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Achim Laude; Wolfgang Bausch: Der Sport-Führer. Die Legende um Carl Diem.

Er war ein Spitzenfunktionär des deutschen Sports, der im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und auch noch in der Bundesrepublik großen Einfluss ausübte: Carl Diem. Mit 14 Jahren gründete er seinen ersten Sportverein, um die Erziehung zur Leibesübung bald auch zum Beruf zu machen. Im Sport, seiner großen Leidenschaft, konnte er sich rasch profilieren. Stets bekleidete der aus ärmlichen Verhältnissen stammende, 1882 in Würzburg geborene Diem wichtige Ämter. Trotzdem wissen heute nur noch wenige, dass etwa das Sportabzeichen oder die Bundesjugendspiele auf Diems Initiative zurückgehen. So weit - so ehrenvoll. Festzuhalten bleibt jedoch ebenfalls, dass Diems Rolle als Sportfunktionär im Dritten Reich eine ausgesprochen fragwürdige war und ist. Eine Biographie aus dem Göttinger Verlag "Die Werkstatt" bringt jetzt Licht in das widersprüchliche Leben des Carl Diem. Hören Sie eine Rezension von Khosrow Nosratian.

Khosrow Nosratian | 13.11.2000
    Für Carl Diem war der Spitzen-Sportler das Sinnbild des lebenstüchtigen Deutschen. In Schul-, Vereins- und Heeresturnen sollte er dem Vaterland dienen. Dabei betonte Diem schon früh eine 'innere Verwandtschaft' zwischen dem Sport und dem Krieg zu Zwecken der 'wehrhaften Volksgesundheit'. Im pathosseligen Sprach-Kitsch des jugendbewegten Vitalismus formulierte er einmal sein Programm.

    Also nicht allein der gesunde Leib, nein, der gestählte Leib, der mit einem herrschenden Willen und einem feurigen Geiste verbunden und von edel gerichteter Seele gebändigt ist, der bringt uns das Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle dringt.

    Achim Laude und Wolfgang Bausch haben in ihrem Buch 'Der Sport-Führer' den Lebensweg Carl Diems nachgezeichnet. Ihre vorzügliche Darstellung besticht durch genaue Kenntnisse der organisatorischen Verzahnung von Sport und Politik, die auch die Entwicklung vom bescheidenen Wettkampf zum medialen Massenereignis beleuchtet. In der Aufklärung der Handlungsoptionen der wichtigsten Entscheidungsträger um Diem herum liegt ein Schwerpunkt der Studie. Die Autoren schreiben somit zentrale Kapitel der deutschen Sportgeschichte als veritable Lehrstücke um Macht und Moral. Dabei zerstören sie 'Die Legende um Carl Diem', wie der Untertitel ihres Buches lautet. Und das aus guten Gründen. Kritisch untersuchen die Autoren den sportpolitischen Geltungsanspruch jener Sekundärtugenden, die Diem zu moralischen Leitwerten im Kampf ums deutsche Dasein verklärte.

    Leibesübung sei ein Jungbrunnen des Leibes und ein Stahlbad der Seele, sei Hammer unseres Charakters und Wetzstein unseres Willens.

    Bieder und brüderlich, fügsam und zäh, selbstlos und opferbereit - so sah Diem die athletische Vollendung der moralischen Erziehung zur sogenannten 'sittlichen Persönlichkeit'. Der Kampf, der Sport und Krieg verband, sollte der 'Auslese der Besten' dienen. Die Aufzucht sportlicher Kaderkerne zum Zwecke der Aufopferung nahm den höchsten Rang ein.

    Die Erziehung zur Opfertätigkeit ist eine ernste Sache. Darauf beruht die Kraft einer jeden Nation. Wo die Opfertätigkeit aufhört, hört auch das Vaterland auf!

    Man hört es: Carl Diem war ein stramm autoritärer Charakter mit einer deutlich antidemokratischen Grundeinstellung. Ein Patriot, der Gemeinschaft, Volk und Vaterland fest verbunden sah. Das prädestinierte ihn für eine herausragende Rolle im System des Nationalsozialismus. In der Zielperspektive einer 'nationale(n) Durchglühung des Sports' stimmten Diem und die Nazis ohnehin überein. So konnte der Sportwissenschaftler Hajo Bernett Carl Diem einen 'Handlungsgehilfen der Gleichschaltung" nennen, stellte er doch seine professionellen Fertigkeiten und seine internationale Reputation ohne Aufmucken in den Dienst der "weltanschaulichen und organisatorischen Anpassung"

    Diems Hauptaufgabe bestand zu Beginn der dreißiger Jahre in der Vorbereitung der Olympischen Spiele 1936. Hitler hatte schon 1933 ein lebhaftes Interesse signalisiert, Goebbels sicherte die Unterstützung durch das neu gegründete Reichspropagandaministerium zu. Mit Diems ideenreichen Initiativen waren die Nazigrößen hochzufrieden. Auch Diem hatte keinen Grund zur Klage. Noch in seiner Autobiographie lobt er den Entschluss Hitlers, an Stelle des alten Berliner Grunewaldstadions das völlig neue 'Reichssportfeld' errichten zu lassen, das als "völkische Kultstätte des Nationalsozialismus" Sport und Politik verschmelzen sollte. Mit großem Täuschungsaufwand wurden die Olympischen Spiele 1936 gegenüber der Weltöffentlichkeit als "Symbol für die Konsolidierungsphase des NS-Regimes" verkauft. Hitler ließ ein gigantisches Spektakel in Szene setzen.

    Am 3. August 1936 notierte Goebbels in seinem Tagebuch:

    Diese Olympiade ist ein ganz großer Durchbruch.

    Und auf dem Nürnberger Reichsparteitag nach Abschluss der Spiele formulierte Rudolf Heß vor den braunen Kameraden Klartext.

