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Abwertungsspirale in den Problemstadtteilen

Oftmals vor Jahrzehnten als Vorzeigebezirk geplant und gebaut, haben manche Stadtteile heute einen schlechten Ruf. Und so werden Armut, hoher Ausländeranteil oder Kriminalität zum Aushängeschild eines ganzen Viertels. Mit der Entstehung dieses Images haben sich Wissenschaftler befasst.

Von Ursula Storost | 13.09.2012
    Es galt als Wohnviertel der Zukunft: das Großwohnprojekt Märkisches Viertel in Berlin. Eine Kleinstadt. 17.000 Wohnungen für 50.000 Bewohner. Bei Baubeginn 1963 verkündete Bausenator Rolf Schwedler, was da geplant war.

    "Eine städtische Bebauung für den städtischen Berliner Bürger. Und ich glaube auch von dem Punkt aus gesehen, wird der gesamte Plan, das, was hier entsteht für Berlin in den nächsten Jahren eine Attraktion. Nicht nur für die Berliner, sondern auch für die Bauleute und auch für die Besucher von draußen sein."

    Schon fünf Jahre später fand die Wochenzeitschrift "Der Spiegel" andere Bezeichnungen für den Stadtteil: ein Slum vom Reißbrett, ein Musterbeispiel für asozialen Wohnungsbau.

    Das Märkische Viertel hatte bereits vor seiner Fertigstellung 1974 einen denkbar schlechten Ruf. Verursacht nicht zuletzt durch Journalisten, behauptet Dr. Christiane Reinecke.

    "Die eben draufhalten auf saufende Jugendliche, Familien, die Probleme mit der Erziehung ihrer Kinder haben. Die, wenn sie in diese Viertel kommen, eher die problematischen Häuser zeigen, die problematischen Stellen des Viertels. Und dadurch wird eigentlich so ein Bild verdichtet von sozialen Problemen. "

    Ein Bild, das in den Köpfen hängen bleibe und durch mediale Berichterstattung immer weiter festgeschrieben werde. Sei der Ruf erst ruiniert, werde ein randalierender Jugendlicher hier weitaus mehr im öffentlichen Fokus stehen als einer aus traditionell bürgerlichen Vierteln, sagt die Historikerin. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg beschäftigt sich mit der Frage, warum Wohnviertel in Verruf geraten. Auch solche, die eigentlich fortschrittliche Konzepte einer Stadtplanung verfolgen. Wo Menschen in hellen, sonnigen, luftigen Wohnungen im Grünen leben sollen.

    "Neue Bewohner, die in diese Großsiedlungen einziehen, empfinden das zunächst Mal als sozialen Aufstieg. Wenn die aus diesen innerstädtischen, nicht sanierten Wohnungen kommen, in denen die vielfach gewohnt haben, die eben in den späten 60er-Jahren nicht saniert sind. Klo auf dem Hinterhof oder keine besonders guten Wohnungen. Und in Wohnungen ziehen, die tatsächlich ja im Grünen liegen. Und das sind größere, weitere, viel besser ausgestattete Wohnungen."

    Wohnungen, die aber teurer seien als unsanierte Stadtwohnungen, sagt Christiane Reinecke. Die Folge: Wer krank wird, wer seine Arbeit verliert, wer sich vom Partner trennt, gerät schnell in Zahlungsrückstand.

    "Teilweise im Viertel, wie im Märkischen Viertel, ist die Zahl von Zwangsräumungen vergleichsweise hoch. Und wird dann auch noch stark wahrgenommen."

    Und bringt wieder negative Punkte für das Image. Hinzu komme, dass es de facto Planungsfehler gebt. Mangelnde Infrastruktur, zu wenig Spielplätze, fehlende Jugendeinrichtungen. Seit den späten 60-er-Jahren wurde zudem auch in Fachkreisen immer mehr Kritik geübt. Gegen Standardisierung, gegen Massenproduktion, erzählt Christiane Reineke. Großbauten wurden assoziiert mit Vereinzelung und grauem Alltag in grauen Häusern.

    "Und dann setzt zunehmend in den 70er-Jahren eine Dynamik ein, eben weil diese Viertel nicht als besonders schön gelten. Dass Familien, die es sich leisten können, anfangen, rauszuziehen aus diesen Vierteln. Das ist dann eine Dynamik, die in den 80er-Jahren noch mehr zunimmt. Das heißt, es bleiben in der Tendenz die Familien zurück, die eben nicht irgendwo anders hinziehen können."

    Um die gleiche Zeit entstehe eine zunehmende Angst vor Gettoisierung, die von Polizei, Presse und den Sozialwissenschaften immer lauter formuliert werde.

    "Dass auch im deutschen Kontext es zu so Gettos kommen kann wie in den USA. Der konkrete Bezugspunkt dieser Ängste, die vermehrt seit den späten 60er-Jahren formuliert werden, ist der Zuzug ausländischer Migrantinnen und Migranten, der in der Bundesrepublik seit den späten 60er-Jahren zumindest als Problem empfunden wird."

