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Abrechnung im Krisenstaat

Die Finanzkrise hat Island ins Straucheln gebracht. Nach Protesten musste die konservative Regierung, die das Land seit 18 Jahren lenkt, zurücktreten. Bei den Neuwahlen dieses Wochenende zeichnet sich ein Linksruck ab. Neben der Wirtschaftkrise war ein möglicher EU-Beitritt Islands zentrales Wahlkampfthema.

Von Philipp Boerger | 24.04.2009
    Island Ende Januar 200: Die Anti-Regierungs-Proteste haben ihren Höhepunkt erreicht. Vor dem Parlament Althingi in der Hauptstadt Reykjavik brennen Feuer, explodieren Böller. Eier und Farbbeutel klatschen gegen die Wände des Regierungsgebäudes. Auch die Zentralbank wird gestürmt und besetzt. Zum ersten Mal seit 60 Jahren setzt die isländische Polizei Tränengas ein. Damals, 1949, hatten sich die Bürger gegen den Beitritt ihres Landes in die NATO aufgelehnt. Seitdem hat es in Island nie wieder so heftige Proteste gegeben.

    "Vanhæf ríkisstjórn!" - "Unfähige Regierung! Unfähige Regierung!" - skandieren die Menschen, tagelang - und auch während der eiskalten Nächte. Bis zu 8000 wütende Bürger halten das Parlament rund um die Uhr umzingelt. 8000 - nicht besonders viele, könnte man denken. Doch Island hat nur rund 300.000 Einwohner, und protestiert wird auch in anderen Städten. Die Bürger fühlen sich im Stich gelassen und verraten.

    "Wollt ihr, dass die Chefs der Zentralbank zurücktreten? Wollt ihr, dass die Regierung zurücktritt? Wollt ihr Neuwahlen? Wollt ihr, dass diese Clique verschwindet?"

    "Diese Clique" wird dafür verantwortlich gemacht, Island sehenden Auges in den finanziellen Abgrund gesteuert zu haben. Ein paar Dutzend Politiker, Banker, Investoren, Meinungsmacher. Business-Wikinger werden sie genannt. Sie sorgten zwar für Wohlstand und Sorglosigkeit, doch viel zu viel davon basierte nur auf Pump und Größenwahn.

    "Wir haben genug davon. Island wird beherrscht von diesen Cliquen. Das ist ein Freund von mir, mit dem kannst du Geschäfte machen. So ist es immer gelaufen: Korruption, Politiker und ihre Freunde. Wir wollen das nicht mehr."

    Hördur Torfason steht von Beginn an der Spitze der Protestbewegung. Als es Anfang Oktober plötzlich heißt, Island sei pleite, als die Banken und die Börse schließen, und kein Geld mehr abgehoben werden kann, als am 6. Oktober der damalige Premierminister Geir Haarde in einer Fernsehansprache sagt, "Gott schütze Island", und am nächsten Tag ausländische Journalisten ins Land strömen, organisiert Torfason die ersten Demonstrationen.

    "In der ersten Woche waren wir nur fünf oder zehn. Aber dann kamen 500, dann 1000. Und jetzt sind wir mehrere 1000 Leute."

    Das reiche und stolze Island ist plötzlich das erste und prominenteste Opfer der internationalen Finanzkrise. Die drei großen Banken Glitnir, Landsbanki und Kaupthing stehen vor der Zahlungsunfähigkeit und müssen innerhalb von zwei Tagen verstaatlicht werden. Ihre Auslandsschulden seien zehnmal größer als das Bruttoinlandsprodukt, heißt es. Sie hatten in den letzten Jahren versucht, zu Global Playern aufzusteigen, hatte sich in Hotelketten, Fußballclubs und Vergnügungsparks eingekauft und überall in Europa Filialen eröffnet, in denen sie mit hoch verzinsten Tagesgeldkonten warben.

    In Großbritannien hatten auch Stadtverwaltungen, die Londoner U-Bahn, sogar Scotland Yard viel Geld bei Islands Banken angelegt. Die britische Regierung wendet das Anti-Terror-Gesetz an, um isländisches Vermögen im Land einzufrieren und zu verwalten. Island gilt jetzt formal als Staatsfeind.

