Martin Steinhage: Herr Dr. Hundt, wir führen dieses Gespräch in den Räumen der Allgaier-Werke im baden-württembergischen Uhingen, in einem Unternehmen, das Sie über drei Jahrzehnte geführt haben und dessen Aufsichtsratschef Sie jetzt sind. Die Firma Allgaier ist unter anderem bekannt als Zulieferer für die Autoindustrie, und da drängt sich natürlich die Frage auf: Wie kommt Ihr Unternehmen bislang zurecht mit der Krise in diesem Wirtschaftszweig?
Dieter Hundt: Die Allgaier Gruppe ist schwergewichtig auf zwei Sektoren tätig. Das ist einmal die Automobilzulieferung und zum anderen ein Maschinen- und Apparatebau. Wir haben im Automobilzuliefergeschäft bereits beträchtliche Sorgen, weil die Abrufstückzahl der Automobilfirmen im Verlauf der letzten Wochen deutlich zurückgegangen ist, teilweise um bis zu 25 Prozent. Im Maschinen- und Apparatebau ist die Situation besser. Auch dort ist allerdings der Auftragseingang rückläufig, aber die Belegung ein deutliches Stück in das nächste Jahr hinein auf diesem Gebiet ist noch gut.
Steinhage: Sie haben im vergangenen Jahr mit 1.700 Beschäftigten rund 260 Millionen Euro Umsatz gemacht. Haben Sie denn jetzt bereits wegen der Krise Arbeitsplätze abbauen müssen, oder wird daran gedacht, oder stehen betriebsbedingte Kündigungen zur Diskussion, haben Sie Leiharbeiter - wie sieht es da aus?
Hundt: Wir denken derzeit noch nicht an einen Beschäftigungsabbau. Wir waren im Verlauf der letzten Jahre sehr gut beschäftigt, dadurch haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fast ausnahmslos Zeitkonten aufgebaut. Die werden wir jetzt zurückführen, wir werden Urlaubsansprüche ausgleichen. Und, soweit vorhanden, auch Zeitarbeitskräfte nicht weiter verlängern.
Steinhage: Wie stellt sich die Lage insgesamt aus der Perspektive des Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt dar? Droht den deutschen Unternehmen eine Kreditklemme? Wie steht es um die Auftragseingänge? Bricht der Export weg? Was hören Sie aktuell und was erwarten Sie für die nähere Zukunft?
Hundt: Wir haben bereits seit Beginn dieses Jahres eine rückläufige Entwicklung des Wirtschaftsaufschwungs. Der Arbeitsmarkt hat bisher erfreulich robust und auch etwas überraschend robust reagiert. Wir haben vor wenigen Tagen ja die erfreuliche Mitteilung verbreiten können, dass seit 16 Jahren zum ersten Mal die Arbeitslosigkeit unter die Drei-Millionen-Grenze zurückgegangen ist. Die aktuelle Krise des Finanz- und Kapitalmarktes wird zusammen mit der rückläufigen weltwirtschaftlichen Entwicklung die Situation auch in Deutschland verschlechtern. Ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2009 günstigstenfalls eine wirtschaftliche Stagnation erreichen werden.
Und ich denke, wir müssen uns - abhängig von Ergebnissen der Tarifpolitik und der Politik - auch mit dem Gedanken befassen, dass der Beschäftigungsaufbau mit Sicherheit nicht fortgesetzt wird, und wir möglicherweise sogar mit einem Abbau von Beschäftigung rechnen müssen.
Steinhage: Sie haben jetzt das Stichwort "Tarife" schon angesprochen. Die Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie haben nämlich noch ein weiteres großes Problem: Die IG Metall fordert acht Prozent mehr Lohn und Gehalt für die insgesamt 3,6 Millionen Beschäftigten der Branche. In Baden-Württemberg, das ja oftmals der Pilotbezirk für die Tarifverhandlungen der Branche war, haben die Arbeitgeber am Donnerstag 2,1 Prozent und einmalig 0,8 Prozent angeboten. Für die hiesige IG Metall war das völlig unzureichend und eine Provokation, wie es hieß. Haben Sie für diese Sicht keinerlei Verständnis?
Hundt: Vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation und der zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung gerade auch der Metall- und Elektroindustrie ist die Forderung nach einer Entgelterhöhung um acht Prozent überzogen, maßlos überzogen. Ich denke, dass das Angebot der baden-württembergischen Metallarbeitgeber fair und der Situation angemessen ist.
Es enthält die richtigen Elemente, eine Entgeltsteigerung über der Inflationsrate, darüber hinaus eine Einmalzahlung, die dauerhaft nicht in die Tabellen eingeht, und schließlich die Möglichkeit, dass - abhängig von der jeweiligen wirtschaftlichen und Ertragssituation der Unternehmen - diese Einmalzahlung auf betrieblicher Ebene auch reduziert beziehungsweise auf die Hälfte abgebaut werden kann.
Ich meine, dass dieses ein angemessener Vorschlag ist und appelliere an die Tarifvertragsparteien, insbesondere an die IG Metall, sich diesem Vorschlag gegenüber aufgeschlossen zu zeigen und dazu beizutragen, dass ein Abschluss erzielt wird, der die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre fortsetzt, die ja unter anderem ganz entscheidend auch auf eine angemessene maßvolle Tarifpolitik zurückzuführen war.
Steinhage: Die IG Metall argumentiert, die Arbeitgeber betrieben Angstmache, sie wollten die Krise für sich ausnutzen, die Metall- und Elektrobranche stünde noch immer sehr gut da und sie hätte in der Vergangenheit glänzend verdient, davon aber nur einen sehr kleinen Teil an die Beschäftigten weitergegeben. Ferner ginge es auch darum, die Kaufkraft der Menschen zu stärken und die Binnennachfrage anzukurbeln. Keines dieser Argumente verfängt bei Ihnen?
