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Abriss für ein neues Leben

Es war eine Herausforderung und der sichere Weg in eine urbane Krise. Als es nach dem 2. Weltkrieg viele Franzosen vom Land in die großen Städte zog, als in den 60er Jahren viele Zuzügler aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika dort ihre neue Heimat suchten, da stießen Frankreichs Großstädte schnell an ihre Grenzen. Besonders die Hauptstadt Paris. Es musste schnell gehandelt werden. Um die Millonenstadt zu entlasten, wurde eine neue Region geschaffen. Die "region parisienne", die sich nun in einem Umkreis von 70 bis 90 Kilometern um die Hauptstadt herumlegt. Es entstand das Konzept der entlegenen "villes nouvelles" und "cités". Aus dem Nichts wurden Satelittenstädte aus dem Boden gestampft, die für Zigtausende neuen Wohnraum schaffen sollten, aber auch Distanz zum alten Stadtzentrum. Doch was als moderner sozialer Wohnungsbau gedacht war, verkam mit der Zeit zu trostlosen Ghettos und urbanen Problemgebieten.

Von Bettina Kaps |
    Verwahrlosung, hohe Arbeitslosigkeit, Gewaltkriminalität und Drogen kennzeichnen heute viele Wohnviertel im Einzugsgebiet der französischen Großstädte in denen vor allem die Zuwanderer aus den ehemaligen Kolonien leben. Eines davon liegt am Rand von Aulnay-sous-Bois, zehn Kilometer nördlich von Paris. Aulnay ist eine Stadt von 80.000 Einwohnern. Ende der 60er Jahre wurden im Norden von Aulnay in Rekordzeit Wohnblöcke und Hochhäuser aus dem Boden gestampft. "La rose des Vents" – "die Windrose" – so der offizielle Name des Viertels. "Les trois milles" – "die 3000", heißt es im Volksmund in Anspielung auf die Anzahl der Wohnungen in dieser Steinwüste. Die soll nun ein neues Gesicht bekommen. Jean-Louis Borloo, der französische Arbeits- und Sozialminister, hat einen Rettungsplan für die Betonwüsten am Rande der französischen Metropolen entwickelt. Nicht mehr sanierbare Wohnblöcke sollen abgerissen werden. An ihrer Stelle sollen menschenwürdigere Siedlungen entstehen mit verbesserter Infrastruktur. In "Les 3000" soll in Kürze der erste von insgesamt 12 Türmen, ein zehnstöckiges Gebäude mit 40 Wohnungen, der Abrissbirne zum Opfer fallen. Der Eigentümer des Blocks, die Sozialwohnungsbaugesellschaft "Le logement francais", hat zwei Frauen eingestellt, die den Umzug aller Mieter in andere Wohnungen der Gesellschaft organisieren. Die meisten Mieter ziehen innerhalb des Viertels um.

    Wieder einmal ist der Aufzug kaputt. Diesmal war ein Brand die Ursache. Irgendjemand hat den Motorroller angesteckt, der immer in der Eingangshalle abgestellt war. Wände und Decken sind verkohlt. Sylvie Digot und Noura Soualhia von der Sozialwohnungsbaugesellschaft "Le logement francais" gehen achtlos weiter. Zeichen der Zerstörungswut sind sie hier gewohnt. Die jungen Frauen nehmen die Treppe.