    Die Währung Krone stürzt endgültig ab. Ein Euro war in guten Zeiten 80 Kronen wert. In diesen Tagen steht der Wechselkurs bei eins zu 250. Die ersten polnischen Gastarbeiter kehren nach Hause zurück.

    "Die Polen verlassen das Land, lasst uns mit ihnen mitgehen." Der 35-jährige Barkeeper Villi nimmt es mit Galgenhumor. Die Polen sind ein Indiz für Islands Wohlstand. Für die Jobs, die die Isländer nicht mehr machen wollten - als Bauarbeiter, in der Aluminiumfabrik oder in der Fischverarbeitung schuften - wurde im Ausland geworben. Es kamen so viele Polen auf die Insel, dass sie bis heute die größte Einwanderergruppe stellen.

    In den letzten Jahren hatten viele Isländer ziemlich sorglos konsumiert, auf Pump gelebt. Die Währung Krone war stark und die Banken motivierten dazu, Kredite aufzunehmen. Es war wie ein Rausch, sagt Villi, alles schien möglich.

    "Häuser, Wohnungen, Autos. Jeder meinte, wir sind ein reiches Land. Ich brauch ein zweites Auto, vielleicht sogar ein drittes. Ich will ein größeres Haus und ein Wochenendhaus und solche Sachen."

    Also sind die Bürger mitschuldig an der Krise? Gewiss, sagt der 33-jährige Oskar - zumindest leichtsinnig seien sie gewesen.

    "Das Problem sind nicht nur die Banken und die Regierung. Sehr viele Leute, die jetzt demonstrieren gehen, haben ebenso über ihre Verhältnisse gelebt und sind ein Teil des Problems."

    Nein, sagt der Mitorganisator der Proteste, Hördur Torfason. So einfach sei es nicht.

    "Du kannst die Schuld nicht dem Volk geben. Wir haben diese Leute gewählt, um unser Land zu regieren. Jeder muss seine Arbeit machen, die Politiker ihre und wir unsere. Du kannst nicht die ganze Nation verantwortlich machen, das ist nicht fair."

    Ab Mitte Oktober versammeln sich jeden Samstag immer mehr Isländer vor dem Parlament in Reykjavik, um friedlich zu demonstrieren: mit Schildern und Plakaten, sogar der Nationalchor tritt auf.

    Die Wut der Bürger richtet sich hauptsächlich gegen die "Sjálfstæðisflokkurinn" - die konservative Unabhängigkeitspartei. Die Unabhängigkeitspartei regiert in Island - mit wechselnden Partnern - seit 18 Jahren. Die letzte Wahl war erst 2007. Seitdem gibt es ein Bündnis mit "Samfylkingin", den Sozialdemokraten. Die stehen allerdings nicht so sehr in der Kritik, betont der Sprachwissenschaftler Eirikur Olafsson.

    "Als die Sozialdemokraten in die Regierung eingestiegen sind vor zwei Jahren, war das Unheil schon unterwegs. Also das hatte schon angefangen. Und die waren zwei Jahre in der Regierung gewesen und keine 18 Jahre."

    Die Bürger verlangen Antworten - und bekommen sie nicht. Was ist hier in den letzten Jahren schiefgelaufen, fragt Salvor, eine Verkäuferin. Auch sie demonstriert. Wo ist das ganze Geld geblieben?

    "Private Altersvorsorge, Rentenfonds, das ist etwas, was du einfach brauchst. Sie haben mit dem Geld, das wir ihnen für unsere Altersvorsorge anvertraut haben, einfach irgendwelche ausländischen Unternehmen erworben, ohne uns das zu erzählen. Darüber sind wir sehr wütend."

    Mitte November gewährt der Internationale Währungsfonds IWF Island einen Kredit über zehn Milliarden Euro. Der Staatsbankrott ist damit abgewendet - gute Nachrichten hören sich allerdings anders an.

    "Ich habe gehört, pro Kopf hat jetzt jeder Isländer 24 Millionen Kronen Schulden - vom Baby bis zum Rentner. Die Regierung wird die Steuern erhöhen und die Fürsorge zurückfahren, um das jemals zurückzahlen zu können."

