Archiv


Abseits der breiten Wege

Es gibt viele Bücher, die bei Kindern Lesefreude wecken, doch nicht immer finden sie einen Verleger. Einige Verlage suchen die Bücher abseits der breiten Wege und legen großen Wert auf die Authentizität der Autoren und Geschichten.

Von Florian Felix Weyh |
    "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass alle Kinder, die unsere Bücher gelesen haben, ein Buch stets zu Ende gelesen haben. Wie wir hören, ist das eine sehr seltene Tatsache, die bei sehr vielen anderen Büchern eben nicht der Fall ist."

    So spricht ein Verleger, der mit seiner Arbeit zufrieden ist, weil er sich nicht damit bescheidet, Bücher bloß verkaufen zu wollen. Gefesselt sollen die jungen Kunden von ihnen sein! Otfried Wolfrum, seines Zeichens Spätberufener im Literaturbetrieb, schließt mit dem Abenteuer-Verlag für Kinder namens Laetitia einen biographischen Bogen, der früh begann. Denn:

    "Nach dem Abitur hat es mich nicht mehr gehalten in den engen Grenzen Deutschlands. Ich bin dann längere Zeit als Tramper durch Europa gezogen, und später habe ich dann eine Ausbildung zum Bordfunker gemacht und war eine ganze Weile auf hoher See, auf großer Fahrt und dieses unstete Leben hat mich eigentlich nie verlassen! Ich bin später dann Geodät geworden, Vermessungsingenieur, und nach dem Ende des Studiums bin ich nach Südafrika gegangen, habe da einen Lehrberuf aufgenommen an der Universität in Kapstadt und bin dann in dieser Zeit auf Expeditionen auch im Inneren Afrikas gewesen. Also mein Leben war unruhig, es war unstet, ich liebte eigentlich auch das Exotische und auch in gewisser Weise das Gefährliche.

    Ich wollte eigentlich erstmal was ganz anderes machen, ja? Und war dann bei der Bank, zwei Jahre als Trainee, "

    sagt ein anderer Beteiligter unserer heutigen Sendung, Konrad von Kloeden. Er suchte das Abenteuer auch im Ausland, jedoch nicht auf hoher See, sondern in der Wirtschaft:

    "Ich war bei der BNP Paribas, also in Frankreich, aber hab danach festgestellt, dass das doch nichts für mich ist. Kam in den Ferien hier nach Hause und hab gesehen, dass mein Vater mich hier sehr braucht, und dann hab ich auch gesehen, dass Spielzeug wirklich meine Welt ist und dann bin ich spontan hier eingestiegen."

    Das verlangt freilich nach einer Ergänzung durch den Vater:

    "Er ist allerdings schon seit seinem sechsten, siebten Lebensjahr fuhr er mit mir aus, es gab ja mal Zeiten, wo wir Kindergartenaufträge hatten – das ist schon wirklich wie in Friedenszeiten – und da fuhr er immer mit, auch im Laden hat er ausgeholfen, also er ist eigentlich seit dem 7. Lebensjahr bei uns hier."

    Denn der Betrieb, in den Konrad von Kloeden reumütig zurückkehrte, ist ein Spielzeuggeschäft. Eines jener wunderbar verwinkelten Kellerparadiese, in denen man stundenlang herumstöbern kann, um Schätze zu finden, die manchmal sogar noch D-Mark-Preisauszeichnungen tragen, weil bei v.Kloeden, der traditionellsten Spielwarenhandlung im Westen Berlins, das Angebot nicht im schnellen Wechsel der Halbjahresmoden ausgetauscht wird. Unter den Sachen mit verlockender Patina befinden sich selbstredend auch Bücher.

    "Ich war im Beltz Verlag,"

    erklärt der Vater, Friedrich von Kloeden.

