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Abschied aus der Hyperrealität

Der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard ist am Dienstag im Alter von 77 Jahren gestorben. Er einer der einflussreichsten zeitgenössischen französischen Denker. Seine Theorie der Simulation passte perfekt zu einer Medien- und Informationsgesellschaft, die mit dem Computer auch ein echtes Symbol jener "Virtualität" entwickelt hatte, über die Baudrillard schon lange geschrieben hatte.

Von Jürgen Ritte | 07.03.2007
    Als der amerikanische Physiker Alan Sokal 1996 mit einer fulminanten Wissenschaftsparodie Sprache und Metaphorik der modernen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften aufs Korn nahm, stand Jean Baudrillard in der ersten Reihe der zum Abschuss freigegebenen Meisterdenker. Er fand sich dabei in prominenter Gesellschaft. Gemeinsam etwa mit François Lyotard, Gilles Deleuze oder Jacques Derrida galt er dem New Yorker Professor als einer jener ganz speziellen "french intellectuals", die angeblich außer heißer Luft und gehörig viel Metaphernstaub nicht viel bewegen.

    Dass der Angriff auf den "modischen Unfug" aus den USA kam, war kein Zufall. Denn auf dem Campus nordamerikanischer Universitäten hatten Jean Baudrillard und andere französische Intellektuelle seit den späten 70er Jahren ihre größten Erfolge feiern können. In Frankreich blieb Jean Baudrillard eine institutionelle Anerkennung lange Zeit verwehrt. Anders als etwa Derrida oder Deleuze ist Jean Baudrillard nie auf einen Lehrstuhl berufen worden. Und mehr als andere französische Intellektuelle blieb Baudrillard, der sich bis zuletzt mit unzeitgemäßen Betrachtungen auf den modernen Alltag einließ, eine Reizfigur für die Gebildeten unter seinen Verächtern.

    Dabei hatte der 1929 in der Hauptstadt der Champagne, in Reims, geborene Jean Baudrillard vergleichsweise harmlos begonnen: als Deutschlehrer nämlich und als Übersetzer, u.a. von Peter Weiss und Bertolt Brecht. Erst in den sechziger Jahren wandte er sich der Soziologie zu. Er promovierte in diesem Fach, was ihm 1966 mit einer Assistentenstelle an der Universität von Nanterre belohnt wurde. Und dort gelang ihm zwei Jahre später, als an eben dieser Universität - unter maßgeblicher Beteiligung von Daniel Cohn-Bendit - die Revolte der Studenten aufflammte, mit seinem Buch "Le système des objets" - Das System der Dinge - der große Wurf. Dieses Buch bescherte ihm bald schon ein internationales Prestige, das er über mehr als zwei Dutzend Werke und eine Unzahl von Artikeln in Fach- und Tagespresse behaupten konnte. "Le système des objets" lässt sich als Vertiefung, Fortführung und Theoretisierung jenes ideologiekritischen Unternehmens lesen, das Roland Barthes in den fünfziger Jahren mit den "Mythen des Alltags" begonnen hatte. In einer veritablen "tour de force" unterzog Baudrillard die Welt der Dinge - vom Kochlöffel über die Kaminuhr bis zum Kühlschrank - einer Lektüre, oder besser: einem déchiffrement, das die Arbeiten eines Ferdinand de Saussure, eines Karl Marx und eines Siegmund Freud synthetisieren und überschreiten sollte. Nicht weniger. Jean Baudrillard war der große Spurenleser, der Sherlock Holmes in den Supermärkten der blühenden Konsumgesellschaft. Über seinen Gebrauchs- und Tauschwert hinaus und jenseits seines Waren- oder Fetischcharakters deutete Baudrillard das Universum der Dinge als einen Zeichensatz, der sich in modernen Gesellschaften als eigenständiges System konstituiere. Die Dinge stehen in keiner konkreten Beziehung mehr zu den Menschen, sondern sie sind "reine Zeichen" haben ihre eigene Grammatik: Ein englischer Ledersessel etwa oder ein orientalischer Gebetsteppich existieren nicht als Gegenstände des Gebrauchs, sondern sie werden zuvörderst, hier berief sich Baudrillard auf Georges Perecs Debütroman "Die Dinge" aus dem Jahre 1965, in ihrer ideellen Dimension als Zeichen konsumiert. Konsumiert wird die Vorstellung von britischer Behaglichkeit, die ein englischer Ledersessel kommuniziert, nicht das konkrete Objekt als Sitzmöbel. Der Konsum, so schloss Baudrillard damals, ist eine "absolut idealistische Praxis".

    Damit war die Bahn für weitaus radikalere Fragestellungen geebnet. Was für Baudrillard fortan auf dem Spiel stand, war die "Realität des Realen". Der Schauspielcharakter der westlichen Mediengesellschaften hat die Anbindung an die Wirklichkeit nicht mehr nötig. Wir leben in der "Hyperrealität" einer totalen, wenn nicht gar totalitären Kommunikationsindustrie, in der die alten symbolischen Orientierungsmuster (etwa politisch rechts oder links) ausgedient haben - oder eben selbst nur Teil eines Schauspiels sind. "Der Golfkrieg", so verkündete Baudrillard 1991 anlässlich der ersten Intervention des Westens im Irak, "hat nicht stattgefunden". Er war in erster Linie eine virtuelle Veranstaltung, genannt "sauberer Krieg". Vor die Realität des Krieges schoben sich die Computersimulationen der amerikanischen Armee und die Bilder von CNN. Der Krieg als ultimative "REALITY-SHOW". Auch nach den Attentaten vom 11. September 2001 verwies Baudrillard auf die Derealisierungsstrategien der westlichen Medien. Er tat dies, wie immer, in einer zuspitzenden, bissigen Sprache.

    Empfindsame Seelen suchten diesen "obszönen" Intellektuellen mit dem Hinweis auf reale Leichen des Zynismus zu überführen. Sie haben ihn, mit Blick auf die ständig flimmernde Mattscheibe, nicht verstehen können - oder wollen. Sie sahen nur den Finger des Weisen, nicht aber das Desaster, auf das er zeigte: Jean Baudrillard war so etwas wie der Karl Kraus der Postmoderne.