In Wilhelm Genazinos Romantrilogie "Abschaffel", die Ende der siebziger Jahre das eigentliche Debüt des inzwischen 55jährigen markierte, ist der vereinsamte Protagonist, der Angestellte Abschaffel, unentwegt damit beschäftigt, Verbindungen zu toten Sachen herzustellen. "Diese Verbindungen kommen zustande", heißt es, "aber sie sind Einbildungen und Hirngespinste. Deshalb neigt der ständig Alleinlebende zu einem wohnhaften Leben." Genazino hat nun, zwanzig Jahre nach der "Abschaffel"-Trilogie, einen Band mit dem Titel "Achtung Baustelle" vorgelegt. Unter dieser konstruktiven Rubrik - sieht man den Schriftsteller förmlich an der Satzbaustelle - veröffentlichte er in der "Frankfurter Rundschau" und in der "Basler Zeitung" seine Gedanken über Lesefrüchte aller Art. Und gleich mit dem ersten Zitat, einem Satz aus dem Roman "Wellen" von Virginia Woolf, findet er zu seinem bevorzugten Thema, dem erzählerischen Eigenleben der Dinge. Woolfs Satz lautet: "Ich sehnte mich danach, den Schrank schrumpfen zu sehen." Da ist er wieder, der mit Bedeutung aufgeladene, vermenschlichte Gegenstand. "Die Menschen sprechen mit den Dingen, aber die Dinge sprechen nicht mit den Menschen", schreibt Genazino in seinem Kommentar, und weiter: "Diese skandalöse Unausgewogenheit ist es, die Schriftsteller dazu treibt, in die Bereiche des Nichtsprachlichen vorzudringen. Es ist eine haltlose Anstrengung, an der sich die Literatur abarbeitet." Ein meisterhaft unaufdringlicher Interpret ist hier am Werk, ein feiner Ironiker. Genazinos spezifische Darstellungsmethode seelischer Vorgänge macht sich in seinem Werk häufig an scheinbar unzusammenhängenden, unpassenden Gegenständen in der Außenwelt fest. Er vermag so sehr für ein Möbelstück als literarisches Gehäuse zu interessieren, vielmehr zu plädieren, daß der Leser, die Leserin den Schrank am Ende des kurzen Textes tatsächlich vor dem inneren Auge schrumpfen sieht.
Pathos jedweder Herkunft ist Genazino fremd. Hochtrabenden, doktrinären Sätzen, etwa von Lars Gustafsson aus der Zeit der Studentenrevolte, pflegt er in seiner Kolumne durch die Konfrontation mit der "Alltagspraxis" zu Leibe zu rücken. Wie gut gefällt ihm dagegen ein kokett schlichtes "Oh, wir wissen es nicht" aus der Feder Sigmund Freuds, gefunden in dessen Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" von 1930. In diesem "merkwürdigen Nebeneinander von Versagen und Genugtuung" macht Genazino jenes Understatement des Schreibenden aus, nachdem er selbst strebt. Auch an Annette von Droste-Hülshoff bewundert er deren kühle Distanz zu sich selbst, wenn sie sich fragt - "und was soll ich anfangen, um meinen Unsinn los zu werden?"
Das Buch versammelt neben Dankesreden für Literaturpreise drei literaturgeschichtliche Essays über James Joyce, Marcel Proust und Italo Svevo. Vor allem Prousts Haltung zu seinem eigenen Leben und Werk hat es Genazino angetan: Er habe die "gefühlte Nichtigkeit, das Todesbewußtsein" in sein ästhetisches Programm aufgenommen, schreibt er. Wie immer in aller Behutsamkeit plädiert Wilhelm Genazino für den persönlichen Lebenslauf als eines der letzten Experimentierfelder für Autonomie - "Achtung Baustelle" erscheint als ein zutiefst philanthropisches Brevier. Das gilt besonders für den Text "Einschluß, meine Herren", den er für den Hörfunk verfaßte. Er schildert darin seinen Versuch, mit einer Gruppe von Häftlingen literarische Arbeit zu betreiben und dabei möglichst nicht zum Textbeamten zu werden. Selbst bei einem so offenkundig sachlichen, wenn nicht sozialpädagogischen Thema gelingen ihm sprachliche Bilder, die bei der Lektüre innehalten lassen. So ist sich der HäftIing Lothar, ein sogenannter Überzeugungsjunkie, nicht sicher, ob er noch einmal jemandes Liebe gewinnen könne. Auf diese für eine Gruppensitzung im Gefängnis ungewöhnliche Äußerung reagiert Protokollant Genazino: "Der Satz legt sich wie Schnee auf uns." Eine fast schon altmodisch wirkende Menschenfreundlichkeit zeigt sich zum Beispiel auch, wenn sich der Besucher aus der Freiheit vornimmt, Lothars Niedergeschlagenheit zu bemerken und aufzubewahren - wie etwas wirklich Wichtiges.