    "Danach hab ich mich selbständig gemacht, und dann hatten wir eine pädagogische Fachbuchhandlung mit Testauslieferung, alle Schultests gingen über uns. Und irgendwie, als ich dann Kinder bekam, dann fehlten so Bilderbücher. Das gab’s früher im Buchhandel nicht. Bilderbücher wurden immer sehr stiefmütterlich behandelt. Dann hatte ich die aufgenommen, und irgendwann hatte ich noch ein Fernstudium für Betriebswirtschaft gemacht, und da hieß es irgendwann mal: Man muss immer Systemlösungen bringen. Und dann kam ich drauf, auch Spielzeug zu haben. Und so sind wir jetzt eine Spielwarenhandlung, obwohl wir an sich vom Ursprung her eine Buchhandlung sind."

    Und ein Verlag, der seine Bücher über vierzig Jahre lang lieferbar hält, darunter wahre Schätze wie ein vergessenes Werk von Janusz Korczak. Von solchen Funden abseits der breiten Wege, soll heute berichtet werden, alte wie neue, aber in jedem Fall lesenswerte. Der Mainstream ist im Kinderbuch nicht weniger stark und ausgeprägt als bei Erwachsenen und lässt vergessen, dass es mehr als nur ein Dutzend Großverlage gibt. Die kleinen zu finden, kostet manchmal etwas Mühe, wie Friedrich von Kloeden ketzerisch anmerkt:

    "Wenn Sie mal die großen Buchhandlungen sehen, da sehen Sie sechs, sieben Verlage … mehr ist nicht! Und die werden 30, 40 stückweise angekauft, mit einem Superrabatt, den ein normaler Buchhandel gar nicht bekommt – ich hab schon mal gehört von 60 Prozent, kann’s kaum glauben, aber es soll so sein – und da sehen Sie immer die gleichen Stapel, zum Beispiel bei Beltz, immer gelb hängt da rum. Und das ist eben die Chance von uns und vielleicht von vielen anderen kleinen Buchhandlungen, die so in der Provinz noch existieren. Hoffentlich!

    Für einen kleineren Verlag ist es, wie wir eben merken müssen – das ist nun mal so –, ist es nicht so einfach, den Buchhändler auf seine Seite zu ziehen,"

    bestätigt Otfried Wolfrum vom Laetitia-Verlag.

    "Der Buchhändler ist festgelegt, aus verschiedenen Gründen, er braucht die Werbung der großen Verlage, die wir nicht so bieten können, obwohl wir natürlich auch Werbung machen. Da gibt es natürlich sofort einen Mainstream. Und wir wollen bei diesem Mainstream nicht unbedingt mitmachen. Wir wollen eine Alternative bieten, und das können wir auch."

    Diese Alternative heißt klassische Abenteuerromane für Heranwachsende, Jungen zumal, die nach allen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte eine abnehmende Lesekompetenz aufweisen. Gewiss, auch sie sind Fans von Harry Potter und tauchen ab in diverse Fantasy-Universen, doch Otfried Wolfrum ist davon überzeugt, das könne nicht alles sein: Es fehle, womit Generationen an jungen Lesern groß geworden sind, jene Bücher, die in fernen, doch existierenden Ländern spielen und aus der Konfrontation mit dem Fremden ihren Reiz beziehen. Kein ganz einfaches Unterfangen:

    "Das Abenteuerliche ist aus der Welt etwas verschwunden. Zu Zeiten von Karl May oder Gerstäcker oder Möllhausen waren die Dinge sehr viel einfacher. (…) In deren Zeit war das Gegenwart. Die schrieben über den amerikanischen Wilden Westen, den jeder junge Mensch hätte in dieser Weise damals erleben können. Das ist vorbei heute. Das macht es natürlich schwierig, exotische Literatur zu schreiben."

    "Die Goldsucher" von Friedrich Gerstäcker hat Laetitia in sein Programm aufgenommen, aber es ist das einzige Reprint. Alle anderen Titel stammen von sehr lebendigen Autoren, die keine mausgrauen Schreibtischexistenzen sein dürfen, sondern die Welt kennen sollten:

    "Eigentlich alle unsere Autoren, die wir verlegen, schreiben über Dinge, von denen sie wissen. Wir haben in unserem Programm Australier, die also in Australien ihr Leben verbracht haben, auch in sehr extremen Gebieten. Wir haben einen Autor Ryan, der ist selber im Outback geboren, hat dort seine Kindheit verlebt. Dann haben wir einen Wolfgang Bittner, der jahrelang ausgedehnte Reisen in Kanada gemacht hat. Also das sind alles Leute, die wissen, worum es geht, und die auch dadurch so besonders interessant schreiben können, auch im Detail."

