Die Stadt Kassel zählt Paul Julius Reuter, den Gründer der legendären Nachrichtenagentur, zu ihren berühmtesten Söhnen. Trotzdem ist die Stadt im Nordhessischen kein gutes Pflaster für Journalisten. Jedenfalls nicht an diesem Sonntag, an dem sich eine Handvoll Medienvertreter die verwaiste, eiskalte Bahnhofshalle mit zwei Tauben teilen müssen. Angereist waren sie - die Journalisten - um zu hören, was die SPD-Basis denkt. Die aber tagt hinter verschlossenen Türen, im Bahnhofscafé, das zum Kulturbahnhof aufgehübscht worden ist. Mit Disco-Kugeln unter der Decke, für den Tanz am Samstagabend. Da sitzen sie, diejenigen, die der SPD einen Neubeginn verpassen wollen. Argwöhnisch beäugt aus dem Willy-Brandt-Haus, wo hinter dem Kasseler Basistreffen nichts anderes vermutet wird als eine Veranstaltung, auf der die Parteilinke die Messer wetzt für den Dresdner Bundesparteitag. Und in der Tat: Als die knapp 300 Genossen im Kasseler Bahnhof eintreffen, sind durchaus markige Parolen zu hören:
"Eines ist jedenfalls klar: Weiter so kann es nicht gehen. Wir machen seit zehn Jahren weiter so und sind von Wahl zu Wahl schlechter geworden. Also: Umkehr ist nötig", "
sagt etwa Ottmar Schreiner. Seit 40 Jahren ist der Saarländer Mitglied der SPD. Zwei Jahre lang hatte er sogar einen richtig wichtigen Posten. Bundesgeschäftsführer. Das liegt aber mittlerweile zehn Jahre zurück. Damals war ein anderer Saarländer Parteichef, Oskar Lafontaine, und als der die Brocken hinwarf, führte das bei Schreiner zum Karriereknick. Seither ballt er die Faust, mal in der Tasche, mal draußen. Jetzt wittert er Morgenluft. Die letzten zehn Jahre - ein einziger Irrweg. Sein Credo. Zehn Jahre, die beim Kasseler Basistreffen als die Zeit der "Schröder-SPD" verbucht werden, auch wenn Gerhard Schröder schon seit vier Jahren keine wesentliche Rolle mehr in der Partei spielt. Müntefering, Steinbrück, Steinmeier - allesamt Schröder-SPD. Und wer immer dieses Wort hier in den Mund nimmt, sorgt dafür, dass es verächtlich klingt. Mit dieser Schröder-SPD soll jetzt abgerechnet werden. Die Buchhalter dieser Schlussbilanz sind grau geworden. Abgesehen von einer Handvoll Jusos, die auch gekommen ist, wird keiner von ihnen die Härten der Rente mit 67 erleiden müssen. Sie dürfen altersbedingt früher gehen, mit 65, oder sie sind gar schon in Rente. Einer nach dem anderen zückt an der Tür das rote Parteibuch, ohne das kein Weg in das Bahnhofcafé führt. Und wer es als Journalist doch versucht, wird vom parteiamtlichen Türsteher rüde angebellt. Eine Etage tiefer, unter dem Bahnhof, da hätte es einen besseren Tagungsraum gegeben, ätzt ein ortskundiger Kameramann. Eine Etage tiefer, da liegt ein verlassener Weltkriegsbunker. Während junge Frauen in weißen Blusen Kaffee servieren, füllt sich die erste Reihe vor dem Podium unter den Disco-Kugeln. Rudolf Dressler, das sozialpolitische Schlachtross der SPD, als die noch nicht die Schröder-SPD war. Johano Strasser, Vordenker der Jusos, als die noch über die Stamokap-Theorie stritten. Dazu zwei, deren politische Wunden jüngeren Datums sind: Andrea Ypsilanti und Hermann Scheer, die heute Hessen regieren würden, wenn, ja wenn ihnen nicht die Schröder-SPD in die Beine gegrätscht wäre. Scheer, der Solarpapst der SPD, der beinahe Wirtschaftsminister geworden wäre, wird wie Frau Ypsilanti in Dresden nicht noch einmal für den Bundesvorstand kandidieren. Er sei es leid, von Heckenschützen aus dem Willy-Brandt-Haus ins Visier genommen zu werden, sagt er. Und er klingt verbittert, wenn er hinzufügt:
""Ich bin nicht verbittert. Ich bin, ich habe nur ... Ich möchte nur mit bestimmten Personen im laufenden Verfahren nichts mehr zu tun haben."
