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Abnabelungsprozess

Die Kaperung der Gaza-Hilfsflotte vor einer Woche schlägt immer noch Wellen. Die niederländische Regierung allerdings hält sich bedeckt, und erntet dafür Unverständnis im eigenen Land. Denn schon lange sind viele nicht mehr zu bedingungsloser Treue bereit.

Von Kerstin Schweighöfer |
    Liesbeth Zegveld, Amsterdamer Völkerrechtsprofessorin und Anwältin, bereitet das nächste Treffen mit ihrer Mandantin Anne de Jong vor. Anne gehört zu den beiden niederländischen Staatsbürgern, die vor einer Woche den internationalen Gaza-Hilfskonvoi im Mittelmeer begleitet haben. Die 29-jährige Anthropologin hat drei Tage in einem israelischen Gefängnis verbracht – ohne Rechtsbeistand und ohne Kontakte zur Außenwelt. Jetzt will sie die israelische Regierung verklagen – wegen unrechtmäßiger Festnahme und Misshandlung, so ihre Anwältin:

    "Auch hat man ihr alles abgenommen, sie kam ohne Handy und ohne Bankkarten zurück nach Holland. Bei dem Angriff war sie von mehreren Gummikugeln getroffen worden. Doch als sie wegen ihrer Verletzungen einen Arzt forderte, lachte man sie nur aus."

    Die Anwältin Liesbeth Zegveld gehört zu einer Gruppe führender niederländischer Völkerrechtsexperten und ehemaliger Politiker, die sich im Dezember 2009 zu der Stiftung "Rights Forum" zusammengeschlossen haben.

    Ihr Ziel: eine gerechtere Nahostpolitik. Israel dürfe die internationalen Menschenrechte nicht länger verletzten – und die niederländische Regierung müsse Israel gegenüber endlich eine kritischere Haltung einnehmen. Immerhin wolle sich Den Haag doch nur allzu gerne als Welthauptstadt für Frieden und Gerechtigkeit profilieren:

    "Unsere Regierung muss auf eine unabhängige Untersuchung bestehen, um die Umstände dieses Angriffes zu klären. Doch unser Außenminister Maxime Verhagen hält es für ausreichend, wenn Israel das intern klärt. Das wird natürlich nichts, das ist ausgeschlossen!"

    Die Gründung der Stiftung hat viel Aufsehen erregt, denn bislang war das Verhältnis der Niederländer zu Israel von einer geradezu bedingungslosen Treue geprägt. Als Hüter des Vermächtnisses von Anne Frank fühlen sie sich besonders mit Israel verbunden. Wie kein anderes Land haben sie den Staat Israel seit dessen Gründung unterstützt und standen immer hinter ihm. Insbesondere in den 60er-Jahren, damals wurden israelische Soldaten wie Helden verehrt.

    Das Zögern von Außenminister Verhagen kommt denn auch nicht von ungefähr – schon bei der EU-Erklärung zum Nahostkonflikt Anfang Dezember 2009 trat er auf die Bremse. "Unverständlich!" schimpft Laurens Jan Brinkhorst, früherer Minister und Mitbegründer vom "Rights Forum".

    "Er hat bei allen Vordiskussionen versucht, das abzuschwächen. Aber letztendlich konnte er nicht verhindern, dass Europa eine stärkere Position einnimmt. Als Holländer bedaure ich es sehr, dass ich vertreten werde von einem Politiker, der einfach die Augen zumacht. Nochmals: In einer Stadt, die sagt, wir sind Hauptstadt für Frieden und Gerechtigkeit - das ist unakzeptabel."

    Doch aus Angst, auch die guten Beziehungen zu Washington zu gefährden, schare sich Den Haag hinter die Amerikaner und traue sich nicht, einen abweichenden Standpunkt einzunehmen. Außerdem sei die Treue zu Israel scheinheilig, so Brinkhorst:

    "Das hat mit unserem eigenen Schuldkomplex zu tun. Wir haben eigentlich im Zweiten Weltkrieg relativ viel Juden erstens nicht zugelassen in der ersten Hitlerzeit, nachher sind viele Juden verfolgt worden, die größte Zahl von Juden in Europa prozentweise ist in Holland gewesen, also das ist ein Schuldkomplex."

    Inzwischen allerdings sind auch die Niederländer dabei, selbstkritischer auf ihre eigene Rolle im Zweiten Weltkrieg zurückzuschauen – auch das Bild von Israel bekommt Risse: Dafür hat als eine der ersten Gretta Duisenberg gesorgt, die Witwe des ehemaligen europäischen Zentralbankpräsidenten: Sie erregte 2002 weltweit Aufsehen, weil sie in Amsterdam ganz demonstrativ die palästinensische Flagge über ihre Balkonbrüstung hängte. Gretta Duisenberg ist Mitglied der "Free Gaza"-Bewegung.

    Nach dem Angriff letzte Woche wollte sie zusammen mit anderen wütenden Demonstranten in Den Haag vor die israelische Botschaft ziehen, dabei wurde sie von einer Sondereinheit der Polizei zu Boden geworfen.

    Mit der Gründung der Stiftung "Rights Forum" ist eine neue Phase erreicht: "Wir formen eine sehr breite Basis", so Professorin Zegveld:

    "Ich denke schon, dass es uns gelingen wird, die Menschen nachdenklich zu stimmen, auch die jetzige Generation der Politiker. Das wird die Diskussion weiter in Gang bringen. Und wer weiß – am Mittwoch sind Wahlen: Ein neues Kabinett bedeutet immer auch neue Chancen."