    Ich kenne sie auswendig! Ich weiß sogar, wie viele Stufen es in diesem Turm gibt. Sie sind niedrig und lassen sich leicht hoch steigen. Dafür sind die Wände schrecklich: Überall Graffitis, die einem Angst einflößen können. Totenköpfe. Beleidigungen. Drohungen. Ziemlich unangenehm, das zu sehen und zu lesen…

    Je höher sie steigen, desto schmutziger wird es: Sylvie und Noura umrunden Fast-Food-Schachteln, weichen verschmiertem Ketchup aus. Es stinkt nach Urin. Die Tür vom Zählerkasten ist aufgebrochen. Drinnen liegt eine Spritze. Von den Mietern weiß Sylvie, dass sich nachts im Treppenhaus junge Leute treffen. 40 Mietparteien, rund 200 Menschen haben unter dem Treiben der jugendlichen Banden gelitten. Jetzt wohnen nur noch acht Familien hier. In zwei Monaten werden auch sie umziehen

    Sylvie Digot schaut auf ihren Block, überprüft, wer diese Woche an der Reihe ist. Said und Djamila Lechael wohnen im 5. Stock.

    Die Vermittlerinnen für den Umzug sind da, Madame Lechael. Hat man Ihnen die Umzugskartons geliefert? Was den Strom betrifft: machen Sie sich da keine Sorgen. Wir kümmern uns darum, dass er abgestellt wird. Sie brauchen nichts zu unternehmen.

    Djamila Lechael zeigt ins Wohnzimmer: Da steht ihr Mann und packt. Die Umzugskartons stapeln sich bis fast unter die Decke.

    Ich bin ein bisschen wehmütig. Seit Dezember 1992 habe ich hier gelebt, da entwickelt man seine Gewohnheiten. Meine Nachbarin war eine gute Freundin. Wenn das Hochhaus nicht abgerissen würde, wäre ich hier geblieben. Im Frühjahr habe ich noch renoviert, die Küche gekachelt und den Flur tapeziert. Mein Mann sagte: sie werden alles abreißen, warum tapezierst du noch? Aber ich wollte nicht ohne Tapete leben…

    Said hängt nicht an dieser Wohnung. Er möchte, dass seine vier Kinder in einer anderen Umgebung aufwachsen. Kürzlich wurden bei seinem nagelneuen Auto Reifen, Stoßstangen und Sitze gestohlen. Seitdem hat er eine Wut im Bauch.

    Die Vermittlerinnen haben der Familie eine Wohnung in der Nachbarschaft besorgt. Djamila und Said ziehen nun in einen fünfstöckigen Block, der in mehrere Wohneinheiten aufgeteilt ist. Ein Eingang wird dort nur von 10 Familien benutzt. Außerdem soll bald ein Tor mit einer Sprechanlage installiert werden – auch das eine Renovierung im Rahmen der neuen Stadtpolitik. Noura ermutigt das Ehepaar: In ihrer künftigen Siedlung lebten die Menschen nicht so anonym wie in den Hochhäusern, sagt Noura ermutigend.

    Alle Türme der Siedlung werden verschwinden, das hier ist der Erste. Die Familien, die hier leben, haben jetzt Vorrang: alle Wohnungen, die in der Siedlung frei werden, sind für sie reserviert. Als nächstes müssen wir die Bewohner von vier anderen Hochhäusern umsiedeln…

    Wir hatten befürchtet, man würde uns nie unterbringen, bei so vielen Menschen!

    Aus dem 8. Stock dringt Lärm. Es ist der Hausmeister. Drei Mal täglich kontrolliert er die Eingänge der verlassenen Wohnungen. Sie sind jetzt mit Panzertüren gesichert. Stahl und ein Sicherheitscode sollen verhindern, dass sich hier Besetzer einnisten, sagt Sylvie Digot, die die früheren Bewohner bestens kannte

    Hier lebte Madame Kanagaradscha, sie kam aus Sri Lanka, und hatte fünf Kinder.

    In der Nachbarwohnung wohnten Monsieur und Madame Mire mit ihren 6 Kindern, sie waren 25 Jahre hier.

    Der Mieter dieser Wohnung ist vor zwei Tagen ausgezogen. Gestern wurde die Sicherheitstür gesetzt, und jetzt sind die Arbeiter gekommen, um die Wohnung zu neutralisieren. Das heißt, dass die Zwischenwände, das Bad und die Toilette zerstört werden, damit sie völlig unbewohnbar wird.