    Von Wolfgang Bittner, dem bekanntesten Autor des Laetitia-Verlags, erscheinen 2006 "Die Lachsfischer vom Yukon". Doch die wichtigste und produktivste Autorin heißt Marianne Haake:

    "Sie arbeitet im Stillen, sie meidet die Öffentlichkeit, sie gibt keine Interviews, aber sie hat uns zehn Manuskripte bisher abgeliefert, und sie wird das weiterhin jährlich mindestens ein Manuskript tun. Auch sie ist ein Autor – oder Autorin – die über Dinge schreibt, die sie kennt. Sie ist in verschiedenen Ländern gewesen und kann auch interessante abenteuerliche Bücher schreiben, die hier in Deutschland – im Englischen sagt man "round the corner" –, die also so passiert sein können, und das ist der große Vorteil, den die Haakeschen Bücher haben gegenüber Fantasyliteratur, das es Bücher sind mit Handlungen, die so geschehen sein können."
    Marianne Haake: "Ein Onkel in Amerika"
    Ulrich folgte Roger dicht auf den Fersen. Sie mussten sich mühevoll einen Weg bahnen, obwohl Roger hier schon gegangen war. "Am Anfang kam man nicht durch", erklärte er, "ich musste ein Messer benutzen, kaum ein Mensch kommt jemals hierher." Dann stießen sie auf eine natürliche Lichtung. Ulrich rief überrascht: "Ein Zelt!" Tatsächlich stand da im Schatten eines Baumes ein Zelt. Roger grinste. "Ein gutes Versteck, was?"

    "Und ob", rief Ulrich begeistert, "eine tolle Idee!" Doch dann sah er Roger unsicher an. "Eine tolle Idee, natürlich", wiederholte er zögernd, "aber glaubst du wirklich, es ist so ernst, dass wir uns hier verstecken müssen?"

    Roger grinste nun nicht mehr, und Ulrich fand, er sah plötzlich viel älter aus. "Ich würde auch lieber nur so zum Spaß hier sein, aber ich glaube leider, es ist verdammt ernst."

    Eine Weile schwiegen beide. Dann sagte Ulrich: "Wollen wir hier draußen bleiben oder ins Zelt gehen? Ich habe nämlich eine Menge zu erzählen."

    Roger nickte. "Schätze, wir haben ohnehin mächtig viel zu besprechen." (…) Er schlug die Eingangsplane zurück. Eine Luftmatratze mit Decken bildete ein bequem aussehendes Lager. Ein primitiver Tisch stand in der Mitte. "Den hab ich selber gebaut", erklärte er, "Äste liegen hier genug herum und die Holzplatte hab ich mitgebracht. Morgen hole ich noch zwei Campingstühle."

    "Die Luftmatratze, die Decken", sagte Ulrich langsam, "willst du hier etwa schlafen?"
    Roger nickte. "Hab an so was gedacht."

    "Hör mal...", begann Ulrich.

    Aber Roger hob abwehrend die Hand. "Erst zeig ich dir alles, okay?" Hinter dem Zelt wies er auf eine primitive Kochstelle. Ein alter Topf stand darauf und ein paar Konservendosen lagen daneben. "Kann auch nötig werden, wenn ich vielleicht nicht so schnell nach Hause komme." Ulrich verkniff sich eine Frage und folgte Roger über die Lichtung. (…) Nun gingen sie ein Stück am Rande der Wildnis entlang, und Ulrich fragte sich schon, was Roger hier noch wollte, als er stehen blieb und auf einen Baum zeigte, der mit seiner buschigen Krone aus der Wildnis hervorragte. "Dorthin schlage ich mir einen Weg, das wird mein ...", er zögerte, "mein ... na, wie sagt man in Deutsch?"

    Ulrich überlegte. "Meinst du etwa deinen Ausguck?"

    "Genau!", rief Roger, "und ich schätze, ich kann von da mit dem Fernglas noch eure Farm erkennen."


