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Abschied von Herrn Cogito

"Mein Traum ist ein anonymes Schaffen", hat Zbigniew Herbert in einem Interview einmal bekannt. Das war als Mißtrauensvotum zu verstehen gegen ein naiv-sentimentalisches Verständnis von Dichtung, nach dem ein romantisches Ich in ornamentalem Metapherschmuck egozentrisch sein Elend besingen darf. Solche pseudolyrischen Egotrips hat der große polnische Poet schon früh als folgenreichen Irrtum verabschiedet. "Das Schreiben als stilistische Übung fand ich unfruchtbar. Lyrik als Kunst des Worts langweilte mich", so notierte er bereits in den fünfziger Jahren in einem Kommentar zu seinem Gedicht "Dlaczego klasicy" ("Warum Klassiker'). Und weiter: "Wenn es so etwas wie eine Schule für Literatur gäbe, so müßte sie vor allem Übungen in der Beschreibung von Dingen vorschreiben - nicht von Träumen."

Michael Braun |
    In der polnischen Lyrik der Nachkriegszeit hat diese skeptische Position der gegenstandsbezogenen, historisch-reflektierten und lakonisch-nüchternen Anti-Poesie Schule gemacht. Auch Herberts große Kollegen Tadeusz Rózewicz und Wislawa Symborska favorisierten eine metaphern-kritische, nüchtern-inventarisierende Dichtung. Als sich 1956, im Jahr des polnischen Tauwetters, einige jüngere Autoren an die Öffentlichkeit wagten, war Zbigniew Herbert die große poetische Entdeckung, Der Kritiker Jerzy Kwiatkowski sprach von Herberts "Poesie der ausgewogenen Waagschalen" und nobilitierte den jungen Dichter gleich zum Klassiker.

    Der Weg zum "Klassiker" verlief indes über außerliterarische Umwege. 1924 in Lemberg als Sohn eines Bankdirektors geboren, mußte Herbert zunächst als Untergrundkämpfer den Terror der Nazizeit und die Verschleppung nach Rußland überleben, bevor er sich geistigen Dingen zuwenden konnte. Er absolvierte ein Jurastudium, versuchte sich als Bankbeamter und als Redakteur einer kaufmännischen Zeitschrift, bevor er zur Philosophie gelangte, die ihm zur Offenbarung wurde. Der Warschauer Philosoph Henryk Elzenberg, dem in Herberts letztem Gedichtband "Rovigo" das Eingangsgedicht gewidmet ist, weihte ein in das Denken von Spinoza und Descartes, die fortan Leitfiguren seiner Poesie wurden. Die Philosophie, so hat er später bekannt, machte ihm Mut, erste wesentliche Grundsatzfragen zu stellen zum Rätsel der eigenen Existenz und zum Wesen der Welt.

    Zum poetischen Alter ego des Dichters Herbert wurde "Herr Cogito", der Denkende, der in fast allen Gedichtbänden Herberts präsent ist und uns dort als weiser Skeptiker entgegentritt, der weiß, daß nach den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts der Vorrat an ideologischen Weltbeglückungslehren endgültig aufgezehrt ist. Mit "Herrn Cogito" reiste Herbert durch die Landschaften der Antike und des Mythos, um daraus Einsichten in die traumatischen Geschichtsprozesse unseres Jahrhunderts zu gewinnen. Mit Herbert als engagiertem Zeitdiagnostiker hatten die polnischen Machthaber stets ihre Schwierigkeiten. So mußte die Erstausgabe seines Bandes "Bericht aus einer belagerten Stadt" 1983 in Paris erscheinen.

