Haben wir Menschen eine wie auch immer legitimierte Sonderstellung, die uns heraushebt aus der belebten Natur? Gibt es eine übergeordnete Logik der Geschichte, die – wie Hegel und Marx behaupten – in Richtung Emanzipation strebt? Wird der Humanismus, basierend auf einer mehr als 2000-jährigen Philosophiegeschichte, den ethisch-moralischen Problemen globaler Gesellschaften gerecht? Nein, schreibt der britische Sozialphilosoph John Grey in seiner knapp 250 Seiten langen Analyse "Von Menschen und anderen Tieren", nein, weder sind Menschen "auserwählt", noch können sie ihr Schicksal selbst bestimmen. Der Fortschrittsglaube, Grundbestandteil des Humanismus wie des Christentums, ist ein Irrweg. Ausschließlich Schicksal und Zufall bestimmen die Geschicke des Menschen. Und um seine Leser auf die trostlose Situation einzustimmen, zitiert er noch vor der Inhaltsangabe den chinesischen Philosophen Laotse.
Himmel und Erde sind nicht gütig.
Ihnen sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.
"Straw Dogs", – so lautet der Originaltitel von Grays Ideologiekritik, die mit furiosen Rundumschlägen alles niederstreckt, was im Wege steht: den Glauben an das Gute im Menschen, die Ideen von Fortschritt und Humanismus, ja, schon der Gedanke, der Mensch sei etwas anderes als ein Tier, widerstrebt dem Autor zutiefst.
Um zu erkennen, dass wir den Tieren zuzurechnen sind, müssen wir nicht Darwin bemühen. Ein Blick darauf, wie wir leben, führt uns zum selben Schluss. Weil aber die Wissenschaft in unseren Tagen über eine Autorität verfügt, gegen die unsere Alltagserfahrung nicht ankommt, dürfte der Hinweis angebracht sein, dass die verschiedenen Spezies nur Gruppierungen von Genen sind, die plan- und ziellos miteinander und mit ihren Umwelten interagieren, die sich ständig verändern. Eine Spezies kann daher keine Kontrolle über ihr Schicksal ausüben. Das gilt auch für den Menschen, gerät aber aus dem Blick, wann immer vom 'Fortschritt der Menschheit' die Rede ist.
Wohin John Gray auch schaut, von gesellschaftlichem Fortschritt – vor allem von systematisch erarbeitetem – keine Spur. Und zwar auch dort nicht, wo ihn Intellektuelle regelmäßig sehen: in der Abschaffung der Sklaverei, der Ächtung von Folter und Kinderarbeit, den Menschenrechten, der Frauenbewegung. Das seien, widerspricht Gray, Fortschritte, die rasch wieder verschwinden können. Arbeiten Juristen nicht mittlerweile an Begründungen, Folter bis zu einem gewissen Grad zur Bekämpfung von Terroristen einzusetzen? Leben die Menschen vor allem in westlichen Ländern nicht auch deshalb in relativem Wohlstand, weil die Menschen armer Länder dauerhaft in relativer Sklaverei dahinvegetieren? Humanistisches Denken – für Gray nichts weiter als ein gefährlicher Aberglaube – verdeckt die Realität menschlichen Handelns.
Hobbes wurde für seine Feststellung im Leviathan gescholten, dass im Krieg Gewalt und Betrug Tugenden sind. Bernard Mandevilles Bienenfabel lehrt uns, dass der Motor des Wohlstandes das Laster in Gestalt von Gier, Eitelkeit und Neid ist. Diese Denker bringen eine verbotene Wahrheit ans Licht: Ob jemand ein gutes Leben führt, hat mit Sittlichkeit sehr wenig zu tun. Wirklich entfalten kann sich nur, wer auch unmoralisch handelt.