    Die Situation "round the corner" ist beim "Onkel in Australien" nicht gegeben – wohl aber alle anderen Zutaten eines klassischen Abenteuerromans. Der 12-jährige Ulrich soll eine hartnäckige Erkältung im trockenen Klima Australiens auskurieren – doch sein Onkel scheint nichts von seiner Ankunft zu wissen, ja verhält sich samt Lebensgefährtin sonderbar und verdächtig. Im deutschstämmigen Nachbarsjungen Roger findet Ulrich einen Verbündeten zur Klärung der immer drückender werdenden Situation, wie bei "Tom Sawyer" beziehen beide eine einsame Flussinsel. Zum Schluss kommen zwar schlimme Dinge zum Vorschein, doch der Übeltäter der Geschichte steht unter hohem existenziellen Druck. Ein Bruch mit dem Gut-Böse-Schema des Genres?

    "Es kann ruhig gut und böse geben, besonders für Kinder. Es kann schwarz und weiß geben, es kann hell und dunkel geben. Kinder sind noch nicht so weit. Die Zwischentöne, die Grautöne, das Reflektierende, das ist etwas, das einem späteren Lebensalter vorbehalten bleiben kann. Dann kann man später Dostojewski lesen, dort wird sehr differenziert. Aber Kinder müssen erst einmal in diese Welt hineinwachsen, und da schadet es nicht, dass man ruhig ein etwas gröberes Raster nimmt."

    Diesen Freibrief benötigt Marianne Haake aber gar nicht. Ihr "Onkel in Australien" besticht durch Unheimlichkeit und die Stimmung einer lauernden Drohung, ohne auf drastische Special Effects zurückgreifen zu müssen: Filmblut überflüssig!

    "Das ist die Spezialität von Marianne Haake! Sie schafft Atmosphäre und sie schafft Situationen, wo Kinder in sehr brisante und manchmal aussichtslose Situationen geraten … das Ende ist natürlich immer gut! So soll’s auch sein bei Kindern. Das Leben ist nachher schlimm genug, und da kann’s in der Kindheit ruhig bisschen besser aussehen, als wie’s nachher ist."

    Gar nicht paradiesisch, sondern vom Kampf gegen Armut, Hunger und Krankheit gezeichnet, verläuft das Leben von "Wladek", dem kleinen polnischen Jungen, in dessen Geschichte sich wohl die Biographie seines Schöpfers Janusz Korczak widerspiegelt.

    "Ich habe in Frankreich diesen Titel gesehen und gehört, und dann dachte ich, das mach ich einfach, das übersetze ich, weil’s im Deutschen noch nicht gab,"

    erzählt Friedrich von Kloeden.

    "Und das stellte sich als sehr schwer raus, das Buch existierte überhaupt nicht! Und dann hab ich einen Priester in Polen, den ich über Bekannte kennen gelernt habe, beauftragt, mal die ganzen Kirchenbüchereien durchzusehen. Und der fand es zuerst auch nicht, und dann durch Zufall – ich weiß nicht mehr, wie das kam –, stellte sich raus, dass diese Geschichte in einer – man höre und staune! – russischen Kinderliteraturzeitung erschienen war. Das ist ganz unglaublich, dass die 1917 oder so was eine Kinderliteraturzeitschrift hatten, so was existierte bei uns ja nicht. Und dann haben wir uns das kommen lassen, als Kopie, und haben es von einer Polin grob übersetzen lassen, und dann eben bearbeitet."