Hundt: Ich weise diese Darstellung, diesen Vorwurf in aller Entschiedenheit zurück. Wir haben gerade in der Metall- und Elektroindustrie und auch in anderen wichtigen Branchen in den letzten Jahren Abschlüsse getätigt, die der wirtschaftlichen Situation entsprochen haben. Wir haben in der Metall- und Elektroindustrie beziehungsweise in all den zurückliegenden Jahren Reallohnsteigerungen vereinbart.
Es ist richtig, dass weite Teile der Branche der Metall- und Elektroindustrie im Verlauf der letzten Jahre ihre wirtschaftliche Situation verbessert haben. Dieses ist aber in den Tarifabschlüssen berücksichtigt worden und spiegelt sich in den jeweiligen Ergebnissen wider. Wir müssen jetzt den Blick nach vorne richten. Die Situation verschlechtert sich zunehmend, und wir sollten gemeinsam - IG Metall und Arbeitgeberverbände - alles tun, um die negativen Auswirkungen auf die Unternehmen und insbesondere auf die Beschäftigungssituation so gering wie möglich zu halten. Und dazu gehört ein der Gesamtsituation angemessener Abschluss.
Steinhage: Herr Hundt, Sie waren lange Zeit selbst Verhandlungsführer der Metall-Arbeitgeber im Südwesten. Verglichen mit damals: Könnte es dieses Mal besonders hart werden, besonders aggressiv und unversöhnlich und damit besonders folgereich für alle Beteiligten?
Hundt: Ich sehe mit Sorge, dass sich die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie in diesem Jahr in den letzten Tagen und Wochen deutlich verschärft hat, teilweise auch mit meines Erachtens unberechtigten und unqualifizierten Angriffen auf handelnde Personen - eine Verschärfung, wie ich der Meinung war, dass sie seit einigen Jahren nicht mehr charakteristisch für die Tarifrunden und insbesondere für die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie ist.
Und deshalb hoffe ich umso mehr, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Situation mit einer deutlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Ausgangslage beide Parteien am Verhandlungstisch möglichst schnell eine Lösung finden, die für die Unternehmen verkraftbar ist, die auch die unterschiedliche Situation einzelner Teile der Gesamtbranche und insbesondere die unterschiedliche wirtschaftliche Situation der Unternehmen berücksichtigt.
Steinhage: Bundesfinanzminister Steinbrück hat dieser Tage gesagt, er halte Lohnsteigerungen auch in Zeiten der Finanzkrise für richtig, die Lohnquote in Deutschland sei bedrohlich niedrig, die Schere zwischen Einkommens- und Vermögensentwicklung sei bedenklich und es sei an der Zeit, dieses zu korrigieren. Ärgert Sie solch eine Äußerung, zumal wenn Steinbrück sich so einlässt bei einer Gewerkschaftskonferenz?
Hundt: Mir fällt schwer, die Aussage von Herrn Steinbrück in der jetzigen Phase der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie zu verstehen. Ich denke, dass dieses ein falsches Signal ist. Wir haben in wichtigen Branchen der deutschen Wirtschaft auch in den letzten Jahren angemessene Entgelterhöhungen vereinbart, die größtenteils zu Reallohnsteigerungen geführt haben. Dass das Verhältnis Vermögen zu Einkommen sich entsprechend entwickelt hat, ist darauf zurückzuführen, dass weite Teile unserer Beschäftigten in der Zwischenzeit ebenfalls über Vermögenserträge verfügen.
Steinhage: In diesem Tarifkonflikt kann die Politik nicht helfen. Das müssen die Tarifpartner unter sich abmachen. Das wollen sie auch so. Sehr wohl kann und will die große Koalition aber etwas tun, um nicht nur den Finanzmarkt zu stabilisieren, sondern auch die deutsche Wirtschaft in der aktuellen Krise zu unterstützen. Nächste Woche will das Bundeskabinett ein entsprechendes Maßnahmenpaket beschließen. Die einzelnen Aspekte sind ja schon bekannt und auf dem Markt. Wie beurteilen Sie die Pläne der Politik?
Hundt: Ich sehe einzelne Elemente, die notwendig und richtig sind. Ich warne auf der anderen Seite vor Förderprogrammen, die reine Strohfeuer darstellen, die auf Pump finanziert sind und die damit das Ziel, das unverändert bestehen bleiben muss, in Frage stellen, nämlich bis spätestens 2011 einen ausgeglichenen Haushalt zu erzielen.
Ich denke, dass die Überlegungen, die Herr Scholz anstellt, nämlich die Kurzarbeitsdauer auf 18 Monate zu erhöhen, richtig ist. Das kann eine Maßnahme sein, die Beschäftigung sichert. Es darf nicht vergessen werden, dass das eine Maßnahme ist, die für die Unternehmen teuer zu stehen kommt, weil die Unternehmen die gesamten Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen haben. Trotzdem eine Überlegung, die ich positiv begleite.
Ich denke, dass auch die Umstellung der Kfz-Steuer auf Co2-Abgabe-Basis richtig ist. Es könnte ein Anreiz für schadstoffarme neue Kraftfahrzeuge sein. Die übrigen Förderprogramme sind sehr kritisch zu beurteilen. Es muss sichergestellt werden, dass es sich nicht um Strohfeuer handelt, die lediglich zu Mitnahmeeffekten führen, viel Geld kosten und einen dauerhaften Beitrag für eine wirtschaftlich positive Entwicklung nicht zu leisten in der Lage sind.
Steinhage: Hätten Sie denn vielleicht an der einen oder anderen Stelle andere Akzente gesetzt?
