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Abschied vom Absoluten

Fragt man einen Verliebten, einen Börsenmakler, einen Hinterbliebenen und einen Umweltschützer wie die Welt ist, wird man vier völlig verschiedene Antworten bekommen: Wunderschön wird sie sein diese Welt, unsicher und käuflich, traurig, trostlos, ungerecht und bedroht. Sie wird so vielgestaltig sein wie die Menschen, die in ihr leben. Trotzdem aber sprechen wir von der Welt, als gäbe es sie unabhängig von unseren Erfahrungen und Beobachtungen. Auf diesen Widerspruch macht eine Denkrichtung aufmerksam, die seit etwa fünfzehn Jahren unter dem Namen Konstruktivismus durch die internationale Wissenschaftsgemeinde geistert. "Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt!" so lautet denn auch einer der Kemsätze dieser Geisteshaltung. Wir sind es, die jene Welt hervorbringen, wir sind anwesend in allem was wir tun, sagen und beobachten. Oder philosophisch gesprochen: Es gibt keine von einem Beobachter unabhängige Realität. Nur subjektive Perspektiven - keine Absolutheitsansprüche. Also: "Abschied vom Absoluten." Und so nennt Bernhard Pörksen auch sein Buch, in dem er Gespräche mit den Urvätern des Konstruktivismus versammelt. Pörksen:

Matthias Eckoldt |
    Mein Gedanke war, dass in einem Gespräch ja immer verschiedene Wirklichkeiten anwesend sind. Die Wirklichkeit von mindestens zwei Leuten, die da miteinander reden, und dass sozusagen die Form, die Form des Dialogs, wenn er denn gelingt, schon eine Illustration der konstruktivistischen Grundthese ist, dass wir immer in verschiedenen Wirklichkeiten leben, dass es die eine Wirklichkeit,, die eine Wahrheit, auf die sich alle Menschen guten Willens einigen können, überhaupt nicht gibt. Und so bin ich ein Jahr durch verschiedene Länder gereist, nach Kalifornien gefahren, nach Chile gefahren.

    Illustre Namen standen auf der Reiseliste von Bernhard Pörksen, der dem Leser eine wahre Schatzkiste aus der Feme mitgebracht hat. So erfahrt er beispielsweise vom Therapeuten und Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick, dass die Menschen nicht an Traumatisierungen, sondern an ihren eigenen Konstruktionen der Wirklichkeit leiden. Er erzählt vom Chef einer Firma, der in seiner Praxis Hilfe suchte, weil er mit seinen ausgesprochen unhöflichen und aggressiven Mitarbeitern nicht mehr umgehen konnte. Watzlawick, dem das Verhalten des Mannes offenbarte, dass die Aggressivität der Mitarbeiter die Folge der Aggressivität ihres Chefs war, wandte die Methode der sogenannten paradoxen Intervention an und riet dem Mann, sich so zu verhalten, als ob seine Mitarbeiter Angst hätten und seiner Fürsorge und Beschwichtigung bedürften. Schon nach wenigen Tagen verbesserte sich das Betriebsklima immens. Der Erkenntnistheoretiker Ernst von Glasersfeld verdeutlicht mit der Metapher des Blindfluges die Sicht des Konstruktivismus auf die Erkenntnissituation des Menschen: Dem Piloten im Cockpit fehlt der direkte Zugang zur Außenwelt. Er hat nur seine Instrumente, die ihm gelegentlich ein Abweichen vom Flugkurs anzeigen. Den korrigiert er und landet schließlich sicher. Von den eigentlichen Ursachen der Abweichungen jedoch hat er nichts mitbekommen. Was außerhalb unserer Erfahrungswelt liegt, so die These von Ernst von Glasersfeld, können wir nie sagen.