    Janus Korczak: "Wladek"
    Die Ritter wählten einen Hauptführer. Es konnte auch ein Mädchen sein, wenn alle damit einverstanden waren. Ein Mitglied der Ritter durfte weder lügen noch Tiere quälen, nicht rauchen, keine kleinen Kinder ärgern. Er sollte sie bei Gefahr verteidigen und beschützen. Sollte auf dem Hof ein krankes oder behindertes Kind sein und ein Ritter besaß Süßigkeiten, so sollte er sie dem Kleinen oder Unglücklichen geben. Das Gleiche sollte er mit Spielzeug tun, sofern es die Eltern erlaubten. Ein Ritter sollte die aus der Bibliothek entliehenen Bücher niemals beschädigen. Er sollte wöchentlich ein wissenschaftliches Buch lesen. Ein Ritter durfte nicht stehlen – auch aus Jux nicht. Er durfte keine Geschenke von Einfältigeren erschwindeln, durfte keine häßlichen Worte gebrauchen, noch durfte er Possen reißen. Wenn ein Ritter schmutzig geworden war, sollte er sich sofort waschen. Die Kleidung sollte er sauber halten. Wenn er nicht nähen konnte, so sollten ihm die Mädchen die abgerissenen Knöpfe annähen, und es ihm zeigen. Die Ritter sollten sich im Winter jede Woche in einer anderen Wohnung versammeln und einander laut vorlesen – auch für die, die noch nicht lesen konnten. Der oberste Führer bestimmte täglich einen Leiter, der die Aufsicht über den Hof und das Treppenhaus hatte. Seine Aufgaben waren aufzupassen:
    1) dass die Kleinen sich nicht stritten,
    2) dass sie nicht betrogen,
    3) dass sie nicht unanständig waren,
    4) dass sie keinen Müll umherstreuten,
    5) dass sie nicht widerspenstig waren. (…)
    Geld oder irgendwelche Beiträge sollten noch nicht erhoben werden. Man wollte erstmal sehen, wie die Sache lief. Falls die Eltern ihre Kinder prügeln sollten, würden zwei Abgesandte zu ihnen gehen, und sie bitten, es zu unterlassen. Jeder, der zum neuen Ritter ernannt wurde, mußte folgende Eidesformel vorlesen: "Ich ... (Vor- und Zuname) trete in die Vereinigung der "Ritter der Ehre" ein. Ich anerkenne die Parole "Ruhm", die unsterblich macht. Ich weiß, was ich nicht tun darf. Tue ich es doch, so muss ich es eingestehen und nehme die verdiente Strafe an." Fünfmal musste man die Statuten abschreiben. Ein Exemplar bekam Wladek, eines Olek, je eines Natalka und Mania. Das Fünfte legte man in eine Flasche, die man am späten Abend neben dem Telegrafenmasten vergrub; eine Grundsteinlegung für die von ihnen gegründete Vereinigung der Ritter der Ehre.


    "Sehr positiv die Botschaft für Kinder: Glaube an deine Lebensziele, du musst nur richtig dran glauben, dann werden sie eines Tages wahr. Und das ist eigentlich ganz toll auch für die Jugendlichen, die heute einen Beruf suchen, und sich ständig bewerben und oft frustriert sind. Und Korzcak sagt: Glaube wirklich fest an deine Ziele! Du darfst diesen Glauben nie verlieren."

    Konrad von Kloeden glaubt an diesen Titel, der in sympathischer Beständigkeit bis heute in der Originalausgabe lieferbar ist. Wladek schafft es, mit Bildungslust, Neugierde und Fleiß seinem Milieu zu entkommen und am Ende ein erfolgreicher Kinderarzt zu werden. Diese Geschichte kann, wie gute Literatur stets, von jeder Generation neu entdeckt werden. Doch wer nun meint, die Spielwaren- und Buchhändler von Kloeden seien ausschließlich Traditionalisten, irrt sich: Schon Anfang der 60er-Jahre hatte Friedrich von Kloeden ein Geheimrezept gegen die Lesehemmung von Jungen parat, das er heute noch erfolgreich vertritt:

    "Unsere besten Erfahrungen sind dann, dass man ihm Tim und Struppi – oder wenn er sich für Ritter interessiert – Prinz Eisenherz gibt, einen Band. Und das Gute an diese beiden ganz alten, uralten Comics ist, dass da Text drin ist! Und wenn der Junge das wissen will, was da passiert ist, muss er den Text lesen. Das bringt ihn – weil es ja nur ganz kurz ist, hat er auch keine Schwierigkeiten damit – bringt ihn dann nach und nach zum Lesen. Er verliert dann die Angst vor dem Lesen!"