Hundt: Meine Priorität liegt, was die Politik betrifft, darin, die Abgaben und Steuern für die Beschäftigten zu senken und die Wirtschaft und Bevölkerung nicht mit zusätzlichen Abgaben zu belasten. Ich kritisiere in diesem Zusammenhang die jetzt anstehende Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge um eine Größenordnung von etwa 0,6 Prozentpunkte zum 1.1. des kommenden Jahres.
Die Politik sollte vielmehr den eingeschlagenen Weg zurück zur Agenda 2010 fortsetzen, sogar intensivieren. Diese politischen Maßnahmen haben sich bewährt, haben Erfolge gebracht und sollten Grund genug sein, diesen Weg weiter zu gehen.
Stattdessen sind Ausgabenerhöhungen wie etwa Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I oder eine Sonderrentenerhöhung, und darüber hinaus natürlich insbesondere auch die Leistungsausweitungen in der Kranken- und Pflegeversicherung, falsche Ansätze. Sie tragen nicht dazu bei, dass unsere Beschäftigten mehr Netto für ihr Bruttoentgelt haben, und sie verteuern darüber hinaus die Arbeitskosten für die deutsche Wirtschaft, die sich damit im ständig schärfer werdenden internationalen Wettbewerb zunehmend schwer tut.
Steinhage: Wobei wir aber auch nicht vergessen sollten, und erwähnen sollten, dass ja der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung entsprechend gesunken ist, so dass sich unter dem Strich ja für Beschäftigte wie für Arbeitgeber ein Nullsummenspiel bei den Lohnzusatzkosten ergibt.
Hundt: Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Unter dem Strich gibt es kein Nullsummenspiel. Trotz der erfreulichen Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags auf vorübergehend 2,8 Prozent liegen die Sozialversicherungsbeiträge zu Beginn des kommenden Jahres um 0,4 Prozent über dem Wert zu Beginn dieses Jahres. Und die große Koalition wird vor allen Dingen ihrer eigenen Zielsetzung, ihrer eigenen Vorgabe nicht gerecht, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist.
Dort war man davon ausgegangen, dass die Versicherungsbeiträge zur Krankenversicherung abgesenkt oder zumindest stabil gehalten werden sollen. Tatsächlich sind wir von damals 14,2 Prozent zum Zeitpunkt der Unterschrift des Koalitionsvertrages auf nunmehr 15,5 Prozent zu Beginn des kommenden Jahres angestiegen.
Steinhage: Die große Koalition will vermutlich noch in diesem Jahr in weiteren Wirtschaftszweigen Mindestlöhne einführen. Für Branchen mit einer Tarifbindung von über 50 Prozent soll das Arbeitnehmerentsendegesetz ausgeweitet werden. Und dort, wo die Tarifbindung unter 50 Prozent liegt, soll das novellierte Mindestarbeitsbedingungengesetz greifen. Sie, Herr Dr. Hundt, sind sehr entschieden gegen Mindestlohnregelungen. Warum?
Hundt: Mindestlöhne sind unsozial, weil sie Arbeitsplätze vernichten. Das eindrucksvolle Beispiel, das wir in Deutschland zu Beginn dieses Jahres mit dem Postmindestlohn erlebt haben, sollte uns Warnung genug sein, diesen Weg nicht weiter zu gehen. Als Folge der Einführung eines Mindestlohns im Briefzustellergewerbe sind eine große Zahl von Unternehmen im Verlaufe der ersten neun Monate dieses Jahres auf der Strecke geblieben. Und wir hatten allein bis Mitte des Jahres über 6.000 Menschen im Briefzustellergewerbe, die ihre Arbeit verloren haben.
Wir haben in Deutschland eine Tarifautonomie, die besser funktioniert als in jedem anderen Land. Und deshalb lehne ich staatliche Eingriffe in die Lohnfestsetzung entschieden ab. Sie erschweren insbesondere den Einstieg von Langzeitarbeitslosen, von gering- und nichtqualifizierten Menschen in den Arbeitsprozess. Und Einstieg in die Arbeit ist die zwingende Voraussetzung für späteren Aufstieg. Wir dürfen gerade Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten diesen Weg nicht verbauen.
Ich befürchte, dass die Bundesregierung von ihrem eingeschlagenen Weg nicht mehr abzubringen ist. Ich verlange dann umso mehr, dass die Zusagen der Bundeskanzlerin eingehalten werden, wonach der Tarifvorrang gewahrt wird. Das heißt, dass Tarifverträge durch staatliche Eingriffe nicht außer Kraft gesetzt werden können, und Tarifverträge Vorrang vor staatlichen Festlegungen haben. Und ich verlange insbesondere auch die Einhaltung der Zusage von Frau Merkel, die Zeitarbeit zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht in das Entsendegesetz aufzunehmen, weil gerade die Arbeitsmarkt-Erfolge der Zeitarbeit ganz wesentlich zu der erfreulichen Entwicklung im Verlauf der letzten Jahre beigetragen haben.
Steinhage: Herr Hundt, spätestens 2011 gilt auch für Deutschland die EU-weite Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wenn es dann keine Lohnuntergrenzen gibt, droht nach Überzeugung vieler Experten hierzulande ein gefährlicher, ein unguter Konkurrenzkampf. Da könnten ohne Mindestlohnregelung in vielen Bereichen deutsche Arbeitskräfte gegenüber der osteuropäischen Billigkonkurrenz auf der Strecke bleiben, was dann für sozialen Sprengstoff sorgen dürfte. Sie teilen diese Sorge gar nicht? Was passiert 2011?
