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"Absage der EU würde der Türkei innenpolitische Probleme bringen"

Hans-Peter Probst: Beim Besuch der CDU-Vorsitzenden Merkel und ihres Stellvertreters im Fraktionsvorsitz Schäuble in der Türkei, bei den Gesprächen mit der Regierung in Ankara kam es, wie es eigentlich kommen musste: Das Angebot einer privilegierten Beziehung als Alternative zu einer EU-Vollmitgliedschaft wurde von Regierungschef Erdogan höflich aber bestimmt zurückgewiesen, das stehe nicht auf der Tagesordnung. In Ankara im Telefon ist Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Universität Ankara, Professor für internationale Beziehungen, guten Tag.

    Hüseyin Bagci: Guten Tag.

    Probst: Eine Überraschung war das Ganze weder auf der einen noch auf der anderen Seite, also die CDU-Position und die Haltung der Regierung. Ist dennoch so etwas wie Enttäuschung darüber spürbar im politischen Establishment oder in der öffentlichten Meinung?

    Bagci: Nein, denn das Angebot wurde automatisch von der Regierung abgelehnt. Man hat darauf nicht mehr spekuliert, weil dieses Angebot politisch wie auch psychologisch nicht zu akzeptieren war. Eigentlich hatte man Erdogan das Angebot schon Anfang Januar in Berlin bei einem Treffen der Bertelsmann-Stiftung gemacht, da kam es zum ersten Mal zur Sprache. Aber in der Türkei hat man seit 40 Jahren in eine Mitgliedschaft politisch, wirtschaftlich, intellektuell und auch psychologisch investiert. Dialog ist sehr nützlich, aber ihr politisches Angebot ist abgelehnt und ab jetzt, glaube ich, wird man auch nicht mehr auf solche Angebote zurückgehen. Es gibt nur einen Weg, wie es aussieht, dass Ende des Jahres die EU der Türkei das Datum für die Verhandlungen nennt.

    Probst: Nun steht in einigen Tagen auch ein anderer Besuch an. Der Bundeskanzler kommt. Da sind die Hoffnungen der Regierung wahrscheinlich eindeutig auf einer Bekräftigung des Angebotes, oder?

    Bagci: Höchstwahrscheinlich wird es so sein, dass Herr Schröder der türkischen Regierung gewisse Zusicherungen geben wird, dass man Ende des Jahres, solange man die Kriterien erfüllt hat, sicherlich das Datum bekommen wird. Die Türkei baut sehr auf Deutschland und Herrn Schröder für die Verhandlungen. Das ist die Auffassung zur Zeit in Ankara, dass Deutschland als Schlüsselland gesehen wird, diese Stärke Deutschlands in der EU wird hier auch so wahrgenommen. Herr Erdogan hat das bereits einige Male gesagt, auch als Joschka Fischer in Ankara war. Alle Aussagen bis jetzt signalisieren, dass die Türkei Ende des Jahres in eine Richtung geht, wo die erwateten Schlussergebnisse, das heißt Verhandlungen für die Vollmitgliedschaft beginnen werden. Der Besuch von Herrn Schröder ist natürlich ein verspäteter Besuch. Er sollte eigentlich schon damals realisiert werden. Aber wie dem auch sei: Es ist gerade richtig und wichtig, jetzt im Jahre 2004, wo in der Türkei, das ganze Establishment darauf baut, dass die Türkei Ende des Jahres doch mit der EU die Verhandlungen beginnt.

    Probst: Da gibt es aber schon noch einige Fragezeichen, so dass sich eben die Frage stellt: sind das realistische Erwartungen oder Wunschvorstellungen? Es liegt ja auch an der Türkei, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die EU-Kommission feststellt, dass die Dinge so weit gelaufen sind, dass man Verhandlungen aufnehmen kann.

    Bagci: Ob es realistisch ist, werden wir sehen, aber wir werden sehen, dass die Türkei auf jeden Fall weiterhin mit dem Reformprozess weitergehen wird. Technisch gesehen würde ich es als europäisches Dilemma bezeichnen, weil die Türkei doch sehr fleißig war bei der Durchsetzung der Reformprozesse, man kann nicht zurücknehmen, was die Türkei bisher geleistet hat und das entspricht doch den Erwartungen der EU. Ob die Verhandlungen beginnen und danach die Türkei weiter so fortsetzt, ist eine offene Frage, aber realistisch gesehen glaube ich, wird Ende des Jahres die EU entscheiden, dass der Türkei doch die Daten für die Verhandlungen gegeben werden.

    Probst: Da wäre Freihandel statt der Assoziierung mit dem Kandidatenstatus aus Ihrer Sicht auf jeden Fall ein Rückschritt?

    Bagci: Das wäre erst einmal eine Zweigleisigkeit. Dafür gibt es in der Geschichte der EU kein Beispiel. Deswegen sollte und würde die Türkei das nicht akzeptieren. Ich sehe zumindest hier in Ankara keine politische Klasse oder Regierung, die das wagen würde, diesen privilegierten Status zu akzeptieren. Das würde alles wieder neu formulieren und definieren. Bis jetzt hat man immer wieder investiert, dass am Ende die Mitgliedschaft steht. Dass Europa das rückgängig machen könnte, die Möglichkeit besteht, aber praktisch kann Europa der Türkei ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nein sagen. Europa ist politisch und ethisch verantwortlich. Es wäre jetzt nur logisch, den Prozess der Beziehungen seit den 50er Jahren zu krönen. Das kann nur durch den Beginn der Verhandlungen der Fall sein.

    Probst: Gesetz den Fall, die Kommission kommt zu einem anderen Ergebnis, nämlich dass die Türkei eben für die Aufnahme von Verhandlungen doch noch nicht reif ist und die Gipfelteilnehmer im Dezember fassen dann den entsprechenden Beschluss, wäre das das Aus der Reformpolitik in der Türkei? Auf jeden Fall doch ein
    Rückschlag für Erdogan.

    Bagci: Nein, das wäre nicht der Fall, denke ich. Die EU hat keinen Grund, der Türkei abzusagen, zumal die Regierungen jetzt auch vorher alles unternommen haben, sich den Kriterien der EU anzupassen. Das würde für Europa ja keinen Prestigeverlust bedeuten, weil es nicht nur deutsch-türkisch-europäische Beziehungen sind. Die ganze Welt würde dann sehen, wie Europa mit der Türkei umgeht. Und dass es jetzt eine Dimension bekommen wird, die die EU und Türken im allgemeinen nicht mehr verhindern könnten. Denn eine Absage würde bedeuten, dass es innenpolitisch große Probleme gibt. Es könnte den Reformprozess verhindern. Wenn ein Europa gemeinsam gestaltet werden soll, sollte die Türkei auch dabei sein. Meine Analyse ist, dass die EU möglicherweise die Türken zum ersten Mal in der Geschichte der Beziehungen ablehnen könnte. Aber was wäre technisch und juristisch gesehen der Absagegrund? Das sollten sich die europäische Diplomatie und die Politiker noch einmal überlegen.

    Probst: Das war Hüseyin Bagci, Politikwissenschaftler an der Universität Ankara, Professor für internationale Beziehungen. Danke.

    Bagci: Danke.