    Lesende Jungen sind selten – schreibende Jungen gar ein Naturwunder! Schon die Ferienpostkarte an die Großmutter bereitet ihnen Qualen, die eigene Wortproduktion beschränkt sich auf SMS-Fragmente. Wie groß ist da das Erstaunen, entdeckt man im BoD-Verlag einen 13-jährigen Autor, dessen Erstling "Die Abenteuer von Kirschie und Buttie" zwar etwas seltsam klingt, doch schon jenen Witz ahnen lässt, der das ganze Werk durchzieht. Es handelt sich um Episoden aus dem Leben von Kirschbonbon und Butterkeks im Lande Fala, also in der Phantasie des jungen Autors:

    Dennis Kunick: "Kirschie und Buttie"
    Kirschie duschte sich mit Kirschsaft, denn schließlich wollte er kein Wasserbonbon werden. Dazu benutzte er noch ein Kirschduschgel und trocknete sich anschließend mit einem roten Handtuch ab. Jetzt fühlte er sich wieder frisch! Er nahm aus seinem selbstgebauten Kleiderschrank ein neues Bonbonpapier heraus und zog es an. "So", sagte er zu sich selbst, "jetzt werde ich mir also meinen Freund backen!" Kirschie holte das Rezept hervor und begann, die Zutaten zu einem Teig zu verrühren. Dann formte er daraus einen prächtigen Butterkeks und ließ ihn 20 Minuten lang im vorgeheizten Ofen backen. Das duftete zwar herrlich nach Butterkeks, Kirschie jedoch fand diesen Geruch nicht besonders lecker, weil er sich eigentlich nur für Kirschprodukte interessierte. Das war auch gut so. Denn hätte Kirschie sich nun einen Kirschkeks gebacken, wäre ihm dieser sicherlich viel zu lecker vorgekommen und er hätte ihn aufgeknabbert. Dann hätte er wieder keinen Freund gehabt und das wäre dumm gewesen. Endlich war der Keks fertig und Kirschie holte ihn aus dem Ofen. Zuerst musste der heiße Keks abkühlen, dann konnte der Bonbon ihn anfassen. Rau und krümelig fühlte er sich an. Aber nun hatte Kirschie ein ernstes Problem: Der Keks lebte nicht! Es war ein stinknormaler Keks, mit dem man sich nicht unterhalten und der auch nicht laufen konnte. Ein Gesicht besaß dieser Unglückskeks ebenfalls nicht. Kirschie schaute sich sein Produkt betrübt an und begann bitterlich zu weinen, weil doch nun die ganze Mühe umsonst gewesen war. Als jedoch eine Träne auf den Keks fiel, geschah etwas Wunderbares: Ihm wuchsen Arme, Beine, Hände, Füße, ein Gesicht und drei Haare! Kirschie war außer sich vor Freude. Jubelnd hüpfte er um seinen neuen Freund herum und sang dazu: "Fallerie und fallera, ich heiß' Kirschie, das ist klar. Und ein neuer Keks geht jetzt mit mir des Wegs!"

    Dennis Kunick liebt das lautmalerische Spiel mit der Sprache und adelt seine Figuren mit wohlklingenden Akronymen wie Wameibo – das stotternde Waldmeisterbonbon – dessen zaghafter Charakter von den Streichen des übermütigen Butterkekses schwer geprüft wird. Natürlich hat das Bonbonland auch Feinde, eine böse Lehrerin etwa, die seinen kindlichen Schöpfer mit unsinnigen Aufgaben malträtiert, so dass er sich gar nicht mehr in seine Phantasien versenken kann. Dann beginnt Fala zu flackern, und die Bewohner wissen, dass sie etwas tun müssen. Zum Beispiel die böse Lehrerin ins Weltall schießen:

    Dennis Kinack: "Kirschie und Buttie"
    Gemeinpla, das war der Planet der Gemeinen, wie der Name schon andeutet. Dort leben nur gemeine Personen und ihr liebster Zeitvertreib ist es, ihren Mitbewohnern das Leben schwer zu machen. (…) "W-wo bin ich?", murmelte die Lehrerin schwach, als sie zu sich kam. Um sie herum standen bereits alle anderen Bewohner des Planeten und starrten sie böse an. "Du bist auf Gemeinpla", sagte eine weißblonde Hexe. Ihre Stimme klang wie klirrendes Eis. Frau Fies schaute sich ängstlich nach allen Seiten um. Sie versuchte aufzustehen, aber als sie sich mit den Händen auf dem Boden abstützte, bohrten sich spitze Dornen und Glasscherben in ihre Handflächen. "Aua!", schrie sie. Sie bemerkte, dass sie blutete.