Vor dem Hintergrund der Weltfinanzkrise, die viele Arme noch ärmer gemacht hat, und viele Reiche – Bankmanager zum Beispiel – auf Kosten der Steuerzahler noch reicher, mag das zynisch klingen, aber entspricht es nicht der Realität? Ja, es entspricht es der Realität – leider. Aber reicht das aus, humanistisches Denken in Grund und Boden zu kritisieren? Wer wild um sich schlägt, trifft auch manches Erhaltenswerte. Da hilft auch nicht massenhaftes Zitieren anderer Autoren, mit denen Gray seine Thesen untermauert.
Ein Viertel des menschlichen Elends, schrieb Thomas de Quincey im frühen 19. Jahrhundert, bestehe aus Zahnschmerzen. Damit könnte er durchaus recht gehabt haben. Der Einsatz von Betäubungsmitteln bei Zahnbehandlungen ist ein unbestreitbarer Segen. Dasselbe gilt für sauberes Wasser und das Spülklosett. Dieser Fortschritt ist ein Faktum. Dennoch ist der Glaube an die Idee des Fortschritts ein Aberglaube. Die Wissenschaft ermöglicht dem Menschen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Aber sie verändert die Bedürfnisse ganz und gar nicht. Wissen macht Fortschritte, die Ethik aber nicht.
"Von Menschen und anderen Tieren – Abschied vom Humanismus" ist ein problematisches Buch. Weniger, weil seine Thesen grundsätzlich falsch sind – ob der Humanismus gesellschaftspolitisch der letzte Schluss ist, bezweifelt ja nicht erst John Gray – es ist eher die brachiale Art der Argumentation, die Widerspruch erregt. Gray macht einen radikalen Parforceritt durch die Geistesgeschichte, ebenso provokant wie facettenreich. Dummerweise ist der Text in sich aber nicht immer schlüssig. Darwin etwa als Zeugen für die These zu berufen, die unterschiedlichen Spezies – also auch wir Menschen – seien nichts weiter als das Ergebnis "plan- und ziellos miteinander und mit ihren Umwelten" interagierender Gene, belegt vor allem, dass der Autor Darwin nicht gelesen hat. Im besten Fall hat Gray eine Streitschrift vorgelegt, die im Streit stecken bleibt. Seine letzten Sätze vermitteln eher den Eindruck eines Resignierten.
Andere Tiere brauchen kein Lebensziel. Das Tier Mensch kommt, da es im Widerstreit mit dem eigenen Wesen lebt, nicht ohne ein solches Ziel aus. Könnte es nicht darin bestehen, einfach zu sehen, was ist?
John Gray: "Von Menschen und anderen Tieren". Abschied vom Humanismus. Vorgelegt bei Klett-Cotta, 245 Seiten kosten 19 Euro 90, ISBN: 978-3-60894-610-9.
Himmel und Erde sind nicht gütig.
Ihnen sind die Menschen wie stroherne Opferhunde.
"Straw Dogs", – so lautet der Originaltitel von Grays Ideologiekritik, die mit furiosen Rundumschlägen alles niederstreckt, was im Wege steht: den Glauben an das Gute im Menschen, die Ideen von Fortschritt und Humanismus, ja, schon der Gedanke, der Mensch sei etwas anderes als ein Tier, widerstrebt dem Autor zutiefst.
Um zu erkennen, dass wir den Tieren zuzurechnen sind, müssen wir nicht Darwin bemühen. Ein Blick darauf, wie wir leben, führt uns zum selben Schluss. Weil aber die Wissenschaft in unseren Tagen über eine Autorität verfügt, gegen die unsere Alltagserfahrung nicht ankommt, dürfte der Hinweis angebracht sein, dass die verschiedenen Spezies nur Gruppierungen von Genen sind, die plan- und ziellos miteinander und mit ihren Umwelten interagieren, die sich ständig verändern. Eine Spezies kann daher keine Kontrolle über ihr Schicksal ausüben. Das gilt auch für den Menschen, gerät aber aus dem Blick, wann immer vom 'Fortschritt der Menschheit' die Rede ist.