Hundt: Wenn der Fall nach Eintritt der Arbeitnehmerfreizügigkeit eintritt und soziale Verwerfungen durch die Entsendung ausländischer Arbeitskräfte in einzelnen Branchen entstehen, dann stehen wir, die deutschen Arbeitgeber und
ihre Verbände, zu entsprechenden Diskussionen bereit. Ich sehe allerdings keine Notwendigkeit, heute schon aus Vorsorge für Entwicklungen im Jahr 2011 und folgende entsprechende Mindestlohnregelungen oder Ausweitungen des Entsendegesetztes vorzunehmen.
Steinhage: Aufgrund stark unterschiedlicher Auffassungen in der großen Koalition steht ja eine Reform der Erbschaftsteuer immer noch aus. Für die kommende Woche wird nun - man möchte sagen wieder einmal - ein Durchbruch erwartet. Wie sollte dieser aus Arbeitgebersicht aussehen?
Hundt: Es ist dringend notwendig, vor dem Hintergrund der großen Zahl von Generationswechseln in den Unternehmen im Verlauf der kommenden Jahre, eine Erbschaftssteuerreform vorzunehmen, die den Fortbestand der Unternehmen ermöglicht und die Beschäftigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Unternehmen sichert. Auch hier hat die große Koalition ihr ursprüngliches Ziel in der Zwischenzeit völlig aufgegeben. Es ist zum Zeitpunkt der Bildung der großen Koalition der deutschen Wirtschaft zugesagt worden, dass im Falle einer Unternehmensfortführung die Erbschaftssteuer in vollem Umfang entfällt. Wir reden heute nur noch über eine Reduktion der Erbschaftsteuer um 85 Prozent, und dieses geknüpft an Bedingungen, die in der heutigen Zeit außerordentlich schwer - um nicht zu sagen nicht mehr auf Dauer - garantiert werden können. Und vor allen Dingen mit einem Bewertungsgrundsatz, der viele familiengeführte Unternehmen in ganz ernsthafte Schwierigkeiten hinsichtlich der uneingeschränkten Fortführung bringt.
Steinhage: Herr Dr. Hundt, erstmals seit sieben Jahren haben wir mit Beginn des neuen Ausbildungsjahres keine Lehrstellenlücke. Rein rechnerisch gibt es mehr offene Stellen als Bewerber. Ist die Lage also doch gar nicht so heikel wie oft dargestellt?
Hundt: Der vor vier Jahren geschlossene Ausbildungspakt zwischen Wirtschaft und Politik hat über die gesamte Zeit und gerade auch in diesem Jahr wieder sehr erfolgreich gearbeitet. Wir haben tatsächlich erstmals seit sieben Jahren mehr unbesetzte Stellen als unversorgte Bewerber. Und die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist in diesem Jahr gegenüber dem bereits sehr erfreulichen Stand des letzten Jahres nochmals um knapp zwei Prozent auf etwa 540.000 Ausbildungsverträge angestiegen. Dieses ist sehr zu begrüßen. Der Ausbildungspakt funktioniert mit Sicherheit auch weiterhin. Wir müssen das Schwergewicht in der Zukunft auf eine Verbesserung der Qualifizierung, insbesondere auch der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, und eine bessere Berufsorientierung der in das Berufsleben einsteigenden jungen Menschen legen, um die Ausbildungsergebnisse weiter zu verbessern. Wir benötigen hervorragend ausgebildete Menschen, in der Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit. Und um dies sicherzustellen sind alle Anstrengungen gerechtfertigt.
Steinhage: Aber ich unterstelle mal, von einem Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss, so wie die Koalition das vor hat, davon halten sie wenig?
Hundt: Einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss halte ich nicht für vertretbar. Es sind entsprechende Überlegungen durchaus angemessen, in einzelnen Fällen sogar gut zu heißen. Nur ist dieses eine gesamtstaatliche Aufgabe, die auf gar keinen Fall aus Beiträgen der Versicherten, also der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer an die Bundesagentur für Arbeit, finanziert werden können und dürfen.
Steinhage: Herr Hundt, die SPD hat sich neu aufgestellt und mit Kanzlerkandidat Steinmeier und Parteichef Müntefering sind bei den Sozialdemokraten nunmehr Männer am Ruder, die als Verfechter der Agenda 2010 gelten. Wird sich das aus der Perspektive der Arbeitgeber positiv auswirken auf den weiteren Kurs der SPD in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, oder haben Sie vielleicht im Gegenteil die Sorge, dass der sich bereits abzeichnende Bundestagswahlkampf bei der SPD - und vielleicht ja auch bei der Union - zu einem, vereinfacht gesagt, Linksruck führen wird?
Hundt: Die deutsche Politik befindet sich bedauerlicherweise seit Monaten auf einem zunehmend starken Linksruck. Ich bedaure sehr, dass die erfolgreichen Maßnahmen, die wesentlich auch auf die Reformen der Agenda 2010 zuzuführen waren und sind, nicht fortgesetzt werden, dass diese Reformen verwässert, teilweise zurückgedreht werden. Und nachdem nun mit Herrn Steinmeier und Herrn Müntefering zwei Vertreter der Agenda 2010 wieder in führenden Positionen der SPD sind, hoffe ich, dass ein stabilisierender Einfluss auf die große Koalition erfolgt, und der Reformweg der zurückliegenden Jahre wieder aufgenommen, fortgesetzt und auch intensiviert wird. Ich denke, wir sind es der deutschen Wirtschaft und unseren Beschäftigten in den Unternehmen schuldig.
Steinhage: Am kommenden Dienstag lädt die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände zum Arbeitgebertag. An der Spitze der Gäste- und Rednerliste steht dann Bundeskanzlerin Merkel. Wie beurteilen sie unter dem Strich deren Arbeit als Regierungschefin? Ich erinnere daran, Sie haben kürzlich gesagt, Sie hätten sich mehr Durchsetzungskraft der Kanzlerin gewünscht.