    In Deutschland wurde man schon relativ früh auf den polnischen Skeptiker aufmerksam, dank der Vermittlungsbemühungen von Karl Dedecius und Maus Staemmler. 1964 druckte die noch taufrische und modernismushungrige Edition Suhrkamp erstmals Gedichte von Herbert. Seit 1970 ist es vorwiegend der Übersetzer Klaus Staemmler, der Herberts Verskunst der unprätentiösen Verhaltenheit und Einfachheit ins Deutsche bringt. Der "Herr Cogito" trat (im gleichnamigen Gedichtband) erstmals 1974 auf den Plan. "Lektionen der Hoffnung" konnte auch er, nach den Erfahrungen mit den mörderischen Feldzügen des Faschismus und den brutalen Expansionsstrategien des Kommunismus, keine mehr verbreiten. In Herberts letztem Gedichtband "Rovigo" steht für die traumatische geschichtliche Erfahrung das bewegende Gedicht Knöpfe ein, das den Massenmord an polnischen Offizieren durch Stalins Schergen im Wald bei Kátyn heraufruft.

    Herr Cogito also hat, belehrt durch die Geschichte, die Hoffnung verloren, es blieben ihm, wie seinem poetischen Erfinder, nur noch Erinnerungen. Aber auch die Position des Dichters selbst hat sich verändert. In seinem Gedicht "Ansichtskarte von Adam Zagajewski" bezeichnet Herbert ein Verständnis von Dichtung, das er für historisch obsolet, für überwunden hält. "Unterm zynischen Herzen", heißt es da, "trug ich die Illusion / ich sei ein Apostel auf Dienstfahrt": Der Dichter als Heilsbringer, als Präzeptor der Nation - diese mächtige Instanz, falls es sie je gegeben hat, ist für immer verschwunden. Der Dichter kann nur noch sprechen als ein agnostisch ernüchterter "Apostel auf Dienstfahrt", der niemanden mehr missionieren will und statt dessen die überlieferten Heilsversprechen durch Skepsis und gelassene Ironie zersetzt. Wobei im Falle Herberts gesagt werden muß, daß sein Rationalismus immer etwas Gottesfürchtiges hatte, nämlich, wie es in einem Gedicht aus "Rovigo" heißt, einen tiefen Respekt vor dem "Gesetz, den Tafeln, dem Bund".

    So erzählen die sechsundzwanzig Gedichte des Lyrikbandes von der fortschreitenden Desillusionierung und der skeptischen Selbstvergewisserung eines großen Dichters. In ruhigen, fast episch gleitenden Versen, Erinnerungen an historische Schreckensorte und in Reminiszenzen an Lehrer, Freunde und Dichterkollegen zieht Zbigniew Herbert noch einmal Bilanz: "Der Handvoll die uns zuhört gebührt das Schöne / aber auch die Wahrheit / das heißt - das Grauen / damit sie tapfer sind / wenn der Augenblick kommt."

    Gegenüber den "Dialektischen Betrügern" oder den "Bekennern des Nichts", wie es in Herberts Gedicht an seinen Philosophielehrer Henryk Elzenberg heißt, kann der Dichter nur noch seine Lebenserfahrung und seine Geduld der Beobachtung aufbieten, mitsamt seiner Fähigkeit, in der Welt zu bleiben gleich einem denkenden Stein". Von diesem skeptischen Beharrungsvermögen spricht auch das Gedicht "Lebenslauf", in dem der Dichter in demütiger Selbstverkleinerung seine "Durchschnittlichkeit" konstatiert, aber zugleich seine Fähigkeit, den ideologischen "Einflüsterungen" zu widerstehen. Es ist zugleich ein ergreifendes Abschiedsgedicht im Angesicht des Todes. Seine letzten Verse lauten: "Jetzt lieg' ich im Spital und sterbe am Alter. / Auch hier wieder Unruh und Plage. / Würde ich nochmals geboren, wäre ich vielleicht besser. / Nachts erwache ich schweißgebadet. Ich schaue / zur Decke. Stille. / Und wieder - noch einmal verscheuche ich mit / todmüder Hand / die bösen Geister und rufe die guten."

    Jetzt ist Zbigniew Herbert, der gottesfürchtige Rationalist und große europäische Dichter, im Alter von 74 Jahren gestorben.