Wohin John Gray auch schaut, von gesellschaftlichem Fortschritt – vor allem von systematisch erarbeitetem – keine Spur. Und zwar auch dort nicht, wo ihn Intellektuelle regelmäßig sehen: in der Abschaffung der Sklaverei, der Ächtung von Folter und Kinderarbeit, den Menschenrechten, der Frauenbewegung. Das seien, widerspricht Gray, Fortschritte, die rasch wieder verschwinden können. Arbeiten Juristen nicht mittlerweile an Begründungen, Folter bis zu einem gewissen Grad zur Bekämpfung von Terroristen einzusetzen? Leben die Menschen vor allem in westlichen Ländern nicht auch deshalb in relativem Wohlstand, weil die Menschen armer Länder dauerhaft in relativer Sklaverei dahinvegetieren? Humanistisches Denken – für Gray nichts weiter als ein gefährlicher Aberglaube – verdeckt die Realität menschlichen Handelns.
Hobbes wurde für seine Feststellung im Leviathan gescholten, dass im Krieg Gewalt und Betrug Tugenden sind. Bernard Mandevilles Bienenfabel lehrt uns, dass der Motor des Wohlstandes das Laster in Gestalt von Gier, Eitelkeit und Neid ist. Diese Denker bringen eine verbotene Wahrheit ans Licht: Ob jemand ein gutes Leben führt, hat mit Sittlichkeit sehr wenig zu tun. Wirklich entfalten kann sich nur, wer auch unmoralisch handelt.
Vor dem Hintergrund der Weltfinanzkrise, die viele Arme noch ärmer gemacht hat, und viele Reiche – Bankmanager zum Beispiel – auf Kosten der Steuerzahler noch reicher, mag das zynisch klingen, aber entspricht es nicht der Realität? Ja, es entspricht es der Realität – leider. Aber reicht das aus, humanistisches Denken in Grund und Boden zu kritisieren? Wer wild um sich schlägt, trifft auch manches Erhaltenswerte. Da hilft auch nicht massenhaftes Zitieren anderer Autoren, mit denen Gray seine Thesen untermauert.
Ein Viertel des menschlichen Elends, schrieb Thomas de Quincey im frühen 19. Jahrhundert, bestehe aus Zahnschmerzen. Damit könnte er durchaus recht gehabt haben. Der Einsatz von Betäubungsmitteln bei Zahnbehandlungen ist ein unbestreitbarer Segen. Dasselbe gilt für sauberes Wasser und das Spülklosett. Dieser Fortschritt ist ein Faktum. Dennoch ist der Glaube an die Idee des Fortschritts ein Aberglaube. Die Wissenschaft ermöglicht dem Menschen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Aber sie verändert die Bedürfnisse ganz und gar nicht. Wissen macht Fortschritte, die Ethik aber nicht.
"Von Menschen und anderen Tieren – Abschied vom Humanismus" ist ein problematisches Buch. Weniger, weil seine Thesen grundsätzlich falsch sind – ob der Humanismus gesellschaftspolitisch der letzte Schluss ist, bezweifelt ja nicht erst John Gray – es ist eher die brachiale Art der Argumentation, die Widerspruch erregt. Gray macht einen radikalen Parforceritt durch die Geistesgeschichte, ebenso provokant wie facettenreich. Dummerweise ist der Text in sich aber nicht immer schlüssig. Darwin etwa als Zeugen für die These zu berufen, die unterschiedlichen Spezies – also auch wir Menschen – seien nichts weiter als das Ergebnis "plan- und ziellos miteinander und mit ihren Umwelten" interagierender Gene, belegt vor allem, dass der Autor Darwin nicht gelesen hat. Im besten Fall hat Gray eine Streitschrift vorgelegt, die im Streit stecken bleibt. Seine letzten Sätze vermitteln eher den Eindruck eines Resignierten.
Andere Tiere brauchen kein Lebensziel. Das Tier Mensch kommt, da es im Widerstreit mit dem eigenen Wesen lebt, nicht ohne ein solches Ziel aus. Könnte es nicht darin bestehen, einfach zu sehen, was ist?
John Gray: "Von Menschen und anderen Tieren". Abschied vom Humanismus. Vorgelegt bei Klett-Cotta, 245 Seiten kosten 19 Euro 90, ISBN: 978-3-60894-610-9.