Hundt: Die Arbeit von Frau Merkel beurteile ich sehr positiv. Die Erfolge, die die große Koalition unter ihrer Führung erzielt hat, sind in meiner Beurteilung nicht ausreichend.
Steinhage: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Dieter Hundt: Die Allgaier Gruppe ist schwergewichtig auf zwei Sektoren tätig. Das ist einmal die Automobilzulieferung und zum anderen ein Maschinen- und Apparatebau. Wir haben im Automobilzuliefergeschäft bereits beträchtliche Sorgen, weil die Abrufstückzahl der Automobilfirmen im Verlauf der letzten Wochen deutlich zurückgegangen ist, teilweise um bis zu 25 Prozent. Im Maschinen- und Apparatebau ist die Situation besser. Auch dort ist allerdings der Auftragseingang rückläufig, aber die Belegung ein deutliches Stück in das nächste Jahr hinein auf diesem Gebiet ist noch gut.
Steinhage: Sie haben im vergangenen Jahr mit 1.700 Beschäftigten rund 260 Millionen Euro Umsatz gemacht. Haben Sie denn jetzt bereits wegen der Krise Arbeitsplätze abbauen müssen, oder wird daran gedacht, oder stehen betriebsbedingte Kündigungen zur Diskussion, haben Sie Leiharbeiter - wie sieht es da aus?
Hundt: Wir denken derzeit noch nicht an einen Beschäftigungsabbau. Wir waren im Verlauf der letzten Jahre sehr gut beschäftigt, dadurch haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fast ausnahmslos Zeitkonten aufgebaut. Die werden wir jetzt zurückführen, wir werden Urlaubsansprüche ausgleichen. Und, soweit vorhanden, auch Zeitarbeitskräfte nicht weiter verlängern.
Steinhage: Wie stellt sich die Lage insgesamt aus der Perspektive des Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt dar? Droht den deutschen Unternehmen eine Kreditklemme? Wie steht es um die Auftragseingänge? Bricht der Export weg? Was hören Sie aktuell und was erwarten Sie für die nähere Zukunft?
Hundt: Wir haben bereits seit Beginn dieses Jahres eine rückläufige Entwicklung des Wirtschaftsaufschwungs. Der Arbeitsmarkt hat bisher erfreulich robust und auch etwas überraschend robust reagiert. Wir haben vor wenigen Tagen ja die erfreuliche Mitteilung verbreiten können, dass seit 16 Jahren zum ersten Mal die Arbeitslosigkeit unter die Drei-Millionen-Grenze zurückgegangen ist. Die aktuelle Krise des Finanz- und Kapitalmarktes wird zusammen mit der rückläufigen weltwirtschaftlichen Entwicklung die Situation auch in Deutschland verschlechtern. Ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2009 günstigstenfalls eine wirtschaftliche Stagnation erreichen werden.
Und ich denke, wir müssen uns - abhängig von Ergebnissen der Tarifpolitik und der Politik - auch mit dem Gedanken befassen, dass der Beschäftigungsaufbau mit Sicherheit nicht fortgesetzt wird, und wir möglicherweise sogar mit einem Abbau von Beschäftigung rechnen müssen.
Steinhage: Sie haben jetzt das Stichwort "Tarife" schon angesprochen. Die Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie haben nämlich noch ein weiteres großes Problem: Die IG Metall fordert acht Prozent mehr Lohn und Gehalt für die insgesamt 3,6 Millionen Beschäftigten der Branche. In Baden-Württemberg, das ja oftmals der Pilotbezirk für die Tarifverhandlungen der Branche war, haben die Arbeitgeber am Donnerstag 2,1 Prozent und einmalig 0,8 Prozent angeboten. Für die hiesige IG Metall war das völlig unzureichend und eine Provokation, wie es hieß. Haben Sie für diese Sicht keinerlei Verständnis?
Hundt: Vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation und der zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung gerade auch der Metall- und Elektroindustrie ist die Forderung nach einer Entgelterhöhung um acht Prozent überzogen, maßlos überzogen. Ich denke, dass das Angebot der baden-württembergischen Metallarbeitgeber fair und der Situation angemessen ist.
Es enthält die richtigen Elemente, eine Entgeltsteigerung über der Inflationsrate, darüber hinaus eine Einmalzahlung, die dauerhaft nicht in die Tabellen eingeht, und schließlich die Möglichkeit, dass - abhängig von der jeweiligen wirtschaftlichen und Ertragssituation der Unternehmen - diese Einmalzahlung auf betrieblicher Ebene auch reduziert beziehungsweise auf die Hälfte abgebaut werden kann.
Ich meine, dass dieses ein angemessener Vorschlag ist und appelliere an die Tarifvertragsparteien, insbesondere an die IG Metall, sich diesem Vorschlag gegenüber aufgeschlossen zu zeigen und dazu beizutragen, dass ein Abschluss erzielt wird, der die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre fortsetzt, die ja unter anderem ganz entscheidend auch auf eine angemessene maßvolle Tarifpolitik zurückzuführen war.
Steinhage: Die IG Metall argumentiert, die Arbeitgeber betrieben Angstmache, sie wollten die Krise für sich ausnutzen, die Metall- und Elektrobranche stünde noch immer sehr gut da und sie hätte in der Vergangenheit glänzend verdient, davon aber nur einen sehr kleinen Teil an die Beschäftigten weitergegeben. Ferner ginge es auch darum, die Kaufkraft der Menschen zu stärken und die Binnennachfrage anzukurbeln. Keines dieser Argumente verfängt bei Ihnen?