    Und das, obwohl der Zuzug von Ausländern damals noch verschwindend gering war, konstatiert der Stadt- und Regionalsoziologe Dr. Joachim Häfele von der HafenCity-Universität in Hamburg:

    "Es hat sich halt leider Gottes etabliert, dass ein hoher Migrantenanteil in einem Stadtteil meistens als Indikator gesehen wird für einen problematischen Stadtteil."

    Und als Stadtteil mit hoher Kriminalitätsrate, betont Joachim Häfele.

    "Stimmt aber überhaupt nicht. Ausländische Mitbürger sind in der Regel wesentlich weniger kriminell als deutsche. Sie sind sogar wesentlich normkonformer als Deutsche. Das sieht man aber erst, wenn man die Statistiken genau anguckt. Und das wird leider in der Regel nicht gemacht."

    Ein Hamburger Stadtteil, für den dieses Negativimage zutrifft, ist Wilhelmsburg, ein ehemaliges Arbeiterquartier mit etwa 50.000 Einwohnern. Viele von ihnen Migranten. Wilhelmsburg hat seit Jahren ein schlechtes Image - bei denen, die nicht dort wohnen.

    "Viele von denen waren noch nie in Wilhelmsburg. Das ist erschreckend, wenn ich mit Menschen spreche. Aber dennoch haben sie ein relativ schlechtes Bild über den Stadtteil, das in der Regel fast ausschließlich über Medien vermittelt wurde."

    Häufig würden die Bewohner sich über das Etikett Problemstadtteil aufregen, weiß der Soziologe. Allein die Bezeichnungen problem- oder entwicklungsbedürftiger Stadtteil seien stigmatisierend und hätten schwerwiegende soziale und ökonomische Folgen.

    "Also der Wegzug von ganzen ökonomischen Strukturen hängt häufig damit zusammen, dass der Stadtteil insgesamt schlecht dasteht. Die gut Situierten wegziehen et cetera. Obwohl, wenn man da hingeht, genau hinguckt, sich fragt: Ja, was meinen die eigentlich jetzt."

    Auch gäbe es so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, behauptet Joachim Häfele. Wenn jahrzehntelang über ein Quartier abwertend gesprochen würde, würden die dort lebenden Menschen irgendwann die schlechten Zuschreibungen übernehmen und selbst glauben, dass ihr Viertel problembeladen sei. Dadurch würden sie selbst zu Multiplikatoren des schlechten Rufs.

    "Inzwischen ist es so, dass immer mehr Bürger, am Beispiel von Wilhelmsburg, sich aufgrund ihrer Herkunft im Stadtteil tatsächlich minderwertig fühlen. Das heißt, wenn es drum geht, wo kommen sie her, haben sie schon Schwierigkeiten zu sagen, ich komm aus Wilhelmsburg, obwohl sie sich eigentlich in dem Stadtteil relativ wohlfühlen."

    Was für sogenannte Problemstadtteile tatsächlich zuträfe, sei verbreitete Armut. Und das bedeute nicht nur, dass man dort keine teuren Boutiquen und Feinkostläden fände.

    "Inzwischen gibt es Studien, hab ich auch in meinen eigenen Studien herausgefunden, dass Armut eben auch Angst macht. Und dass Armut eine sehr diffuse Angst erzeugt. Das heißt, die Menschen haben generell mehr Angst. Sie fühlen sich generell unsicherer. Und sie sind generell sensibler gegenüber allen Formen von Unordnung. Von den Jugendlichen, die am Straßenrand rumstehen. Von dem Bettler, der da an der Straße sitzt. Oder von dem Drogenabhängigen, der irgendwo sich aufhält im Stadtteil. Das heißt, der Grad der Armut auf Stadtteilebene hat einen ganz starken Effekt auf die Wahrnehmung der Menschen im Stadtteil und damit auf das Sicherheitsgefühl."

    Doch die Entwicklung in sogenannten Problemstadtteilen umzukehren, ist schwierig. Denn immer häufiger werden einkommensschwache Menschen aus den Innenstädten verdrängt. In Wohnviertel am Stadtrand. Zum Beispiel nach Wilhelmsburg.

    "Die Gefahr besteht durchaus, dass sich eben die Art der Stadtteile immer weiter auseinander differenziert. Und dass wir immer eine stärkere Konzentration von Menschen ohne Job, ohne gute Ausbildung in bestimmten Stadtteilen haben. Die Gefahr besteht ganz klar."

    Dr. Silvia Stiller ist Forschungsdirektorin am Hamburger Weltwirtschaftsinstitut und Autorin einer Studie über Hamburger Stadtteile. Darin zeigt sich, dass sich manche Stadtteile schon heute sowohl ökonomisch als auch vom Bildungsniveau her deutlich voneinander abheben. Und damit auch vom Image. Verkleinern könne man die Kluft nur, wenn die Potenziale der jungen Generation gezielt gefördert und verstärkt auf Bildung gesetzt werde.

    "Die Schlüsselrolle spielt definitiv die Bildung. Die Bildung ist die Grundlage dafür, dass Menschen Beschäftigung finden. Es muss vielmehr getan werden dafür, dass Menschen einen Schulabschluss erreichen können. Ich denke der Abbau von Jugendlichen ohne Schulabschluss sollte ein ganz wichtiges Thema sein."