    Niemals wären die Olympischen Spiele nach Deutschland gelegt worden, wenn die Abstimmung über ihren Ort stattgefunden hätte, nachdem wir an der Macht waren. Wir haben allen Grund, der Vorsehung dankbar zu sein.

    Aus taktischer Rücksichtnahme auf das Internationale Olympische Komitee IOC beschränkten die Nazis sogar ihre antisemitische Propaganda. Dieses Kernelement des faschistischen Rassenwahns blieb dem mit einer Jüdin verheirateten Diem zeitlebens fremd. Er war ein nationalkonservativer Eisenfresser, aber kein Mitglied der NSDAP, die ihn ihrerseits argwöhnisch beobachtete. Ein Bericht der Berliner Gauleitung macht ihn 1939 dafür verantwortlich, dass vor '33 an den Sporthochschulen "ein ungewöhnlicher Prozentsatz Juden als Sportlehrer und in der Verwaltung beschäftigt" gewesen sei.

    Es ist ferner bekannt, dass Dr. Diem in der damaligen Zeit auch im Privatleben Verkehr mit Juden pflegte. Auch das bisherige Verhalten des Volksgenossen Diem hat nicht erkennen lassen, dass er sich in seiner politischen Haltung wesentlich geändert hat.

    Diem selbst entwarf den Auftakt der Sportveranstaltung wie ein Gesamtkunstwerk. Er blieb bei seinen Leitmotiven: Vaterlandsliebe und Opfertod. Dramaturgisch geschickt montierte er eine historische Parallele zum antiken Griechenland.

    Um die geistige Verbindung der modernen Olympischen Spiele mit der Sportkultur der alten Griechen zu versinnbildlichen, wird ein riesiger Fackel-Staffel-Lauf unter Beteiligung von rund 3000 Läufern durch sieben Länder hindurch binnen zwölf Tagen von der Stätte der antiken Olympischen Spiele zu Olympia zur Eröffnungsfeier in Berlin ein Feuerbrand herbeigeholt, mit dem alsdann ein Feuer, das in einem Kandelaber über dem Stadion brennen soll, entzündet wird.

    Aber das Vorbild war nicht das demokratische Athen, sondern das kriegerische Sparta. Die Autoren zitieren einen Aufsatz Carl Diems von 1933:

    Unsere Zeit ist erfüllt von einem Geiste, der der besten Zeit Spartas entspricht, auch bei uns Zucht, Unterordnung, Erziehung auf Gemeinschaft und Härte. Staatsautorität hier wie dort!

    Diems theatralisch aufgedonnerter Berliner Bilderbogen in fünf Aufzügen sorgte für die nahtlose Übersetzung der olympischen Idee in die nationalsozialistische Ideologie.

    Mit seinem Festspiel 'Olympische Jugend' interpretierte Diem den Olympischen Gedanken erstmals auch in der Öffentlichkeit als Kampfes- und Todeskult und gab den Spielen auf diese Weise eine politische Dimension.

    Todesverachtende Kampfesmythen pflegte Diem noch kurz vor Kriegsende, als er vor Jugendlichen die Bereitschaft zum Opfertod im letzten Aufgebot der Nazis, dem sogenannten Volkssturm, predigte. Das Loblied auf den ruhmreichen Heldentod hatte Diem zuvor auf zahlreichen Vortragsreisen im Rahmen der Truppenbetreuung intoniert. Auch nach Kriegsende bildete das obskure Geschichtsbild, das Sparta und Berlin verklammerte, kein Hindernis für weitere Karrieresprünge. Schon 1948 sah man ihn als einzigen Deutschen in der Loge für Ehrengäste des IOC bei den XIV. Olympischen Spielen in London. Auch in Helsinki 1952 und in Melbourne 1956 durfte man ihn in Leitungsfunktionen bewundern. 1957 schließlich feierte ihn der Präsident des Deutschen-Sport-Bundes Willi Daume anlässlich des 75. Geburtstags als "schöpferischste und umfassendste Persönlichkeit" (S. 199) der deutschen Sportbewegung. Hochgeehrt und überhäuft mit Auszeichnungen aller Art starb Diem 1962.

    Erst seit den Olympischen Spielen 1972 in München entwickelte sich eine heftige Debatte um Carl Diem. Der Familienkodex der bundesdeutschen Sportwelt reagierte sehr typisch. Man witterte "Rufmord" und "Nestbeschmutzung".

    Fundierte und berechtigte Kritik an Diem löst noch immer reflexartige Schmähungen gegen die Kritiker aus.

    Das Autorenduo dokumentiert die sportpolitische Kontroverse geradezu akribisch und in der besten Tradition der klassischen Ideologiekritik. Dabei ist die Beweislage eindeutig, sind die Argumente lückenlos recherchiert: Der ehemalige ZDF-Chefredakteur Reinhard Appell erinnerte sich an den flammenden Aufruf des 'Sport-Führers' zum 'siegreichen Endkampf', den er als Hitler-Junge mit 17 Jahren anhören musste. Und auch Joachim Mester, Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln, die pikanterweise von Diem gegründet wurde, ging 1995 auf Distanz zur allseits geschätzten Vaterfigur. Seine schneidende Beurteilung fasst den Fall Diem knapp und gültig zusammen.

    Wer mit einer solchen Rede Kinder in eine bereits verlorene Schlacht schickt, handelt aus heutiger Sicht menschenverachtend; ein solches Verhalten ist durch nichts zu rechtfertigen.

    Khosrow Nosratian über Achim Laude und Wolfgang Bausch: Der Sport-Führer. Die Legende um Carl Diem. Veröffentlicht im Verlag Die Werkstatt Göttingen , 240 Seiten, DM 34,-.