    Der Ruf nach Neuwahlen wird immer lauter, doch die Regierung und Premierminister Haarde versuchen, die Proteste auszusitzen. Die Abgeordneten verabschieden sich in lange Weihnachtsferien. Der Kurs der Krone ist weiterhin am Boden, Geschäfte machen dicht, die Baubranche meldet massenhaft Kurzarbeit an - doch das Parlament bleibt vier Wochen lang geschlossen.

    Erst am 20. Januar 2009 treffen die Volksvertreter wieder zusammen. In der ersten Sitzung geht es darum, ob Supermärkte und Tankstellen in Zukunft Alkohol verkaufen dürfen.

    Den Isländern reicht es. Zu Tausenden ziehen sie vor das Parlament. Vier Tage und Nächte dauert die Belagerung. Am 23. Januar gibt Premierminister Haarde auf. Seine Erklärung wird live in Radio und Fernsehen übertragen.

    "Bei einer Routineuntersuchung im Krankenhaus letzte Woche haben die Ärzte einen Tumor in meinem Hals entdeckt. Ich habe Krebs und muss mich im Ausland behandeln lassen. Das Amt des Parteivorsitzenden werde ich deshalb nicht weiter ausüben können. Aufgrund der anhaltenden Krawalle empfehlen meine Partei und ich, im Frühling Neuwahlen abzuhalten. Ich werde dann nicht mehr antreten."

    Die Große Koalition zerbricht, doch die Sozialdemokraten bleiben im Amt. Am 1. Februar 2009 bilden sie mit den Links-Grünen eine Übergangs- und Minderheitsregierung. Neue Premierministerin wird die bisherige Sozialministerin Jóhanna Sigurdardóttir.

    Die meisten Isländer sind über ihre neue Regierungschefin Jóhanna Sigurdardóttir froh und finden nur gute Worte: Heilige Johanna - nicht korrupt - immer gute Arbeit gemacht - sie weiß, was sie tut.

    Die 66-Jährige mit dem schneeweißen Haar ist schon seit 30 Jahren Politikerin - aber in den Vordergrund hat sie sich nie gedrängt und ist ihrer Einstellung immer treu geblieben. Genau das rechnen ihr die Bürger jetzt hoch an, meint der isländische Radiomoderator Hjálmar Sveinsson.

    "Vor einem Jahr, da hieß es, solche alten Politiker, die so sozialistisch eingestellt sind und nur über die Armen sprechen und so - wir brauchen die nicht mehr. Der Kapitalismus wird uns helfen, der wird alle reich machen. Wir brauchen diesen Typ von Politiker nicht mehr. Und sie war mehr oder weniger vergessen. Aber bei solchen Katastrophen denken die Leute wieder an Politiker, die etwas mehr soziale Verantwortung haben."

    Das wichtigste Ziel sei es, erklärt Johanna Sigurdardóttir auf ihrer ersten Pressekonferenz, die schlimmsten Folgen der Finanzkrise zu bewältigen und abzumildern.

    "Die Situation ist enorm schwierig und wir haben keine Zeit zu verlieren. Unsere Koalition will die dringendsten Probleme angehen. Wir wollen vor allem dafür sorgen, dass nicht noch mehr Menschen ihre Häuser verlieren, wir müssen die Wirtschaft stabilisieren und Arbeitsplätze sichern und das Bankenwesen wiederaufbauen. Dabei wollen wir umsichtig und ehrlich handeln und das Vertrauen in die Demokratie wiederherstellen."

    Kontrovers diskutiert wird in Island seit der Regenbogenrevolution, wie die Bürger die politische Wende nennen, ein Beitritt zur EU. Pro oder contra Europäische Union - das ist ein wichtiges Wahlkampfthema. Auch die rot-grüne Übergangsregierung ist sich in dieser Frage nicht einig. Nation und Parteien seien gespalten, äußert der Sprachwissenschaftler Eirikur Olafsson.