    Bernhard Pörksen hat auch den Kybernetiker Heinz von Foerster besucht, der durch seine Forschungen dazu anregte, das Verhältnis von Mensch und Umwelt, von Subjekt und Objekt neu zu bedenken. Heinz von Foerster stimulierte Tastzellen von Probanden durch Berührung - die Probanden empfanden einen Druck. Dann aber stimulierte er die entsprechenden Zellen mit einer erwärmten Nadel - die Probanden empfanden einen Druck. Schließlich legte er einen Stromimplus an die Zellen - die Probanden empfanden einen Druck. Die Sinneszellen, die ja die Schnittstelle zwischen Organismus und Umwelt bilden, können nur das sagen, was sie sagen können, so folgerte er. Die Tastzellen sagen immer: Druck, Druck, Druck, Druck. Egal, was die Erregungsursache ist. Von Foerster schloss aus seinen Versuchen, dass wir von unserer Umgebung nur zu unseren eigenen Bedingungen etwas erfahren. Die Außenwelt rieselt also nicht in uns hinein wie Schneeflocken in ein zerstörtes Dach, sondern wir sind es, die jene Außenwelt erst konstruieren. Wir streichen die Gegenstände farbig, wir lassen die Nachtigall jubilieren, wir erzeugen die Gegenstände. Bernhard Pörksen fächert durch die Auswahl der Personen, die er interviewt hat, ein gewaltiges Panorama einzelwissenschaftlicher Perspektiven und Erkenntnisse auf:

    Es gibt diesen gemeinsamen Strang:... Abschied von einer emphatisch vertretenen Wahrheitsidee. Was die einzelnen... Denker unterscheidet, sind im Grunde genommen die Begründungen:..... Gerhard Rom, Hirnforscher in Bremen, untersucht, wie die Neuronen des Gehirns eine bestimmte Wirklichkeit hervorbringen, wie durch die Reizleitung im Gehirn ein bestimmtes Bild einer Außenwelt erzeugt wird. Ein Denker wie Siegfried J. Schmidt stellt fest, dass in unserer Zeit Massenmedien die entscheidenden Produzenten von Wirklichkeit sind, die entscheidenden Agenten, die uns sagen, was wir für real zu halten haben,... worüber wir reden müssen. Die Begründung ist unterschiedlich, aber das Ergebnis ist doch weitgehend identisch: Wahrheitserkenntnis in einem absoluten Sinne ist nicht zu haben.

    "Abschied vom Absoluten" bleibt bei allem vermittelten Kenntnisreichtum ein sehr uneitles Buch. Und das liegt zu großen Teilen am Autor. Bernhard Pörksen, dem seine enorme Belesenheit zu jedem Zeitpunkt der Gespräche eine hohe geistige Präsenz erlaubt, kann immer wieder Gegenpositionen zu den Haltungen der Interviewten entwickeln. So wird nicht nur der selbstverliebte Monolog der Stars der konstruktivistischen Szene verhindert, sondern vor allem gibt Pörksen dem Leser Denkhilfen an die Hand, die viele der oft schwer verständlichen Gedankengänge nachvollziehbar machen. Einzige Ausnahme bildet das Gespräch mit dem in Paris lehrenden Biophilosophen Francisco Varela. Pörksen und Varela reden aneinander vorbei, sie missverstehen sich. Die Chemie zwischen den beiden stimmt nicht, man bekommt den Eindruck, als sei Varela durch die hartnäckigen Nachfragen verstört. Im Ergebnis erfährt man auch nur wenig von der verdächtig nach New Age klingenden Idee Varelas, eine Versöhnung von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt auf buddhistischer Grundlage zu schaffen.

    Das Gespräch zwischen Pörksen und Varela macht deutlich, wie verschieden selbst bei ähnlichen Denkbewegungen die Wirklichkeitskonstruktionen der Beteiligten sein können. Und so scheint das Buch, so scheint der Konstruktivismus hier eine aufschlussreiche Selbstanwendung zu demonstrieren: Niemand kann einen Anspruch auf Wahrheit legitimieren, da wir immer nur über unsere Erfahrungen, nicht aber über die Welt selbst etwas aussagen können. Pörksen:

    Der Konstruktivismus ist für mich am Ende dieser Reise keine einheitliche Theorie, sondern eine Philosophie des Möglichen, eine Chance, die Dinge immer auch anders zu sehen, immer auch anders zu denken. Und in dieser Hinsicht wird der Konstruktivismus zu einer Medizin gegen jede Form von Dogmatismus und Fundamentalismus. Und es beginnt ein Tanz, ein sich wechselseitig Einschwingen, ein gemeinsames Entdecken von immer anderen Sichtweisen. Der Horizont wird weit, und man kann seine Arme ausbreiten und anfangen, eine vielgestaltige, eine bunte Welt zu umarmen.