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Abrechnung mit Stalin

Der englische Schriftsteller Martin Amis hat sich durch seine gnadenlosen Abrechnung mit der Stalin-Treue der britischen Linken viele Feinde gemacht. In seinem Essay "Koba der Schreckliche - die zwanzig Millionen und das Gelächter" sind Ansätze davon zu finden gewesen. Offenkundig war dieses Buch die Vorbereitung auf seinem Roman "Haus der Begegnungen".

Von Johannes Kaiser | 27.05.2009
    "Ich möchte den möglichen Lesern meiner Bücher sagen, dass ihnen mit meinen Sachen vermutlich eine verstörende Zeit bevorsteht, aber meine Intention ist doch sehr stark, den Leser aufzuklären, zu erleuchten, nicht nur zu instruieren. Beim Lesen geht es letztlich um mehr als nur Ideen, Figuren und Situationen oder Prosa und Stil. Wenn man liest, begleitet man den Schriftsteller. Jeder Leser macht sich ein eigenes Bild seiner Figuren und interpretiert deren Gefühle anders. Und das ist ein osmotischer Prozess: Der Schriftsteller braucht den Leser, um den Kreis zu schließen, denn eine Geschichte ist nichts ohne Zuhörer. Sie existiert nicht ohne den Leser."
    Der 59-jährige britische Schriftsteller Martin Amis hat es seinen Lesern allerdings nie leicht gemacht, ihm zu folgen. Dazu waren alle seine Romane bislang zu sperrig, zu wüst, zu wild. Das gilt auch für sein jüngstes Buch "Haus der Begegnungen". Im Mittelpunkt steht erneut das gnadenlose, unbarmherzige, allumfassende System des stalinistischen Terrors und zwar in den Lagern. Da kann man nicht viel erfinden. Die Fakten sind spätestens seit den Gulag-Romanen Alexander Solschenizyns und Wassilij Grossmanns bekannt.

    Der Ich-Erzähler, von dem wir nie einen Namen erfahren, ist ein Russe, der in den 90er-Jahren in die USA auswanderte und dort zu Wohlstand kam. 2004 kehrt er inzwischen 86-jährig im Rahmen einer Reise in sein ehemaliges Lager in Sibirien zurück, weil er sich endlich seiner Vergangenheit stellen will. Seinen Bericht richtet er an seine Tochter Venus:

    Du hast mich immer gefragt, warum ich nie "offen" sein konnte, warum es mir so schwer gefallen ist, das alles "rauszulassen" und "loszuwerden" und was sonst noch. Nun, mit der Vergangenheit, wie sie hinter mir liegt, besteht der Lebensinhalt hauptsächlich aus den Pausen, in denen man nicht daran denkt - und erst recht nicht darüber spricht. Es gab aber auch ein nicht so offensichtliches Hindernis: die ziemlich neurotische Angst, dass du mir nicht glauben würdest. Dass Du Dich von mir abwenden ... und langsam Deinen gesenkten Kopf schütteln würdest.
    Es folgt das 200 Seiten lange Geständnis einer unglücklichen Liebe. Zoya, die Frau, die er begehrte, erhörte aber nicht ihn, sondern seinen Bruder, einen Dichter und Träumer. Das verzeiht er ihm nie. Allerdings hat der Erzähler vorerst keinerlei Möglichkeit, Zoya für sich zu gewinnen. Gerade aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause zurückgekommen, wird er schon zwei Jahre später als feindliches Element nach Sibirien geschickt. Bald darauf wird auch sein Bruder verhaftet und in dasselbe Lager gesteckt. Dort erfährt der Erzähler von der Heirat:

    Ich flüsterte es: Lew und Zoya haben geheiratet. Wenn ich das überlebe, denn sterbe ich niemals.

    Nein, Bruder, du stirbst niemals.

    Ich stieß einen heldenhaften Seufzer aus und fügte mit klarer Stimme hinzu: Und du kannst das überleben. Und jetzt musst du gehen.


    Zuneigung und Hass, Bruderliebe und Neid - der Erzähler ist mehrfach versucht, seinen Bruder fallen zu lassen, weil der sich von den Lagerverhältnissen nicht korrumpieren lassen will und so vielen Angriffen der Lagermafiosi ausgesetzt ist. Der Erzähler schützt ihn letztlich doch, auch wenn er sich selbst dabei die Hände schmutzig macht, zum Mörder wird.

    Als Stalin tot ist, lockert sich das Lagerregime. Den Frauen der Gefangenen wird erlaubt, sie für einen Tag zu besuchen und zwar im Haus der Begegnungen - eine Gunst des Regimes, die nur sehr selten gewährt wurde. Eben dieses Treffen gibt dem Roman seinen Namen und Martin Amis wird erst ganz am Ende der Geschichte aufdecken, warum dieser Tag das Leben aller Beteiligten bestimmt hat. Auch wenn die beiden Brüder den Gulag überleben, nach neun Jahren Ende 1956 im Gefolge von Chruschtschows Abrechnung mit Stalins Regime entlassen werden, nichts ist mehr wie es vorher war. Der Bruder stirbt als ein an sich selbst verzweifelter Mann:

    Ich brachte jetzt, wenn er stotterte, seine Sätze für ihn zu Ende ... Er störte sich nicht mehr daran, weil er nicht mehr kämpfte. Lew hatte bedingungslos kapituliert. Wenn er jetzt in einer Suppenküche in Kasan den Kopf weit nach hinten legte, dann tat er das nicht, um Bürgerkrieg mit dem Ich zu führen - alles in die Waagschale zu werfen. Sondern in einer widerstrebenden Unterwerfung unter Zoyas Forderung, ein Stück Gemüse zu essen ... Eines Abends erzählt er mir nach reichlich Wodka, er habe aufgehört zu lesen ... 'Wenn es schlecht ist, gefällt es mir nicht', fuhr er leiser vor. 'Und wenn es gut ist, hasse ich es.'