    "Ja, Island ist eine merkwürdige Gesellschaft. Es ist sehr schwer, die Gegner und die Befürworter in Lager zu teilen. Es gibt vor allem die Meinungsmacher. Es gibt vor allem diese Angst, dass Island die Ressourcen verlieren könnte an die angeblich nichts verstehende, nichts wissende EU. Das sagen die Gegner. Stichhaltige Argumente für diese These haben die nicht."

    Wichtige Ressourcen sind die Fischgründe im Nordatlantik, die die Insel nicht mehr mit anderen Ländern teilen will. Für seine 200-Seemeilen-Exklusivzone hat Island lange gekämpft und in den 60er- und 70er-Jahren beinahe einen Krieg mit Großbritannien geführt. Obwohl die Rechte und Fangquoten einigen wenigen, reichen Unternehmern und Familien gehören, ist die Fischerei ein hoch emotionales Thema.

    "The European Union has destroyed the fishing-stocks. On their own. So we don't want them to destroy also our own fishing-stocks","

    findet Stéfan, der zwar an den Anti-Regierungs-Protesten teilgenommen hat, aber trotzdem dagegen ist, dass Island sich der EU anschließt. Er will deshalb die Links-Grünen wählen. Die verhalten sich EU-skeptisch, ebenso wie die konservative Unabhängigkeitspartei und die rechtsliberale Fortschrittspartei. Die Links-Grünen machen sich stark für nachhaltige und dezentrale Lösungsansätze, um der Krise zu begegnen, während Fortschritts- und Unabhängigkeitspartei in den letzten Jahren Baugenehmigungen für riesige Wasserkraftwerke und Aluminiumfabriken ausländischer Investoren erteilt hatten, durch die viel Kapital ins Land kam - aber auch ein Teil von Islands einzigartiger Naturlandschaft zerstört wurde.

    ""Und was halt die Linken-Grünen glaubhafter macht als alle anderen Parteien, ist die Tatsache dass sie die einzige von vier großen Parteien sind, die niemals in der Regierung gewesen ist und sich immer vehement gegen die bislang betriebene Politik zur Wehr gesetzt hat. Und das ist ja auch ein Grund, warum diese Partei entweder die größte oder die zweitgrößte Partei in den Meinungsumfragen ist. Die Partei wirkt relativ integer."

    Die Unabhängigkeitspartei, traditionell die stärkste Partei in Island, dürfte laut Meinungsumfragen bei der Wahl nur auf Platz drei landen - etwa 25 Prozent der Isländer wollen für sie stimmen. Die Krise und die Proteste haben die Partei gespalten. Inzwischen haben Ermittler für Wirtschaftsverbrechen aus dem Ausland ihre Arbeit aufgenommen - zur Rechenschaft gezogen für die Finanzskandale wurde aber noch niemand. Stattdessen ist vor wenigen Tagen ein neuer Skandal bekannt geworden. Die alten Business-Wikinger, glaubt Eirikur Olafsson, würden mit allen Mittel dafür kämpfen, ihr Netzwerk zu erhalten.

    "Es ist nachgewiesen worden, dass die bis zu 83 Millionen Kronen von den größten Banken und den größten Firmen in Island angenommen hat. Jetzt ist die Frage, bleibt die Frage, was wollten die Firmen beziehungsweise Banken für diese Unterstützung haben?"

    Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardottir sind die einzige Partei, die schon seit Jahren Europa-Kurs steuert.

    Sie werden die Parlamentswahl vermutlich gewinnen und wollen die Zusammenarbeit mit den Links-Grünen fortsetzen. Vereinbart haben die beiden Parteien auch, dass die Bürger über das sensible Thema EU-Beitritt dann in einem landesweiten Referendum entscheiden sollen.

    Es lockt der stabilere Euro, aber es droht der Verlust der absoluten Unabhängigkeit. Mittelfristig müssen wir uns entscheiden, ob wir stolz oder vernünftig sein wollen, sinniert die Isländerin Sigrun in einem Café.

    "Es ist eine schwere Entscheidung, aber wir müssen uns unbedingt anderen Ländern anschließen. Unsere Währung und unsere Wirtschaft waren schon immer zu klein für unser Land. Wir sind so klein. Wir sind doch nicht einmal eine Großstadt, wir sind nur 300.000 Leute. Was glauben wir, wer wir sind?"