Die Frage, ob es sich nun um ein Treffen der SPD-Basis, also ihrer Kleinfunktionäre, oder um eines des linken Parteiflügels handelt, ist letztlich irrelevant. Denn die Linke fühlt sich von den Seeheimern und den Netzwerkern seit Langem marginalisiert. So steht es jedenfalls in einem Thesenpapier, mit dem die Teilnehmer des Kasseler Treffens ausgestattet worden sind. Sie fand sich in ihrer eigenen Wahrnehmung in der Schröder-SPD ganz unten wieder, also an der Basis. Jetzt wollen sie zurück an die Fleischtöpfe der Parteimacht. Dafür wollen sie zuerst den Stil parteiinterner Debatten ändern. Der Putsch von oben sei zur gängigen Methode sozialdemokratischer Oligarchen geworden, heißt es in dem Thesenpapier garstig über die Führungsmannschaft der Schröder-SPD. Sie sei eine mediale Kaderpartei geworden. Gemeint ist damit vor allem der scheidende Vorsitzende Franz Müntefering und dessen Bastapolitik. Die habe seiner Partei ein Demokratiedefizit beschert, sagt Hermann Scheer, und gibt die Richtung für die Nach-Schröder-SPD vor:
"Es geht um die Redemokratisierung der SPD. Wenn Parteien verwandelt werden zu reinen Gefolgschaftsvereinen, die das, was immer eine Führung beschließt, einfach nur gefälligst mitzutragen haben, dann zerfließt die Partei. Und dann kommt das zustande, was zustande gekommen ist, als Ergebnis einer langjährigen Entdemokratisierung."
Sie wollen jetzt also wieder mitreden dürfen. Vor allem über die Rente mit 67, die, so Stephan Grüger, der Organisator des Treffens von Kassel, schlicht auf einem Rechenfehler beruht. Oder über Hartz IV. Alles falsch gewesen, sagt Ottmar Schreiner. Und Rudolf Dressler will, dass die SPD sich endlich wieder der Gerechtigkeit verschreibt. Und die hat eine Richtung:
"Wenn mehr Gerechtigkeit links ist, kann man das so nennen. Ich habe gelernt in den letzten zehn Jahren, dass alles, was ungerecht war, Mitte genannt wurde, und alles, was gerechter war, plötzlich links wurde."
Fünf Stunden dauert die Debatte im Bahnhofscafé. Fünf Stunden lang werden Wunden geleckt und Traditionen beschworen. Am Ende steht fest: Es wird keine Revolte geben auf dem Dresdner Bundesparteitag. Das neue Führungsduo darf mit einem Vertrauensvorschuss rechnen. Dass Andrea Nahles dem gerecht wird, bezweifelt hier niemand. Aber Sigmar Gabriel wollen sie unter verschärfte Beobachtung stellen, wenn der erst einmal ins Willy-Brandt-Haus eingezogen ist, sagt Stephan Grüger:
"Wir wollen diejenigen sein, die da den Finger in die Wunde legen. Wir wollen Sigmar an das erinnern, was er gesagt und versprochen hat, und wir wollen eine kritische Instanz sein in diesem Prozess."
Erst im nächsten Jahr will die grau gewordene Basis dann so richtig loslegen. Dann soll SPD wieder auf Kurs getrimmt werden. Bis dahin wollen sie beraten, welcher Kurs genau das sein soll, was sie erreichen wollen, und mit welchen Bündnissen. Nächster Termin: ein mehrtägiges Basistreffen im nächsten Jahr. Sommerakademie - so heißt das hier. Glück auf, ruft Stephan Grüger zum Abschied ins Bahnhofscafé. Und dann strömen sie hinaus aus ihrer sozialdemokratischen Wärmestube in die kalte Bahnhofshalle.
"Eines ist jedenfalls klar: Weiter so kann es nicht gehen. Wir machen seit zehn Jahren weiter so und sind von Wahl zu Wahl schlechter geworden. Also: Umkehr ist nötig", "
sagt etwa Ottmar Schreiner. Seit 40 Jahren ist der Saarländer Mitglied der SPD. Zwei Jahre lang hatte er sogar einen richtig wichtigen Posten. Bundesgeschäftsführer. Das liegt aber mittlerweile zehn Jahre zurück. Damals war ein anderer Saarländer Parteichef, Oskar Lafontaine, und als der die Brocken hinwarf, führte das bei Schreiner zum Karriereknick. Seither ballt er die Faust, mal in der Tasche, mal draußen. Jetzt wittert er Morgenluft. Die letzten zehn Jahre - ein einziger Irrweg. Sein Credo. Zehn Jahre, die beim Kasseler Basistreffen als die Zeit der "Schröder-SPD" verbucht werden, auch wenn Gerhard Schröder schon seit vier Jahren keine wesentliche Rolle mehr in der Partei spielt. Müntefering, Steinbrück, Steinmeier - allesamt Schröder-SPD. Und wer immer dieses Wort hier in den Mund nimmt, sorgt dafür, dass es verächtlich klingt. Mit dieser Schröder-SPD soll jetzt abgerechnet werden. Die Buchhalter dieser Schlussbilanz sind grau geworden. Abgesehen von einer Handvoll Jusos, die auch gekommen ist, wird keiner von ihnen die Härten der Rente mit 67 erleiden müssen. Sie dürfen altersbedingt früher gehen, mit 65, oder sie sind gar schon in Rente. Einer nach dem anderen zückt an der Tür das rote Parteibuch, ohne das kein Weg in das Bahnhofcafé führt. Und wer es als Journalist doch versucht, wird vom parteiamtlichen Türsteher rüde angebellt. Eine Etage tiefer, unter dem Bahnhof, da hätte es einen besseren Tagungsraum gegeben, ätzt ein ortskundiger Kameramann. Eine Etage tiefer, da liegt ein verlassener Weltkriegsbunker. Während junge Frauen in weißen Blusen Kaffee servieren, füllt sich die erste Reihe vor dem Podium unter den Disco-Kugeln. Rudolf Dressler, das sozialpolitische Schlachtross der SPD, als die noch nicht die Schröder-SPD war. Johano Strasser, Vordenker der Jusos, als die noch über die Stamokap-Theorie stritten. Dazu zwei, deren politische Wunden jüngeren Datums sind: Andrea Ypsilanti und Hermann Scheer, die heute Hessen regieren würden, wenn, ja wenn ihnen nicht die Schröder-SPD in die Beine gegrätscht wäre. Scheer, der Solarpapst der SPD, der beinahe Wirtschaftsminister geworden wäre, wird wie Frau Ypsilanti in Dresden nicht noch einmal für den Bundesvorstand kandidieren. Er sei es leid, von Heckenschützen aus dem Willy-Brandt-Haus ins Visier genommen zu werden, sagt er. Und er klingt verbittert, wenn er hinzufügt:
""Ich bin nicht verbittert. Ich bin, ich habe nur ... Ich möchte nur mit bestimmten Personen im laufenden Verfahren nichts mehr zu tun haben."