    Bald darauf trennt sich der Bruder von Zoya. Doch selbst jetzt hat der Erzähler keine Chance, sie für sich zu gewinnen. Zoya ertränkt ihren Kummer in Alkohol, begeht Selbstmord.

    Immer wieder erinnert sich der Erzähler an Ereignisse aus dem Lagerleben, an die brutalen Machtkämpfe der Kriminellen mit den Politischen, an die Verrohung der Menschen, die permanenten Demütigungen, die mörderischen Arbeitsverhältnisse, die Strafen, den Hunger, den Schmutz, die Entmenschlichung der Häftlinge.

    Von allen Seiten vernahm ich jetzt ein schwaches, aber einheitliches Schlürfen und Schmatzen. Wenn man nicht wüsste, was es ist, könnte man es für ein entmutigend schlüpfriges Geräusch halten. Aber ich wusste es. Es war das Geräusch von dreihundert Männern, die im Schlaf aßen.
    Eindrückliche Bilder und doch fragt man sich, warum ein englischen Schriftsteller sich so intensiv, geradezu verbissen mit Stalins Terrorregime, mit dem Gulag auseinandersetzt, ohne selbst auch nur einen einzigen Fuß in die Lager gesetzt zu haben. Natürlich gilt für Martin Amis wie für alle Schriftsteller, dass sie die Dinge, über die sie schreiben, nicht selbst erlebt haben müssen, um sie realistisch wiedergeben zu können. Dennoch wirkt befremdlich, dass sich der Autor strikt geweigert hat, irgendetwas davon mit eigenen Augen zu sehen, sich folglich nur auf Berichte anderer stützt. In einem Interview begründete er das so:

    "Ich hätte durchaus die Gelegenheit gehabt, Russland während der Arbeit an "Haus der Begegnungen" zu bereisen, hatte aber Angst, mit zu vielen Eindrücken zurückzukehren. Ich wollte mit dem Roman etwas Reineres schreiben, etwas Vergeistigteres, das in erster Linie ein Produkt der Vorstellung ist."
    Ob Lagerbaracken oder Landschaftsbeschreibungen, Moskauer Wohnungen oder Provinzstädtchen - alles ist erfunden. Man ist von der Detailtreue des Romans fasziniert und fragt sich doch zugleich, wieweit man den Beschreibungen trauen darf.
    An Vorstellungskraft hat es Martin Amis nie gefehlt und so gelingt es ihm auch, die unglaubliche, eigentlich nicht fassbare Bösartigkeit des Lagersystems vor den Augen des Lesers auferstehen zu lassen. Weniger verständlich wird, warum seine beiden Hauptakteure, der Bruder Lew, der nicht mit den Wölfen heulen will, und der Erzähler selbst die Lagerzeit überleben, während hunderttausend andere sterben.

    Martin Amis verknüpft zudem den Terror der Stalinära mit dem Terrorismus unserer Tage. In den Tagen, in denen der Ich-Erzähler sein ehemaliges Lager besucht, wird die Schule in Beslan von tschetschenischen Terroristen gestürmt, hunderte Kinder und Frauen als Geiseln genommen. Russland schlägt zurück und richtet ein Blutbad an, in dem die Geiseln wie auch die Terroristen sterben. Für den Ich-Erzähler ein weiteres Beispiel für die Unmenschlichkeit des russischen Staates. Gleich zu Beginn des Buches ist der Tonfall klar:

    Wenn man sich mit dem Fall Russland befasst, bemerkt man die Regungen einer gewaltigen Macht, einer Macht, die nicht nur blind, sondern ohne alle Empfindung ist - wie ein Erdbeben oder eine Flutwelle. So etwas hat es nie zuvor gegeben.
    Martin Amis Buch ist ein bedrückendes Psychogramm einer Gesellschaft gelungen, in der der Einzelne nichts zählt. Sympathie weckt keine der Figuren. Sie sind alle verlorene Seelen. Ein bedrückender Roman, der einem keine Erholung gönnt. Wer wissen will, warum Russlands Demokratie auf so schwachen Füssen steht, hier findet sich eine Erklärung. Und Martin Amis legt seinem Erzähler als einzige zynische Hoffnung in den Mund, dass die Todesrate in Russland die Geburtenrate inzwischen übersteigt. So lautet sein letzter Satz:

    Russland stirbt. Und ich bin froh.´

    Martin Amis: "Haus der Begegnungen"
    Übers. Werner Schmitz, Hanser Verlag 2008, 239 Seiten, 19.90 Euro