Archiv


Acht Arme und neun Hirne

Biologie. - Kraken haben drei Herzen und neun Hirne – für jeden Arm eines plus das Haupthirn. Der Meeresbiologe Roland Anderson testet am Aquarium von Seattle, wie pfiffig die eigenwilligen Meeresbewohner wirklich sind, und kommt zu verblüffenden Ergebnissen.

Von Dagmar Röhrlich |
    Kraken sind intelligent – das gilt ganz im Allgemeinen und natürlich im Besonderen auch für Harry Potter. Harry ist ein zwei Jahre alter Pazifischer Riesenkraken, der uns gerade schlammgrau gefärbt und missmutig gestimmt aus seinem Becken heraus beobachtet. Dort, dieser dunkle waagerechte Balken in seinen Augen, der ist ein Zeichen, dass er gereizt ist. Vielleicht haben wir ihn geweckt? Nicht nur Harrys Augen zeigen seine schlechte Laune an, unwillig pumpt er auch ein paar Wasserstrahlen in unsere Richtung und will uns vertreiben. Meeresbiologe Roland Anderson vom Seattle Aquarium:

    "Wie intelligent sie sind? Es gibt zwar keinen IQ-Test für Kraken, aber ich weiß, dass man sie irgendwo mitten unter den Vögeln einordnen kann."

    Kraken gelten als "Könige" unter den wirbellosen Tieren. Sie lernen schnell, Marmeladengläser zu öffnen und selbst Flaschen mit Kindersicherungen, das ist bekannt. Es muss nur etwas Leckeres darin locken. Das erscheint auch naheliegend, weil sie sich im Meer von widerstrebenden Muscheln und Krebsen ernähren. Aber Kraken sind nicht nur mit Armen und Saugnäpfen sehr geschickt: Sie können tatsächlich die Gesichter von Menschen unterscheiden:

    "In unserem Experiment haben sich zwei Leute zwei Wochen lang um die Kraken gekümmert. Eine der beiden hat sie gefüttert, und der andere hat sie mit einem stacheligen Stock geärgert."

    Sie machten schon bald einen Unterschied zwischen dem Menschen, der sie füttert, und dem, der sie schikaniert. Wenn ihr Wohltäter kam, schwammen sie an die Oberfläche oder hoben ihre Arme empor, weil sie etwas zu fressen erwarteten. Wann immer sich ihr Feind näherte, verhielten sie sich ganz anders. Sie spritzte Wasserströme gegen ihn und bekamen diese dunklen Augenbalken. Dann verzogen sie sich in die äußerste Ecke ihres Aquariums und zeigten ihre Saugnäpfe. Das ist eine Verteidigungshaltung. Am Ende der Lernphase kam der Test: Beide Personen tauchten nacheinander direkt vor dem Aquarium auf und pressten jeweils das Gesicht ans Glas, ohne sonst etwas zu tun. Und die Kraken?

    "Sie waren freundlich zu dem Menschen, der sie immer gefüttert hatte und flohen vor dem anderen, der sie geärgert hatte."

    Sie hatte also gelernt, die beiden Gesichter zu unterscheiden. Auch Harry Potter. Und der erwies sich später als nachtragend, denn er hat sich noch eine ganze Weile gemerkt, wer ihn so gepiesackt hatte. Dabei ist er ansonsten ein eher passiver Charakter, beschreibt Roland Anderson. Vor einiger Zeit hat er zusammen mit einer Psychologin einen Persönlichkeitstest für Kraken entwickelt. 44 achtarmige Probanden nahmen an dem Experiment teil. Das Ergebnis:

    "Wir haben herausgefunden, dass einige regelrecht paranoid reagieren, andere – wie Harry – sind eher passiv und wieder andere sind aggressive Charaktere. Kraken haben Persönlichkeit!"

    Zwar pustet Harry nun keine Wasserstrahlen mehr gegen uns, aber seine Augenbalken verraten, dass wir ihn immer noch stören. Ob er sich besänftigen lässt – mit ein paar Muscheln? Roland Andersen schiebt den schweren Deckel beiseite, wirft einige Muscheln hinein, Harry Potter sammelt sie langsam ein – mit allen Armen - und schon färbt er sich freudig rot und die die Balken sind aus seinen Augen verschwunden. Lange wird er nicht mehr bei Versuchen helfen, Harry zieht demnächst in den Showroom des Aquariums um, und dann wird er endgültig freigelassen. So halten es die Forscher im Seattle-Aquarium. Dann ist Harry alt genug, um in der in freier Wildbahn Nachwuchs zu zeugen.