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Abschied vom Walde

"Lieder, im Freien zu singen" – was für eine wunderbare Vorstellung, wenn es erst wieder etwas wärmer ist! Sie anzuhören, geht natürlich auch im Winter. Dazu bietet sich eine neue Platte an, erschienen bei Berlin Classics, mit einer Auswahl der schönsten Chorsätze des Komponisten-Geschwisterpaares Fanny Hensel und Felix Mendelssohn, gesungen vom Vocal Concert Dresden unter der Leitung von Peter Kopp. Im Studio begrüßt Sie Johannes Jansen.

Eine Sendung von Johannes Jansen | 14.02.2010
    Felix Mendelssohn, "Der wandernde Musikant" op. 88/6 (Text von Joseph von Eichendorff), CD Track 23, Dauer: 1"55

    "Recht fröhlich sei vor allen, wer"s Reisen wählen will": der Komponist als wandernder Musikant. Man kann ihn sich nicht recht vorstellen in dieser Rolle, den stets eleganten, durchaus dandyhaft gekleideten Pultstar und Generalmusikdirektor Felix Mendelssohn Bartholdy. Und doch war ihm der wandernde Musikant aus Eichendorffs gleichnamigem Gedicht im Innersten verwandt. "Ein" frische Reisenote" und die "Lust, vom Berg zu schauen", mithin das genaue Gegenteil von Rummel und Routine, die ihn sonst umgaben, waren das Ziel kleiner und großer Fluchten, die dem an Bequemlichkeiten aller Art gewöhnten Stadtmenschen ebenso befreiende wie künstlerisch nachhaltige Naturerlebnisse verschafften, sei es in Garmisch, im Taunus, in Italien oder im rauen Schottland – und immer wieder in der Bergeinsamkeit der Schweiz.

    Eine Feier all dessen, was da grünt und blaut, plätschert und zwitschert, ohne sich nach dem Takt des Maschinenzeitalters zu richten: Sehnsüchte, die Joseph von Eichendorff, selbst noch ein Kind des 18. Jahrhunderts, dichterisch in einer Weise eingefangen hat, die schon für sich allein manche romantische Saite zum Klingen bringt, erst recht aber in der Symbiose mit Mendelssohns Musik. Im "Abschied vom Walde" existiert das eine ohne das andere nicht mehr: "O Täler weit, o Höhen" – wer den Text liest oder hört, vernimmt auch die Melodie dazu, und umgekehrt.

    Felix Mendelssohn, "Abschied vom Walde" op. 59/3 (Text von Joseph von Eichendorff), CD Track 25

    Mendelssohn, der Romantiker. Das sagt sich so dahin, weil es ja stimmt, und berührt doch einen heiklen Punkt, wenn man an die "neudeutsche" Romantik unter dem maßgeblichen Einfluss Richard Wagners denkt. Mit dessen Schmähschrift über "Das Judenthum in der Musik" begann Mendelssohns Ausgrenzung aus den Bezirken hehrer deutscher Kunst und Musikgeschichtsschreibung. Bis heute erscheinen die wichtigsten Bücher über ihn nicht (oder zumindest nicht zuerst) in deutscher Sprache. Auf dem Noten- und CD-Markt sieht es etwas besser aus, wie eine stattliche Zahl von Veröffentlichungen anlässlich des Gedenkjahres 2009 beweist. Auch unsere neue Platte gehört ausweislich des Aufnahmedatums noch dazu: ein nur geringfügig verspäteter Festbeitrag aus Dresden, das zwar nicht zu den Hauptwirkungsstätten Mendelssohns gehörte, aber als traditionsreiche Musikmetropole stets in seinem Blickfeld lag. Überbracht wird die vielstimmige Huldigung durch ein Gesangsensemble von solcher Transparenz und solistischen Beweglichkeit, dass man beinahe zögert, es einen Chor zu nennen. "Vocal Concert" trifft es schon eher, und genauso heißt er auch, seit der 1993 von Peter Kopp gegründete Kammerchor vor zwei Jahren den etwas verzopft klingenden Namen "Körnerscher Sing-Verein" abgelegt hat. Die Mitglieder sind in der Mehrzahl ehemalige Kruzianer und Absolventen der Dresdner Musikhochschule, also keine Feierabendsänger, wie man unschwer hört. Ein Laienchor bliebe bei dem Tempo, das in Eichendorffs "Jagdlied" angeschlagen wird, vermutlich sehr schnell auf der Strecke ...

