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Abschied vom klassischen Tanz

In der berühmten Choreographie Kenneth MacMillans tanzt Sylvie Guillem ihre letzte "Manon" an der Mailänder Scala. Und der Auftritt der 46-Jährigen überzeugt.

Von Wiebke Hüster |
    Niemand in der Scala hätte diese Fragen auch nur mit gedämpfter Stimme gestellt, aber sie schwebten im Raum: Würde Sylvie Guillem, die ihre Spitzenschuhe in den vergangenen Jahren nur noch für seltene Gala-Auftritte angezogen hatte, aber in keinem "Schwanensee" oder anderen Handlungsballetten mehr aufgetreten war, ihr Publikum noch derart in den Bann ziehen können wie früher in dieser berühmten Rolle?

    Und konnte sie, die in diesem Jahr ihren 46. Geburtstag feiert, noch glaubwürdig die 17-jährige Manon Lescaut spielen?

    Kenneth MacMillans Ballett über die 17-jährige Schönheit, deren Bruder sie zur Kurtisane macht, kaum dass sie aus dem Waisenhaus entlassen ist, beginnt mit einem geheimnisvollen Bild. Das Gesicht unter dem dunklen Dreispitz verborgen, die Gestalt von einem Cape verhüllt, sitzt Lescaut anfangs auf der düsteren Bühne. In diesem Gasthaus, Schauplatz seiner Betrügereien, tummelt sich nach Tagesanbruch noch eine gemischte Gesellschaft anderer zweifelhafter Existenzen – Taschendiebe, Lebedamen, eine Kupplerin, Reisende, die von ihnen gleich behelligt werden sollen. MacMillan lässt die Spannung steigen über diesen Alltagsszenen am Pariser Stadtrand des 18. Jahrhunderts. In der Scala brandet Applaus auf, als Guillem endlich der Karosse entsteigt.

    Lescaut verliert keine Zeit damit, seine Schwester gegen Höchstgebot unter die Protektion des wohlhabenden, alten Guillot de Morfontaine zu stellen. Der Frauenhandel ist besiegelt.

    Da wird die Bühne plötzlich leerer und leerer, wie von Zauberhand verwischt ist das farb- und figurenprächtige Tableau. Wie MacMillan diesen Moment inszeniert, in dem eine Frau und ein Mann einander erkennen und darüber der Lärm der Welt um sie verstummt, die Zeit stillsteht für die Dauer eines ersten Pas de deux, das zeigt die ganze Meisterschaft des 1992 auf der Seitenbühne von Covent Garden während einer Ballettvorstellung verstorbenen britischen Choreographen.

    Jetzt, gegen Ende des ersten Akts, sind alle Figuren eingeführt und die tragischen Ereignisse vorgezeichnet: Manons wahrer Geliebter, der Student Des Grieux, ist zu arm, um ihr eine Zukunft zu bieten. Verführt von Kleidern, Pelzen, Juwelen und Champagner-Dinners kann sich Manon nicht vorstellen, auf Reichtum zu verzichten.

    Die dramatischen Ereignisse im zweiten Akt verhindern, dass die Spannung abnimmt. Bei einem Fest überredet Manon Des Grieux, ihren reichen Gönner beim Kartenspiel zu betrügen, um für beide doch noch eine Existenzgrundlage zu schaffen. Doch der Schwindel fliegt auf, Manons Bruder wird bei der anschließenden Verhaftung aller getötet. Im dritten Akt kommt das überlebende Verbrecher-Pärchen in der amerikanischen Strafkolonie an. Des Grieux kann seine Geliebte nicht vor den Übergriffen eines Aufsehers schützen. Von Fieber gequält und von Traumgestalten verfolgt, stirbt Manon in Des Grieux' Armen.

    Der Jubel für Sylvie Guillems bewegende Darstellung und ihre anrührende Bühnenpartnerschaft mit dem italienischen Tänzer Massimo Murru will kein Ende nehmen. Großartig, wie sie zweieinhalb Stunden lang die nicht unerheblichen technischen Schwierigkeiten von MacMillans aufregend moderner Choreographie meistert. Ihre Pirouetten dreht sie so souverän langsam, als könnte sie auch mitten drin anhalten, auf der Spitze stehen und erst weiterdrehen, wenn sich der Jubel gelegt hat.

    Aber das wirklich Besondere an Guillems Tanz ist, dass sie weniger denn je versucht ist, allein Ballerinenglanz und Virtuosität zu verströmen. Sie zeichnet mit ungeschönter Wildheit eine von Gefühlen gar nicht zu erreichende Manon, die sich ganz von ihrem Willen leiten lässt: Sie will sich hochkämpfen, Waisenhaus und Armut hinter sich lassen, einen Rahmen für ihre Schönheit, der funkelt, und am Ende will sie nur eins: nicht sterben.