Hundt: Ich weise diese Darstellung, diesen Vorwurf in aller Entschiedenheit zurück. Wir haben gerade in der Metall- und Elektroindustrie und auch in anderen wichtigen Branchen in den letzten Jahren Abschlüsse getätigt, die der wirtschaftlichen Situation entsprochen haben. Wir haben in der Metall- und Elektroindustrie beziehungsweise in all den zurückliegenden Jahren Reallohnsteigerungen vereinbart.
Es ist richtig, dass weite Teile der Branche der Metall- und Elektroindustrie im Verlauf der letzten Jahre ihre wirtschaftliche Situation verbessert haben. Dieses ist aber in den Tarifabschlüssen berücksichtigt worden und spiegelt sich in den jeweiligen Ergebnissen wider. Wir müssen jetzt den Blick nach vorne richten. Die Situation verschlechtert sich zunehmend, und wir sollten gemeinsam - IG Metall und Arbeitgeberverbände - alles tun, um die negativen Auswirkungen auf die Unternehmen und insbesondere auf die Beschäftigungssituation so gering wie möglich zu halten. Und dazu gehört ein der Gesamtsituation angemessener Abschluss.
Steinhage: Herr Hundt, Sie waren lange Zeit selbst Verhandlungsführer der Metall-Arbeitgeber im Südwesten. Verglichen mit damals: Könnte es dieses Mal besonders hart werden, besonders aggressiv und unversöhnlich und damit besonders folgereich für alle Beteiligten?
Hundt: Ich sehe mit Sorge, dass sich die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie in diesem Jahr in den letzten Tagen und Wochen deutlich verschärft hat, teilweise auch mit meines Erachtens unberechtigten und unqualifizierten Angriffen auf handelnde Personen - eine Verschärfung, wie ich der Meinung war, dass sie seit einigen Jahren nicht mehr charakteristisch für die Tarifrunden und insbesondere für die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie ist.
Und deshalb hoffe ich umso mehr, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Situation mit einer deutlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Ausgangslage beide Parteien am Verhandlungstisch möglichst schnell eine Lösung finden, die für die Unternehmen verkraftbar ist, die auch die unterschiedliche Situation einzelner Teile der Gesamtbranche und insbesondere die unterschiedliche wirtschaftliche Situation der Unternehmen berücksichtigt.
Steinhage: Bundesfinanzminister Steinbrück hat dieser Tage gesagt, er halte Lohnsteigerungen auch in Zeiten der Finanzkrise für richtig, die Lohnquote in Deutschland sei bedrohlich niedrig, die Schere zwischen Einkommens- und Vermögensentwicklung sei bedenklich und es sei an der Zeit, dieses zu korrigieren. Ärgert Sie solch eine Äußerung, zumal wenn Steinbrück sich so einlässt bei einer Gewerkschaftskonferenz?
Hundt: Mir fällt schwer, die Aussage von Herrn Steinbrück in der jetzigen Phase der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie zu verstehen. Ich denke, dass dieses ein falsches Signal ist. Wir haben in wichtigen Branchen der deutschen Wirtschaft auch in den letzten Jahren angemessene Entgelterhöhungen vereinbart, die größtenteils zu Reallohnsteigerungen geführt haben. Dass das Verhältnis Vermögen zu Einkommen sich entsprechend entwickelt hat, ist darauf zurückzuführen, dass weite Teile unserer Beschäftigten in der Zwischenzeit ebenfalls über Vermögenserträge verfügen.
Steinhage: In diesem Tarifkonflikt kann die Politik nicht helfen. Das müssen die Tarifpartner unter sich abmachen. Das wollen sie auch so. Sehr wohl kann und will die große Koalition aber etwas tun, um nicht nur den Finanzmarkt zu stabilisieren, sondern auch die deutsche Wirtschaft in der aktuellen Krise zu unterstützen. Nächste Woche will das Bundeskabinett ein entsprechendes Maßnahmenpaket beschließen. Die einzelnen Aspekte sind ja schon bekannt und auf dem Markt. Wie beurteilen Sie die Pläne der Politik?
Hundt: Ich sehe einzelne Elemente, die notwendig und richtig sind. Ich warne auf der anderen Seite vor Förderprogrammen, die reine Strohfeuer darstellen, die auf Pump finanziert sind und die damit das Ziel, das unverändert bestehen bleiben muss, in Frage stellen, nämlich bis spätestens 2011 einen ausgeglichenen Haushalt zu erzielen.
Ich denke, dass die Überlegungen, die Herr Scholz anstellt, nämlich die Kurzarbeitsdauer auf 18 Monate zu erhöhen, richtig ist. Das kann eine Maßnahme sein, die Beschäftigung sichert. Es darf nicht vergessen werden, dass das eine Maßnahme ist, die für die Unternehmen teuer zu stehen kommt, weil die Unternehmen die gesamten Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen haben. Trotzdem eine Überlegung, die ich positiv begleite.
Ich denke, dass auch die Umstellung der Kfz-Steuer auf Co2-Abgabe-Basis richtig ist. Es könnte ein Anreiz für schadstoffarme neue Kraftfahrzeuge sein. Die übrigen Förderprogramme sind sehr kritisch zu beurteilen. Es muss sichergestellt werden, dass es sich nicht um Strohfeuer handelt, die lediglich zu Mitnahmeeffekten führen, viel Geld kosten und einen dauerhaften Beitrag für eine wirtschaftlich positive Entwicklung nicht zu leisten in der Lage sind.
Steinhage: Hätten Sie denn vielleicht an der einen oder anderen Stelle andere Akzente gesetzt?
Hundt: Meine Priorität liegt, was die Politik betrifft, darin, die Abgaben und Steuern für die Beschäftigten zu senken und die Wirtschaft und Bevölkerung nicht mit zusätzlichen Abgaben zu belasten. Ich kritisiere in diesem Zusammenhang die jetzt anstehende Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge um eine Größenordnung von etwa 0,6 Prozentpunkte zum 1.1. des kommenden Jahres.
