobieren, also auch, was wir hier in Kiel machen, dass wir uns schon anschauen, wie kann ich Unterricht weiterentwickeln in der Mathematik, in den Naturwissenschaften, dass die Schülerinnen und Schüler auch mehr lernen und dann natürlich auch in PISA besser abschneiden und auch in den Ländervergleichen.
    Also, ich glaube, das ist einfach eine Arbeitsteilung, die einen messen mehr und die anderen kümmern sich darum, dass es besser wird.
    Pfister: Sie gehören zu denen, die mehr messen unter anderem, und darum geht es ja auch bei der Tagung. Wird das Richtige gemessen?
    Köller: Also, es hat ja 1997 die sogenannten KMK-Beschlüsse von Konstanz gegeben, dort hat man sich auf PISA geeinigt, dass man langfristig an PISA teilnehmen will. Und damit hat man sich auch verständigt, dass die Verkehrssprache Deutsch, Mathematik und die Naturwissenschaften zentrale Bestandteile von Bildung sind. Sie sind nicht alles, darüber sind wir uns einig, aber ohne dass Sie sicher lesen können, ohne dass Sie Mathematik können, ohne dass Sie Naturwissenschaften können, kommen Sie im Leben nicht klar. Das heißt, die Botschaft ist: Es sind Teilaspekte, die zum Bildungskanon gehören, sie erschlagen aber nicht alles das, was Schule leisten soll, aber das muss man auch offensiv vertreten. Es sind Teilaspekte, Teilaspekte, die aber zentral sind für die Zukunft unserer Jugendlichen.
    "Noch mehr Fächer messen oder testen heißt noch mehr Belastung für die Schülerinnen und Schüler"
    Pfister: Ich verstehe, warum Sie diese Teilaspekte herausgegriffen haben. Aber mit Ihrer Wertschätzung und der Setzung dieser Fächer geht ja auch einher, dass die automatisch mehr Gewicht kriegen im Schulalltag. Also, Geschichte wird nicht getestet, Geografie wird nicht getestet, Sozialwissenschaften wird nicht getestet im Rahmen dieser Studien zumindest.
    Heißt das nicht dann doch implizit, was nicht in Tabellenform erfasst werden kann, ist doch weniger wert?
    Köller: Das ist die Diskussion, der wir kaum argumentativ sehr stark begegnen können, weil natürlich diese Fächer, Mathematik, Deutsch, nehmen wir Englisch noch dazu, die Naturwissenschaften, damit schon hervorragende Rolle bekommen oder eine hervorgehobene Rolle bekommen. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, wenn Sie sich Stundentafeln anschauen, mit wie viel Wochenstunden werden die Fächer unterrichtet: Natürlich wird Deutsch mit einer größeren Wochenstundenzahl unterrichtet als Geografie. Das heißt, diese unterschiedliche Wertigkeit in den Fächern, implizit oder auch explizit, haben Sie ohnehin. Und ich glaube, wir müssen hier auch mehr am Selbstbewusstsein der Fachvertreter in der Religion, im Geschichtsunterricht, im Geografieunterricht arbeiten, dass man trotz fehlender Messung sich dessen bewusst ist, wie wichtig diese Fächer auch in ihrem Beitrag zu Bildungsprozessen sind. Man muss auch sagen: Noch mehr Fächer messen oder testen heißt noch mehr Belastung für die Schülerinnen und Schüler.
    "Schaut nicht zu viel auf Strukturen"
    Pfister: Ziel der Messungen, die Sie durchführen, ist ja auch die Diskussion, um Bildungsfragen weniger ideologisch zu gestalten, wie das ja in den 70er-, 80er-Jahren häufig der Fall war. Haben Sie das Gefühl, das ist Ihnen gelungen, oder schwelen da die gleichen Glaubenskriege einfach weiter?
    Köller: Also, wir versuchen ja immer, anhand der Schulleistungsstudien beispielsweise deutlich zu machen: Schaut nicht zu sehr hin, ist das differenzierte Schulsystem besser oder das Einheitsschulsystem. Denn wenn wir euch mit den Ergebnissen konfrontieren, sehen wir: In beiden Systemen kann man sehr erfolgreich arbeiten. Oder was wir aktuell wieder für Diskussionen führen: Lernt man im G8 besser als im G9 oder im G9 besser als im G8? Dort sagen wir immer: Ganz wichtig jenseits dieser ideologischen Probleme, wir sehen dort, es sind nicht diese strukturellen Voraussetzungen, die die Leistungsunterschiede generieren oder erklären, sondern letztendlich ist es wirklich der Punkt, was wird im Unterricht gemacht, was lernen die Schülerinnen und Schüler, welche Lerngelegenheiten gibt es?
    Und ich glaube, man kann sehr stark so entideologisieren, auch immer wieder der Bildungspolitik den Spiegel vorhalten: Schaut nicht zu viel auf Strukturen, schaut viel mehr darauf, dass ihr eure Lehrerinnen und Lehrer gut ausbildet, dass die guten Unterricht machen.
    "Natürlich werden diese Liga-Tabellen genutzt, um Politik zu machen"
    Pfister: Haben Sie das Gefühl, das ist das, was nach all diesen Bildungsstudien hängengeblieben ist? Oder ist es nicht doch das Ranking, was immer im Vordergrund steht?
    Köller: Das Ranking steht im Vordergrund, man macht damit Wahlkampf und letztendlich stehen auch nach wie vor die schulstrukturellen Fragen im Vordergrund, wir erleben das ja gerade auch wieder in den Diskussionen um G8/G9. Aber wir erleben das natürlich auch im Länderranking, ich musste vor ein oder zwei Wochen gerade wieder feststellen, dass die Hamburger zusätzliche Auswertung des letzten Ländervergleichs gemacht haben, um festzustellen, dass sie eigentlich die besten Schülerinnen und Schüler haben.
    Natürlich werden diese Liga-Tabellen genutzt, um Politik zu machen, wir bedauern das, Journalisten bedauern das, mancher Politiker bedauert das auch, zumindest wenn er Letzter ist, aber den politischen Umgang mit solchen Ergebnissen können wir als Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher leider nicht steuern.
    Pfister: Professor Olaf Köller, Professor für empirische Bildungsforschung an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Ganz herzlichen Dank, Herr Köller!
    Köller: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.