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Abschiedsvorstellung einer italienischen Primaballerina

Als die Ballerina Alessandra Ferri jetzt in Hamburg als Gast John Neumeiers auftrat, wurde ein bis auf den letzten Platz gefülltes Opernhaus atemloser Zeuge einer letzten Vorstellung. Ferri spielte Neumeiers "Kameliendame" und nahm in dieser Rolle ihren Abschied von der Bühne.

Von Wiebke Hüster |
    Die körperlichen Anforderungen sind im klassischen Tanz höher als in jeder anderen Kunst. Wie in den meisten Leistungssportarten, liegt die Altersgrenze für Ballett-Tänzer bei etwa vierzig Jahren. Der Körper wird müde, er wird empfindlicher, Schmerzen, Abnutzungserscheinungen und Verletzungsgefahr nehmen zu. Nicht selten aber sind die Ausdruckskraft, die darstellerischen Fähigkeiten der Tänzer erst in dieser letzten Phase voll entfaltet. Fünfundzwanzig Jahre und länger haben sie Erfahrungen in ihrer Kunst gesammelt, seit ihrer Kindheit füllen sie einen inneren Wissensspeicher mit Details über das richtige En dehors - die Auswärtsdrehung der Beine von den Hüften aus, oder die Neigung des Kopfes beim Epaulement. Man könnte sie nachts wecken und sie könnten erklären, was Petipa dachte, als er den Grand Pas de deux in "Dornröschen" schuf und warum Balanchine Strawinsky brauchte, damit dieser ihm die Zeit in tänzerisch interessante Einheiten einteilte. Und dann von einem Tag zum nächsten, hängt von diesem Wissen und der Fähigkeit, es in Sekundenbruchteilen in eine Bewegung einfließen zu lassen, nichts mehr ab. Der Vorhang ist gefallen, der Tänzer hat dreißig Jahre getanzt, aber alt ist er eigentlich nicht.

    Als Alessandra Ferri jetzt in Hamburg als Gast John Neumeiers auftrat, wurde ein bis auf den letzten Platz gefülltes Opernhaus atemloser Zeuge einer letzten Vorstellung. Ferri spielte Neumeiers "Kameliendame" und nahm in dieser Rolle ihren Abschied von der Bühne. Sie ist vierundvierzig Jahre, was man weder ihrer Gestalt, noch ihrem Ausdruck und schon gar nicht ihrer makellosen Technik ansieht.

    Ferri verließ mit fünfzehn ihre Heimatstadt Mailand, um an der Royal Ballet School in London zu studieren. Der Gewinn des Prix de Lausanne bei dem legendären Schweizer Ballettbewerb ermöglichte es ihr, noch länger an der Royal Ballet School zu bleiben. Umstandslos wurde sie in die Compagnie des Royal Ballet aufgenommen und entwickelte sich zu Kenneth MacMillans Muse. Wenige Jahre später machte sie das American Ballet Theatre in New York zur Solistin. Ferri tanzte alle großen Rollen des klassischen Repertoires. In ihrer Heimatstadt war sie ständiger Gast der Scala.
    Doch nicht nur sie in Zukunft fehlen. Im Augenblick lichten sich die Ränge der großen Ballerinen Europas. Sylvie Guillem macht sich schon länger rar, tanzt "Schwanensee" in Japan und zeigt in Europa statt klassischer Rollen zeitgenössische Meisterwerke, die Russell Maliphant und Akram Khan für sie geschaffen haben.

    Darcey Bussell hat in Covent Garden gerade ihre letzte Vorstellung gegeben, Heather Jurgensen in Hamburg. In der neuen Generation gibt es zwar vielversprechende Tänzerinnen, aber Polina Semionova oder Zenaida Yanofsky wirken doch noch sehr jung. Was die Magie einer beeindruckenden Tanzdarstellerin ausmacht, zeigte Alessandra Ferri in Hamburg noch einmal in konzentrierter, sehr bewegender Form. Neumeiers Kameliendame, 1978 für Marcia Haydée und das Stuttgarter Ballett geschaffen, ist sein vielleicht bestes Stück. Unbeschwerter Leichtsinn, tiefes Glück und schließlich der Verlust des Geliebten und der Tod verlangen der Tänzerin der Marguerite Gautier alles ab. Ferris erst im Spiel lieblich erscheinendes Gesicht, ihr zarter, kleiner Körper, perfekt von den schmalen Armen bis zu den herrlich gewölbten Füßen ließ die Rolle wie für sie gemacht erscheinen.

    Nachdem sie die Kokotte im 1. Akt nur mit einiger Verlegenheit hinter sich gebracht hatte, spielte Ferri die Liebende, die Verzichtende und schließlich an diesem Verlust Zugrundegehende mit großer Hingabe, kluger Ökonomie der Mittel und mit einer technischen Vollkommenheit, die das ganze Haus für sie einnahm. Es wurde sehr still im letzten Akt, und das lag nicht an den Philharmonikern Hamburg und ihrer herrlichen Chopin-Interpretation.