Die Politik sollte vielmehr den eingeschlagenen Weg zurück zur Agenda 2010 fortsetzen, sogar intensivieren. Diese politischen Maßnahmen haben sich bewährt, haben Erfolge gebracht und sollten Grund genug sein, diesen Weg weiter zu gehen.
Stattdessen sind Ausgabenerhöhungen wie etwa Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I oder eine Sonderrentenerhöhung, und darüber hinaus natürlich insbesondere auch die Leistungsausweitungen in der Kranken- und Pflegeversicherung, falsche Ansätze. Sie tragen nicht dazu bei, dass unsere Beschäftigten mehr Netto für ihr Bruttoentgelt haben, und sie verteuern darüber hinaus die Arbeitskosten für die deutsche Wirtschaft, die sich damit im ständig schärfer werdenden internationalen Wettbewerb zunehmend schwer tut.
Steinhage: Wobei wir aber auch nicht vergessen sollten, und erwähnen sollten, dass ja der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung entsprechend gesunken ist, so dass sich unter dem Strich ja für Beschäftigte wie für Arbeitgeber ein Nullsummenspiel bei den Lohnzusatzkosten ergibt.
Hundt: Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Unter dem Strich gibt es kein Nullsummenspiel. Trotz der erfreulichen Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags auf vorübergehend 2,8 Prozent liegen die Sozialversicherungsbeiträge zu Beginn des kommenden Jahres um 0,4 Prozent über dem Wert zu Beginn dieses Jahres. Und die große Koalition wird vor allen Dingen ihrer eigenen Zielsetzung, ihrer eigenen Vorgabe nicht gerecht, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist.
Dort war man davon ausgegangen, dass die Versicherungsbeiträge zur Krankenversicherung abgesenkt oder zumindest stabil gehalten werden sollen. Tatsächlich sind wir von damals 14,2 Prozent zum Zeitpunkt der Unterschrift des Koalitionsvertrages auf nunmehr 15,5 Prozent zu Beginn des kommenden Jahres angestiegen.
Steinhage: Die große Koalition will vermutlich noch in diesem Jahr in weiteren Wirtschaftszweigen Mindestlöhne einführen. Für Branchen mit einer Tarifbindung von über 50 Prozent soll das Arbeitnehmerentsendegesetz ausgeweitet werden. Und dort, wo die Tarifbindung unter 50 Prozent liegt, soll das novellierte Mindestarbeitsbedingungengesetz greifen. Sie, Herr Dr. Hundt, sind sehr entschieden gegen Mindestlohnregelungen. Warum?
Hundt: Mindestlöhne sind unsozial, weil sie Arbeitsplätze vernichten. Das eindrucksvolle Beispiel, das wir in Deutschland zu Beginn dieses Jahres mit dem Postmindestlohn erlebt haben, sollte uns Warnung genug sein, diesen Weg nicht weiter zu gehen. Als Folge der Einführung eines Mindestlohns im Briefzustellergewerbe sind eine große Zahl von Unternehmen im Verlaufe der ersten neun Monate dieses Jahres auf der Strecke geblieben. Und wir hatten allein bis Mitte des Jahres über 6.000 Menschen im Briefzustellergewerbe, die ihre Arbeit verloren haben.
Wir haben in Deutschland eine Tarifautonomie, die besser funktioniert als in jedem anderen Land. Und deshalb lehne ich staatliche Eingriffe in die Lohnfestsetzung entschieden ab. Sie erschweren insbesondere den Einstieg von Langzeitarbeitslosen, von gering- und nichtqualifizierten Menschen in den Arbeitsprozess. Und Einstieg in die Arbeit ist die zwingende Voraussetzung für späteren Aufstieg. Wir dürfen gerade Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten diesen Weg nicht verbauen.
Ich befürchte, dass die Bundesregierung von ihrem eingeschlagenen Weg nicht mehr abzubringen ist. Ich verlange dann umso mehr, dass die Zusagen der Bundeskanzlerin eingehalten werden, wonach der Tarifvorrang gewahrt wird. Das heißt, dass Tarifverträge durch staatliche Eingriffe nicht außer Kraft gesetzt werden können, und Tarifverträge Vorrang vor staatlichen Festlegungen haben. Und ich verlange insbesondere auch die Einhaltung der Zusage von Frau Merkel, die Zeitarbeit zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht in das Entsendegesetz aufzunehmen, weil gerade die Arbeitsmarkt-Erfolge der Zeitarbeit ganz wesentlich zu der erfreulichen Entwicklung im Verlauf der letzten Jahre beigetragen haben.
Steinhage: Herr Hundt, spätestens 2011 gilt auch für Deutschland die EU-weite Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wenn es dann keine Lohnuntergrenzen gibt, droht nach Überzeugung vieler Experten hierzulande ein gefährlicher, ein unguter Konkurrenzkampf. Da könnten ohne Mindestlohnregelung in vielen Bereichen deutsche Arbeitskräfte gegenüber der osteuropäischen Billigkonkurrenz auf der Strecke bleiben, was dann für sozialen Sprengstoff sorgen dürfte. Sie teilen diese Sorge gar nicht? Was passiert 2011?
Hundt: Wenn der Fall nach Eintritt der Arbeitnehmerfreizügigkeit eintritt und soziale Verwerfungen durch die Entsendung ausländischer Arbeitskräfte in einzelnen Branchen entstehen, dann stehen wir, die deutschen Arbeitgeber und
ihre Verbände, zu entsprechenden Diskussionen bereit. Ich sehe allerdings keine Notwendigkeit, heute schon aus Vorsorge für Entwicklungen im Jahr 2011 und folgende entsprechende Mindestlohnregelungen oder Ausweitungen des Entsendegesetztes vorzunehmen.
