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Abstrakte Skulptur

Die "Bewegung", so wie Hermann Obrist sie als Bildhauer sah, bestand aus floralen Naturformen, die sich um eine Säule herumschlängeln; man kann auch sagen: Es gibt einen architektonischen, geometrischen Kern, einen Mast zum Festhalten, und drumherum wuchert die Natur, die allerdings schon stark abstrahiert ist. Sind das Ranken, vom Sturm gedehntes Blattwerk, langgezogene Eisgebilde, ist es der Wind selber? Es bleibt seltsam unklar.

Von Christian Gampert |
    Der 1862 bei Zürich geborene Hermann Obrist war um 1900 enorm einflussreich - als Vertreter eines aufgeklärten Jugendstils, der sich eben auch für die Abstraktion interessierte, zwischen "lodernder" Natur und rationaler, kühler Konstruktion. Er fertigte Möbel und Skulpturen, Stickereien und Architekturen, meist Grabmäler und Brunnen - alles aus dem Gedanken des Gesamtkunstwerks heraus. Vieles ist verschollen, die ursprünglich in Köln - neben dem Werkbundtheater - aufgestellte marmorne "Bewegung" ist hier nur als Gipsmodell zu sehen. Dafür gibt es im Original den "Großen Blütenbaum", einen monumentalen, schimmernden, fernöstlich inspirierten Wandbehang, der die Ausstellung altarartig dominiert.

    Wellen, Muscheln, Kristalle, das waren die Urformen, aus denen Obrist schöpfte; zumindest die Zeichnungen sind nun in den schönen hohen Jugendstilräumen des "Musée Bellerive" ausführlich präsentiert. Andererseits, sagt die Kuratorin Eva Ahfus, habe man mit Obrist lange nicht wirklich etwas anfangen können; jemand, der irgendwo zwischen Rodin und Rudolf Steiner einzuordnen war, der sich zunächst für Korallenmuster oder die unterschiedlichen Stadien einer Pflanze, später aber auch für technische Konstruktionen wie den Stahlgerüst-Eiffelturm begeisterte, der blieb dubios.

    Ahfus: "Es gab in den 50er-Jahren eine Ausstellung, wo Obrist im Zusammenhang mit Jugendstil sehr präsent war, und damit war das dann beendet. Auf der anderen Seite ist hier in Zürich das Verständnis um seine Wichtigkeit nicht so sehr vorhanden gewesen."

    Die kleine Retrospektive versucht da Wiedergutmachung. Man hat in den letzten Jahren viele Fotografien aufgefunden, mit denen Obrist seine plastischen Architekturen dokumentierte: Das beispielhafte "Grabmal Oertel", eine muschelartig schutzbietende Ruhestätte, die zwei schlund-ähnliche Eingänge hatte, ist aus vielen Perspektiven dargestellt - Obrist wollte angeblich die Naturkräfte des umgebenden Raums sichtbar machen; gleichzeitig sind diese Denkmäler symbolisch stark aufgeladen. Ein Forschungsprojekt hat nun die Existenz vieler weiterer Grabmäler recherchiert, sodass das bislang "unsichtbare Meisterwerk" etwas greifbarer wird.

    Die Ausstellung versucht auch, Obrists Einfluss auf eine nachwachsende, ganz an der Moderne orientierte Künstlergeneration aufzuweisen. Zwar ließ der durch Erbschaft wohlhabende Obrist seine Münchner Künstlervilla - von Richard Riemerschmid und Bernhard Pankok - als in sich stimmiges Jugendstil-Juwel ausgestalten, bis hin zu Serviertischen und Schrankbeschlägen; er experimentierte aber gleichzeitig mit neuen Materialien wie Beton und Plastilin, legte eine Vorbild-Sammlung zu technischen Konstruktions-Ideen an - und die reichten von der Wendeltreppe bis zum Ozeandampfer - und fand nach 1914 Kontakt zu den sozialen Neuerern Henry van de Velde und auch Bruno Taut vom Bauhaus, dessen ausgestellte Skizzen zur "Alpinen Architektur" allerdings noch quasi-kosmische Ansprüche bedienten.

    Die kann man auch bei Obrist finden: Spiralbewegungen, Meeresfauna, Kristalle, Berge. Daneben, ganz unvermittelt modern, wachsen Obrists glatte weibliche Plastiken wie bei Rodin aus dem naturbelassenen Stein heraus. Seine Zeichnungen und Aquarelle wiederum entwickeln - aus dem Geist der ornamentalen Linie - Feuerblumen und Felsenbäume, sie feiern Sturzbäche und Felsgrotten, Schlangenviadukte und aufgeklappte Blüten. Die vaginal-erotischen Konnotationen dieser Bilder sind unübersehbar, sie balancieren zwischen Kitsch und Genialität. Nun, Zürich hat eine große Psychoanalytiker-Szene; man wird sich mit Freude über diese Arbeiten beugen.

    Infos:

    museum-bellerive.ch