    In der leer stehenden Wohnung sind gerade Männer dabei, das Waschbecken zu zertrümmern. Sylvie schaut befriedigt zu. Für sie werden hier die Probleme zerschlagen, die das Leben in diesem Hochhaus zur Hölle machen. Nur eine Viertelstunde mit dem Vorschlaghammer – und schon häuft sich im Innern der Wohnung ein Schuttberg. In wenigen Tagen werden die Arbeiter auch bei Djamila und Said vorbeikommen und die neuen Kacheln herausreißen.

    Die Vermittlerinnen verlassen das Hochhaus. Rund um das Gebäude wächst schütterer Rasen, dahinter ist ein Parkplatz voller Autos, auf der anderen Straßenseite ein Häuserblock ohne Balkone, kaum niedriger als der Turm, dafür länger. Wie ein Wurm zieht sich die eintönige, hellbraune Fassade durch das Viertel, 800 Meter lang. Hier und da ist der Putz abgesprungen, aus den Löchern quillt die gelbe Glaswolle.

    Eine alte Frau mit lose gebundenem Kopftuch läuft den Vermittlerinnen über den Weg. Sie nimmt ihre große Brille ab, wischt die Tränen weg. 25 Jahre hat sie in dem Hochhaus gelebt, ihre Kinder sind dort groß geworden. Sie trauert über das Ende eines Lebensabschnitts, vergisst darüber, was ihr das Leben dort vergiftet hat.

    Wie konnte ich nur umziehen. Es ist zu hart, viel zu hart! Einpacken, auspacken, alles verstauen… Ich bin am Ende! Warum zerstören sie das Gebäude? Warum renovieren sie nicht? Es sind schöne große Wohnungen. So eine Vergeudung. Andere Menschen müssen auf der Straße schlafen. Und da zerstören sie ein Hochhaus mit 40 Wohnungen…

    Weil es hier große Probleme gibt. Der Unterhalt wird immer teurer, das hätte ihre Miete extrem in die Höhe treiben können. Außerdem soll das ganze Viertel umgestaltet werden, der Staat will, dass es nicht mehr so dicht bewohnt ist.

    Oh ja, wir sind es leid: der Aufzug ständig kaputt, die Treppe einfach widerlich. Ich habe im 7. Stock gewohnt – vier Mal am Tag die Treppe hoch und runter – das war wirklich nicht leicht…


    Noura streicht der Frau über den Arm, verspricht, dass sie in der neuen Wohnung vorbeikommen und alles aufschreiben wird, was nicht in Ordnung ist. Ein indisches Ehepaar bleibt stehen: Soeben hat es den neuen Mietvertrag unterschrieben. Wann es den Schlüssel bekommt? Ein Marokkaner will wissen, ob er Strom und Wasser abbestellen muss. Ein Afrikaner erzählt, dass er glücklich ist in seiner neuen Wohnung. Noura lacht vergnügt.

    Wir sind beliebt. Wir treffen die Menschen, wir schütteln Hände – als ob wir im Wahlkampf wären! Wenn wir bei den nächsten Wahlen kandidieren würden, Sylvie – da hätten wir gute Chancen, nicht wahr?

    Sylvie nickt, dann dreht sie sich um. Sie betrachtet das Hochhaus: Ein grober Kasten mit länglichen Balkonen. Die Fensterläden sind aus weißgrauem Plastik. Viele sind zugezogen. Sie ist stolz.

    Wenn ich sehe, wie sich die Läden der Reihe nach schließen, dann sage ich mir: eine Wohnung geräumt, noch eine Wohnung geräumt und noch eine. Das ist gut! Weil ich weiß, dass fast alle Mieter froh sind über die neue Wohnung, die wir ihnen besorgt haben. Ich leere den Turm innerhalb der Frist, die mir gegeben wurde, und die Menschen sind zufrieden – was kann man mehr verlangen? Das ist doch wunderbar!