Steinhage: Aufgrund stark unterschiedlicher Auffassungen in der großen Koalition steht ja eine Reform der Erbschaftsteuer immer noch aus. Für die kommende Woche wird nun - man möchte sagen wieder einmal - ein Durchbruch erwartet. Wie sollte dieser aus Arbeitgebersicht aussehen?
Hundt: Es ist dringend notwendig, vor dem Hintergrund der großen Zahl von Generationswechseln in den Unternehmen im Verlauf der kommenden Jahre, eine Erbschaftssteuerreform vorzunehmen, die den Fortbestand der Unternehmen ermöglicht und die Beschäftigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Unternehmen sichert. Auch hier hat die große Koalition ihr ursprüngliches Ziel in der Zwischenzeit völlig aufgegeben. Es ist zum Zeitpunkt der Bildung der großen Koalition der deutschen Wirtschaft zugesagt worden, dass im Falle einer Unternehmensfortführung die Erbschaftssteuer in vollem Umfang entfällt. Wir reden heute nur noch über eine Reduktion der Erbschaftsteuer um 85 Prozent, und dieses geknüpft an Bedingungen, die in der heutigen Zeit außerordentlich schwer - um nicht zu sagen nicht mehr auf Dauer - garantiert werden können. Und vor allen Dingen mit einem Bewertungsgrundsatz, der viele familiengeführte Unternehmen in ganz ernsthafte Schwierigkeiten hinsichtlich der uneingeschränkten Fortführung bringt.
Steinhage: Herr Dr. Hundt, erstmals seit sieben Jahren haben wir mit Beginn des neuen Ausbildungsjahres keine Lehrstellenlücke. Rein rechnerisch gibt es mehr offene Stellen als Bewerber. Ist die Lage also doch gar nicht so heikel wie oft dargestellt?
Hundt: Der vor vier Jahren geschlossene Ausbildungspakt zwischen Wirtschaft und Politik hat über die gesamte Zeit und gerade auch in diesem Jahr wieder sehr erfolgreich gearbeitet. Wir haben tatsächlich erstmals seit sieben Jahren mehr unbesetzte Stellen als unversorgte Bewerber. Und die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist in diesem Jahr gegenüber dem bereits sehr erfreulichen Stand des letzten Jahres nochmals um knapp zwei Prozent auf etwa 540.000 Ausbildungsverträge angestiegen. Dieses ist sehr zu begrüßen. Der Ausbildungspakt funktioniert mit Sicherheit auch weiterhin. Wir müssen das Schwergewicht in der Zukunft auf eine Verbesserung der Qualifizierung, insbesondere auch der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, und eine bessere Berufsorientierung der in das Berufsleben einsteigenden jungen Menschen legen, um die Ausbildungsergebnisse weiter zu verbessern. Wir benötigen hervorragend ausgebildete Menschen, in der Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit. Und um dies sicherzustellen sind alle Anstrengungen gerechtfertigt.
Steinhage: Aber ich unterstelle mal, von einem Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss, so wie die Koalition das vor hat, davon halten sie wenig?
Hundt: Einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss halte ich nicht für vertretbar. Es sind entsprechende Überlegungen durchaus angemessen, in einzelnen Fällen sogar gut zu heißen. Nur ist dieses eine gesamtstaatliche Aufgabe, die auf gar keinen Fall aus Beiträgen der Versicherten, also der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer an die Bundesagentur für Arbeit, finanziert werden können und dürfen.
Steinhage: Herr Hundt, die SPD hat sich neu aufgestellt und mit Kanzlerkandidat Steinmeier und Parteichef Müntefering sind bei den Sozialdemokraten nunmehr Männer am Ruder, die als Verfechter der Agenda 2010 gelten. Wird sich das aus der Perspektive der Arbeitgeber positiv auswirken auf den weiteren Kurs der SPD in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, oder haben Sie vielleicht im Gegenteil die Sorge, dass der sich bereits abzeichnende Bundestagswahlkampf bei der SPD - und vielleicht ja auch bei der Union - zu einem, vereinfacht gesagt, Linksruck führen wird?
Hundt: Die deutsche Politik befindet sich bedauerlicherweise seit Monaten auf einem zunehmend starken Linksruck. Ich bedaure sehr, dass die erfolgreichen Maßnahmen, die wesentlich auch auf die Reformen der Agenda 2010 zuzuführen waren und sind, nicht fortgesetzt werden, dass diese Reformen verwässert, teilweise zurückgedreht werden. Und nachdem nun mit Herrn Steinmeier und Herrn Müntefering zwei Vertreter der Agenda 2010 wieder in führenden Positionen der SPD sind, hoffe ich, dass ein stabilisierender Einfluss auf die große Koalition erfolgt, und der Reformweg der zurückliegenden Jahre wieder aufgenommen, fortgesetzt und auch intensiviert wird. Ich denke, wir sind es der deutschen Wirtschaft und unseren Beschäftigten in den Unternehmen schuldig.
Steinhage: Am kommenden Dienstag lädt die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände zum Arbeitgebertag. An der Spitze der Gäste- und Rednerliste steht dann Bundeskanzlerin Merkel. Wie beurteilen sie unter dem Strich deren Arbeit als Regierungschefin? Ich erinnere daran, Sie haben kürzlich gesagt, Sie hätten sich mehr Durchsetzungskraft der Kanzlerin gewünscht.
Hundt: Die Arbeit von Frau Merkel beurteile ich sehr positiv. Die Erfolge, die die große Koalition unter ihrer Führung erzielt hat, sind in meiner Beurteilung nicht ausreichend.
Steinhage: Herzlichen Dank für das Gespräch.