    "HAHAHA!", lachten da die anderen. Jeder schien sich darüber zu freuen, dass der Neuankömmling sich verletzt hatte.

    "Ich brauche ein Pflaster!", keifte Frau Fies und schaute wütend in die Runde.

    "Hier, bitte schön." Ein Jugendlicher mit hinterhältigem Blick reichte ihr ein großes grünes Pflaster. Aber als Frau Fies es sich auf die Hand kleben wollte, da merkte sie, dass es ein großes Brennnesselblatt war. "WAS SOLL DAS?", schrie sie, "Warum seid ihr hier alle so gemein?"

    "Wir müssen gemein sein", antwortete die blonde Hexe, "schließlich ist das hier der Planet der Gemeinen. Und du müsstest eigentlich auch gemein sein, sonst wärst du doch nicht hier."

    Frau Fies überlegte kurz. "Stimmt", sagte sie, "ich bin tatsächlich ganz schön gemein. Vielleicht könnten wir ja Freunde werden?" Die anderen lachten nur höhnisch. "Freunde?", riefen sie, "So etwas gibt es hier nicht. Wir sind FEINDE! Jeder ist hier der Feind des anderen. Jeder überlegt hier, wie er dem anderen etwas Böses antun könnte."

    "Ach so ist das." Frau Fies wusste nicht, ob sie das gut finden sollte. Sie war es gewohnt gewesen, als Lehrerin ihren Schülern das Leben schwer zu machen. Sie war gemein und die Kinder mussten darunter leiden, denn sie konnten sich nicht gegen die Lehrerin wehren. Das hatte Frau Fies großen Spaß gemacht, denn sie konnte sich immer ungehindert über ihre Gemeinheiten freuen. Aber hier war es anders. Hier musste sie ständig damit rechnen, dass jemand gemein zu ihr war. Da, fand sie, machte das Gemeinsein doch gar keinen Spaß mehr. Sie wollte so schnell wie möglich wieder von diesem Planeten verschwinden.


    Normalerweise müssten auf Gemeinpla auch die Kritiker wohnen, doch diesmal lassen sie sich nicht blicken. Das Buch des 13-Jährigen dürfte gleichaltrige und jüngere Leser durchaus begeistern: Es siedelt nahe an deren Phantasievorstellungen und wirkt keine Minute lang unbeholfen. Dass Dennis Kunick autistisch veranlagt ist, mag seine phänomenale Frühbegabung erklären. Man muss dies aber nicht zwischen den Zeilen mitlesen, so wie es auch keinen Makel darstellt, dass die Geschichte bei Books on Demand erschien. Der letzte Tipp der Sendung gar ist nur übers Internet zu bestellen: Das kleine, aber feine Bilderbuch "Anton, die Nebelkrähe" des Dokumentarfilmers Fritz Poppenberg erhält man auf der Webseite "dreilindenfilm.de". Im Stile klassischer Illustratoren, man fühlt sich stellenweise an Walter Trier erinnert, erzählt Poppenberg von der Seereise eines Birkenblatts und einer Nebelkrähe – ab drei Jahren zu empfehlen und die sieben Euro wert, die es kostet. Auf die Produkte der Großverlage verschwendet man manchmal mehr Geld.

    Literaturhinweise:

    Marianne Haake: "Ein Onkel in Australien"
    Laetitia Verlag
    236 Seiten; 14,90 Euro

    Janusz Korzcak: "Wladek"
    v.kloeden
    100 Seiten; 6,80 Euro
    v. Kloeden Spiel- und Buchwarenhandlung

    Dennis Kunick: "Die Abenteuer von Kirschie und Buttie"
    BoD
    110 Seiten; 9,90 Euro

    Fritz Poppenberg: "Anton die Nebelkrähe"
    Drei Linden Film
    30 Seiten; 7 Euro