    Felix Mendelssohn, "Jagdlied" op. 59/6 (Text von Joseph von Eichendorff), CD Track 12, Dauer: 2"27

    Romantik pur. Das ist in diesem Fall nicht die naive Freude an Hörnerschall und wiehernden Rossen vor nebliger Waldkulisse, sondern ihr Umschlag ins Innerliche: die Perspektive des Wanderers eben, dessen Brust im Hochgefühl der Freiheit bebt. Es ist stets auch ein Moment der Auflehnung darin, sogar in der biedersten Liedertafelmusik regt sich eine emanzipatorisch-aktivierende Tendenz im Geist der Nationalbewegung und des Hambacher Fests.
    Für Mendelssohn war Emanzipation kein Thema, oder vielmehr: Er betrachtete sie für sich als abgeschlossen, seit sein Vater mitsamt der Familie durch den Übertritt vom Judentum zum Protestantismus in der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft angekommen war. Für Fanny Mendelssohn hingegen, die er "Schwesterlein" nannte, obwohl sie vier Jahre älter war als er, hatte Emanzipation eine ganz konkrete Bedeutung als Selbstbehauptung in einer Welt von Männern, die weder ihr noch irgendeiner Frau zutrauten, als Komponistin ihren Weg zu machen. Fanny tat es, zögernd und oft zweifelnd an sich selbst, aber letztlich mit Erfolg und ließ, auch wenn sie keine kämpferische "femme libre" war, Sympathie für gesellschaftliche Veränderungen erkennen, zum Beispiel als sie im Revolutionsjahr 1830 ihrem Söhnchen Sebastian eine Trikolore auf die Windeln nähte.

    Schon der Vater hatte sie ermahnt, die Musik nicht zum "Grundbass" ihres "Seins und Thuns" zu machen. Felix riet ihr ebenso angelegentlich von der Druckveröffentlichung ihrer Werke ab, obwohl er überzeugt war von ihrem künstlerischen Rang und sich 1846, ein Jahr vor ihrer beider Tod, endlich auch dazu verstand, der kleinen großen Schwester mit den Worten "möge die Druckerschwärze dir niemals drückend und schwarz erscheinen" seinen "Handwerkssegen" zu erteilen.

    Es ist ein besonderes Verdienst der hier vorliegenden, auch in ihrer äußeren Aufmachung ansprechenden Veröffentlichung, dass sie uns die Komponistin Fanny Hensel (wie sie durch ihre Heirat mit dem preußischen Hofmaler Wilhelm Hensel hieß) in einem familienhistorisch unterlegten Doppelporträt mit ihrem Bruder nahebringt. Elf und damit fast die Hälfte der vom Vocal Concert eingesungenen Chorsätze stammen von ihr, darunter auch die "Schöne Fremde", wiederum nach Eichendorff, in der das Raunen des Waldes und die Verheißungen Italiens zu einer – zumindest für das 19. Jahrhundert – "typisch deutschen" Sehnsucht verschmelzen.

    Fanny Hensel, "Schöne Fremde" op. 3/2 (Text von Joseph von Eichendorff), CD Track 6, Dauer: 2"14

    "... das tausendmal beschriebene, Millionen Mal gepriesene und dennoch überraschende Italien" – so erlebt es Fanny 1839 zum ersten Mal bei ihrer Ankunft am Comer See, und es ergeht ihr wie dem Bruder schon ein Jahrzehnt zuvor, der dort auf den Spuren Goethes "frische Nahrung" fand. "Neues Blut saug" ich aus freier Welt" heißt es in "Auf dem See", dessen Vertonung eine charakteristische Wendung aus der italienischen Sinfonie aufnimmt und wie diese nichts als sonnenhellen Optimismus zu verströmen scheint. Singen könne zwar jede bayrische Kellnerin besser als die meisten italienischen Musiker, "aber doch", befand Mendelssohn, "ist es ein Land der Kunst, denn es ist das Land der Natur, und da lebt und webt es überall, im blauen Himmel und im Meere und in den Bäumen giebt es Musik genug."

    Felix Mendelssohn, "Auf dem See" op. 41/6 (Text von Johann Wolfgang von Goethe), CD Track 2, Dauer: 2"05

    Mendelssohn, der Klassizist: Auch das ist ein ebenso zutreffendes wie problematisches Etikett, diente es doch oft genug nur der Herabsetzung des Komponisten. Die Leichtigkeit und Eleganz, der formale Schliff und jene "spezifische Talentfülle", die sogar Richard Wagner ihm zugestand – es waren vergiftete Komplimente, die Mendelssohn zum Epigonen stempeln sollten, "unfähig", so Wagners Worte, "auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten". Man möchte dem Pamphletisten diese Chormusik entgegenhalten, denn was hätte je die deutsche Seele inniger berührt als ein Lied wie "Abschied vom Walde", das auch das titelgebende Schlussstück unserer neuen Platte, nicht aber dieser Sendung ist? Ausklingen soll sie, der noch recht frühen Sonntagsstunde angemessen, mit Fanny Hensels "Morgenwanderung" auf einen Text von Emanuel Geibel, auch dies ein zauberhafter Chorsatz, dessen makellos dargebotener "a quattro"-Mittelteil aufs Neue beweist, dass am fast 30-köpfigen Vocal Concert aus Dresden mindestens ein Vokalquartett von bestechender A-cappella-Qualität verloren gegangen ist.

    Fanny Hensel, "Morgenwanderung" W.o.O./WN 429 (Text von Emanuel Geibel), CD Track 3, Dauer: 2"34

    "Abschied vom Walde", die neue Platte im Deutschlandfunk, heute mit Chormusik von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn mit dem Vocal Concert Dresden unter der Leitung von Peter Kopp. Erschienen ist diese Neuaufnahme bei Berlin Classics im Vertrieb von Edel. Im Studio verabschiedet sich, mit Dank fürs Zuhören, Johannes Jansen.