Um die Bewahrung von Individualität und Würde, sei es im Gefängnis, sei es in der rund um die Uhr künstlich beschallten Bahnhofshalle, geht es diesem Schriftsteller und seinen Figuren. Er und sie suchen Trost im Eskapismus, wenn auch nur für Augenblicke. Private Opposition als ernstes, notwendiges Spiel war das Thema von Wilhelm Genazinos Dankesrede für die Verleihung des Bremer Literaturpreises im Jahr 1990. Seitdem hat sich der Eindruck verstärkt, daß sich ein Autor und sein Thema gefunden haben. "Achtung Baustelle" zieht das Resümee dieser ebenso stillen wie beharrlichen Entwicklung.
Pathos jedweder Herkunft ist Genazino fremd. Hochtrabenden, doktrinären Sätzen, etwa von Lars Gustafsson aus der Zeit der Studentenrevolte, pflegt er in seiner Kolumne durch die Konfrontation mit der "Alltagspraxis" zu Leibe zu rücken. Wie gut gefällt ihm dagegen ein kokett schlichtes "Oh, wir wissen es nicht" aus der Feder Sigmund Freuds, gefunden in dessen Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" von 1930. In diesem "merkwürdigen Nebeneinander von Versagen und Genugtuung" macht Genazino jenes Understatement des Schreibenden aus, nachdem er selbst strebt. Auch an Annette von Droste-Hülshoff bewundert er deren kühle Distanz zu sich selbst, wenn sie sich fragt - "und was soll ich anfangen, um meinen Unsinn los zu werden?"
Das Buch versammelt neben Dankesreden für Literaturpreise drei literaturgeschichtliche Essays über James Joyce, Marcel Proust und Italo Svevo. Vor allem Prousts Haltung zu seinem eigenen Leben und Werk hat es Genazino angetan: Er habe die "gefühlte Nichtigkeit, das Todesbewußtsein" in sein ästhetisches Programm aufgenommen, schreibt er. Wie immer in aller Behutsamkeit plädiert Wilhelm Genazino für den persönlichen Lebenslauf als eines der letzten Experimentierfelder für Autonomie - "Achtung Baustelle" erscheint als ein zutiefst philanthropisches Brevier. Das gilt besonders für den Text "Einschluß, meine Herren", den er für den Hörfunk verfaßte. Er schildert darin seinen Versuch, mit einer Gruppe von Häftlingen literarische Arbeit zu betreiben und dabei möglichst nicht zum Textbeamten zu werden. Selbst bei einem so offenkundig sachlichen, wenn nicht sozialpädagogischen Thema gelingen ihm sprachliche Bilder, die bei der Lektüre innehalten lassen. So ist sich der HäftIing Lothar, ein sogenannter Überzeugungsjunkie, nicht sicher, ob er noch einmal jemandes Liebe gewinnen könne. Auf diese für eine Gruppensitzung im Gefängnis ungewöhnliche Äußerung reagiert Protokollant Genazino: "Der Satz legt sich wie Schnee auf uns." Eine fast schon altmodisch wirkende Menschenfreundlichkeit zeigt sich zum Beispiel auch, wenn sich der Besucher aus der Freiheit vornimmt, Lothars Niedergeschlagenheit zu bemerken und aufzubewahren - wie etwas wirklich Wichtiges.
Um die Bewahrung von Individualität und Würde, sei es im Gefängnis, sei es in der rund um die Uhr künstlich beschallten Bahnhofshalle, geht es diesem Schriftsteller und seinen Figuren. Er und sie suchen Trost im Eskapismus, wenn auch nur für Augenblicke. Private Opposition als ernstes, notwendiges Spiel war das Thema von Wilhelm Genazinos Dankesrede für die Verleihung des Bremer Literaturpreises im Jahr 1990. Seitdem hat sich der Eindruck verstärkt, daß sich ein Autor und sein Thema gefunden haben. "Achtung Baustelle" zieht das Resümee dieser ebenso stillen wie beharrlichen Entwicklung.