Die Frage, ob es sich nun um ein Treffen der SPD-Basis, also ihrer Kleinfunktionäre, oder um eines des linken Parteiflügels handelt, ist letztlich irrelevant. Denn die Linke fühlt sich von den Seeheimern und den Netzwerkern seit Langem marginalisiert. So steht es jedenfalls in einem Thesenpapier, mit dem die Teilnehmer des Kasseler Treffens ausgestattet worden sind. Sie fand sich in ihrer eigenen Wahrnehmung in der Schröder-SPD ganz unten wieder, also an der Basis. Jetzt wollen sie zurück an die Fleischtöpfe der Parteimacht. Dafür wollen sie zuerst den Stil parteiinterner Debatten ändern. Der Putsch von oben sei zur gängigen Methode sozialdemokratischer Oligarchen geworden, heißt es in dem Thesenpapier garstig über die Führungsmannschaft der Schröder-SPD. Sie sei eine mediale Kaderpartei geworden. Gemeint ist damit vor allem der scheidende Vorsitzende Franz Müntefering und dessen Bastapolitik. Die habe seiner Partei ein Demokratiedefizit beschert, sagt Hermann Scheer, und gibt die Richtung für die Nach-Schröder-SPD vor:
"Es geht um die Redemokratisierung der SPD. Wenn Parteien verwandelt werden zu reinen Gefolgschaftsvereinen, die das, was immer eine Führung beschließt, einfach nur gefälligst mitzutragen haben, dann zerfließt die Partei. Und dann kommt das zustande, was zustande gekommen ist, als Ergebnis einer langjährigen Entdemokratisierung."
Sie wollen jetzt also wieder mitreden dürfen. Vor allem über die Rente mit 67, die, so Stephan Grüger, der Organisator des Treffens von Kassel, schlicht auf einem Rechenfehler beruht. Oder über Hartz IV. Alles falsch gewesen, sagt Ottmar Schreiner. Und Rudolf Dressler will, dass die SPD sich endlich wieder der Gerechtigkeit verschreibt. Und die hat eine Richtung:
"Wenn mehr Gerechtigkeit links ist, kann man das so nennen. Ich habe gelernt in den letzten zehn Jahren, dass alles, was ungerecht war, Mitte genannt wurde, und alles, was gerechter war, plötzlich links wurde."
Fünf Stunden dauert die Debatte im Bahnhofscafé. Fünf Stunden lang werden Wunden geleckt und Traditionen beschworen. Am Ende steht fest: Es wird keine Revolte geben auf dem Dresdner Bundesparteitag. Das neue Führungsduo darf mit einem Vertrauensvorschuss rechnen. Dass Andrea Nahles dem gerecht wird, bezweifelt hier niemand. Aber Sigmar Gabriel wollen sie unter verschärfte Beobachtung stellen, wenn der erst einmal ins Willy-Brandt-Haus eingezogen ist, sagt Stephan Grüger:
"Wir wollen diejenigen sein, die da den Finger in die Wunde legen. Wir wollen Sigmar an das erinnern, was er gesagt und versprochen hat, und wir wollen eine kritische Instanz sein in diesem Prozess."
Erst im nächsten Jahr will die grau gewordene Basis dann so richtig loslegen. Dann soll SPD wieder auf Kurs getrimmt werden. Bis dahin wollen sie beraten, welcher Kurs genau das sein soll, was sie erreichen wollen, und mit welchen Bündnissen. Nächster Termin: ein mehrtägiges Basistreffen im nächsten Jahr. Sommerakademie - so heißt das hier. Glück auf, ruft Stephan Grüger zum Abschied ins Bahnhofscafé. Und dann strömen sie hinaus aus ihrer sozialdemokratischen Wärmestube in die kalte Bahnhofshalle.