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Achtzehn Arbeiten zur deutschen Literatur

Albrecht Schöne lehrte bis zu seiner Emeritierung 1990 in Göttingen Deutsche Philologie. Als Experte für Barockliteratur ist er bekannt, seine Goethestudien werden gerühmt, besonders sein Kommentar zum Faust. Die philologisch fundierte Interpretation ist sein Metier, der er auch Werke von Autoren der Gegenwart wie zum Beispiel Gottfried Benn oder Paul Celan unterzog.

Von Jochen Stöckmann |
    Albrecht Schöne war Präsident der Internationalen Vereinigung der Germanisten und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Dass seine Arbeiten nicht gänzlich unpolitisch sind, beweist ein Band mit 18 Arbeiten zur deutschen Literatur, der gerade bei C.H. Beck unter dem Titel 'Vom Betreten des Rasens’ erschienen ist. Diese Arbeiten handeln von politischen Kunstwerken, manche greifen in politische Situationen ein oder wurden bei ihrer Entstehung selbst zum Politikum. Jochen Stöckmann hat in Göttingen mit Albrecht Schöne gesprochen:

    Gelesen hatte Albrecht Schöne schon als Kind, aber ein erstes, entscheidendes und geradezu lebensgefährliches Lese-Erlebnis bescherte dem späteren Germanisten ein Buch, das er Mitte 1944 als 19-jähriger Oberfähnrich der Wehrmacht auf einen Lehrgang in die Waffenschule des Heeres mitnahm:

    " Ich hatte von zu Hause aus dem Bücherregal meins Vaters ein Buch mitgenommen. Eigentlich deshalb, weil es mich erstaunt hatte, so etwas bei ihm zu finden. Da stand drauf "Geschichte des Nationalsozialismus". Als ich das aufschlug, merkte ich, dass ich da eine ziemlich heiße Sache in der Hand hatte. Das war geschrieben von Konrad Heiden, ein österreichischer Jude, der die Vorgeschichte des Nationalsozialismus bis zum Röhm-Putsch darstellte. Es ging uns schon so – mir und denen, die zuhörten -, dass uns beim Lesen die Augen aufgingen, wem wir da wirklich dienten. Das gehörte zu den frühen Leseerlebnissen, die eigentlich die Art, wie man liest, lebenslang bestimmen können."
    Eine erste Distanz zum Nazi-Regime ergab sich also aus der Lektüre, nicht aus dem einsamen Lesen eines von vornherein oppositionell eingestellten und ins innere Exil abgetauchten Feingeistes, sondern beim lauten – dann angesichts des brisanten Textes zum Flüstern gedämpften – Vorlesen mit Kameraden. Nach dem Krieg, im Jahre 1947, wurde Franz Kafka für Albrecht Schöne, was etwa der Philosoph Karl Jaspers für einige seiner Generationsgenossen war: ein Vordenker, der nach der militärischen Befreiung nun auch die Türen zu einer geistigen Emanzipation aufstieß.

    Im zerschlissenen Offiziersmantel, allenfalls etwas Kleingeld in der Tasche, begann der ehemalige Wehrmachtsleutnant sein Studium, erst in Freiburg, später in Basel. Vom Wirtschaftswunder war noch nichts zu spüren, aber eben diese materielle Armut beflügelte die Lektüre:

    " Wir haben uns wirklich die Bücher, die wir kauften, noch richtig abgespart. Man liest dann mit ganz anderer Freude und Energie. Und das war ein Band mit Franz Kafkas Erzählungen. Kafka hat einmal gesagt: Wenn das Buch, das ich lese, nicht wie ein Faustschlag mich trifft, dann sollte man es gar nicht lesen. Und solche wunderbaren Faustschläge sind das damals schon gewesen."
    Wie ein Buch, so war auch die Vergangenheit, die jüngste Geschichte für Schöne niemals ein "musealer Kronschatz", sondern etwas, das immer auch von der Gegenwart betroffen ist. Es war diese Erkenntnis von Walter Benjamin, die der deutsche Literaturwissenschaftler aus Göttingen 1983 zum Motto seines Lehrauftrags an der hebräischen Universität von Jerusalem machte. Schöne überraschte die israelischen Studenten mit der Neuauflage eines Buches, das der von den Nazis vertriebene Philosoph Walter Benjamin 1936 in der Schweiz als eine Art Tarnschrift herausgegeben hatte: "Deutsche Menschen" illuminierte in einer Folge von 27 nur knapp kommentierten Briefen Georg Büchners, Ludwig Börnes oder Georg Forsters quasi zwischen den Zeilen die im besten Sinne bürgerlichen Tugenden dieser Klassiker. Eine Autoren-List, die Schöne mit den lakonischen Bibelkommentaren des jüdischen Midrasch verglich, eine Literatur der gleichnishaften Analogie und flüsternden Anspielung, die der Germanist in Jerusalem als Aufforderung erkannte, "Vergangenes nicht nur in Erinnerung zu rufen, sondern auch: es als gegenwärtig wirksam wieder zur Erscheinung zu bringen."

    Diese beharrliche, nie verkrampfte, aber stets insistierende Lektüre, dieses kenntnis- und genussreiche Anschauen der Wörter, lag denn auch einem Vortrag über "Das Menschheitsgedächtnis der Wörter" zugrunde, mit dem Albrecht Schöne 1985 in Göttingen als Präsident den Internationalen Germanisten-Kongress eröffnete. Vierzig Jahre nach Kriegsende tagten die Sprachwissenschaftler zum ersten Mal wieder in einem deutschen Land:

    " Ein wesentlicher Grund dafür ist sicher gewesen, dass die Germanistik in Europa und vor allen Dingen in Nordamerika nach dem Krieg wesentlich bestimmt worden ist durch die großen Vertriebenen, die Emigranten. Die amerikanische Germanistik hat damals einen gewaltigen Aufschwung genommen. Das waren zum Teil ganz vorzügliche Leute, für die in vielen Fällen nach Deutschland zurückzukommen ein sehr schwieriges Angehen war. Das war der eigentliche Grund, warum das so lange gedauert hat. "

    Mit Goethe setzte sich Schöne über alle diplomatischen Formeln im Verkehr beider Deutschlands hinweg und zitierte: "Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten." Voraussetzung für dieses grenzüberschreitende literarische Leben, für die Teilhabe an einer "Weltliteratur", war in Deutschland der kritische Blick zurück, die Analyse dessen, was da zwischen 1933 und 1945 geschrieben und zum Lobe des so genannten "Führers" mit fürchterlichem Pathos gesungen worden war. In seiner Vorlesung über "Politische Lyrik im zwanzigsten Jahrhundert" hatte der Göttinger Literaturwissenschaftler die NS-Barden mit einer detaillierten Textexegese bloßgestellt – aber allein das bloße Zitieren der Blut-und-Boden-Verse reichte schon, um Gerhard Schumann, einen der in Rede stehenden Autoren, auf den Plan zu rufen. In heftiger – und verräterischer – Polemik beklagte sich Schumann, dass hier ein Germanist zu Werke gegangen sei, dem "Hass das Ohr verstopft und den Blick verstellt". Nichts anderes hatte Schöne erwartet:

    " Von diesem Mann, der als Lyriker in den Jahren des Hitlerreiches eine gewaltige Rolle gespielt hat, neben Baldur von Schirach und ein paar anderen war Schumann eigentlich der bekannteste und wirksamste von denen allen. Und es ging mir dabei eigentlich überhaupt nicht um seine Person, sondern um das Phänomen selber und ganz besonders um die Wirkung. Und so als Zeitzeugnis ist das schon ganz bemerkenswert, wie lange das noch möglich war, dass jemand so dagegen hielt. "
    In dem jetzt zum 80. Geburtstag des Germanisten erschienenen Sammelband werden solche Beiträge zu politischen Lehrstücken. Aus den kurzen Vorbemerkungen nämlich erfährt man beispielsweise, dass Schöne, der doch Jahre zuvor schon eine Ideologiekritik der NS-Literatur in Angriff genommen hatte, 1968 in Berlin mit Gewalt und der Parole "Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot" von Studenten an einem Vortrag über "Goethes Wolkenlehre" gehindert wurde:

    " Es richtete sich nicht gegen den Vortrag selber, denn den hatten sie ja noch gar nicht gehört. Und dass er auch sehr auf die Französische Revolution einging, war ihnen natürlich vollkommen unklar und unbekannt. Das konnte man unter "Goethes Wolkenlehre" auch schlecht erwarten. Sie dachten, er redet über Bäume! Also etwas ganz Politikfernes, was uns eigentlich weder angeht noch interessiert noch wichtig ist noch nützlich für irgend so etwas. Nehmen Sie es nicht zu militaristisch, Zweifrontenkriege sind nicht ganz selten. "
    Zwischen den Fronten aber, zumal aus der Distanz des ausländischen Germanisten, gewinnt Schönes scheinbar so akademisches Fach seine ganz besondere Qualität:

    " Wir lernen viel von diesem – ja, anders kann man es nicht sagen – Fremdblick auf das Eigene, unsere Gegenstände gewissermaßen verfremdend anzusehen, nicht schon durch vorgefasste Brillen zu betrachten. "
    Diesen besonderen Blick hat der Germanist nicht nur mit Aufsätzen über den Protest der "Göttinger Sieben" gegen einen verfassungsbrüchigen Monarchen bewiesen, auch mit der Erinnerung an die von der Universität betriebene Bücherverbrennung 1933 oder einer kritisch-ironischen Analyse des Faust-Zitats vom "freien Volk auf freiem Grund", mit dem die DDR sich und ihre Monumentalbauten an der Stalinallee zierte. Vor allem aber hat Schöne selbst seinen fremden Blick mit Lehraufträgen in Japan und China geschärft. Und seine Studenten in Peking, die allesamt im Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz demonstriert hatten, überraschte er 1990 mit einem Vortrag über das 18. Jahrhundert, über Lavaters Versuche, mittels der Physiognomie den Charakter eines Menschen aus dem Gesicht zu erkennen:

    " Am Ende dieses Vortrags habe ich dann darüber gesprochen, dass diese Auseinandersetzung bis in unsere Zeit reicht, und habe Fotografien von alten Juden vorgeführt, die in Julius Streichers fürchterlicher Antisemitenschrift "Der Stürmer" publiziert waren. In einer stehenden Rubrik, über der stand: "Wie der Mensch aussieht, so ist er!" Ganz am Ende hatte ich ein Standbild aus dem Pekinger Fernsehen, direkt nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz, wo von zwei sehr gut aussehenden chinesischen Offizieren ein Student vor die Fernsehkamera geschleppt wurde, zusammengeprügelt, das Gesicht aufgeschwollen, hässlich und widerwärtig aussehend. Die begleitenden Kommentare dazu: Das sind kriminelle Subjekte, Konterrevolutionär war das Übliche, verkommene Burschen. Und dann habe ich sie daran erinnert, dass der wunderbare Lichtenberg gesagt hat: "Hinter jedem Gesicht steht ein in Freiheit wirkendes Wesen." "

    Das war nun das Paradebeispiel einer handfesten Germanistik, in einem akademischen Fach, das allzu oft von grauer Theorie dominiert wird, dem zu Schönes Bedauern mit "Grammatikmodellen" oder Computerlinguistik der Perspektivenreichtum und die "komparative Kraft" abhanden kommen. Es war aber auch das Gegenteil jener vorgeblich politisch betriebenen Wissenschaft, die am Ende nur feuilletonistisch aufgeputzte Werbung für die eigene Person macht – ohne je dafür einstehen zu müssen:

    " Kenner hatten mir gesagt: Wenn Sie das in Peking machen, werden Sie ein bisschen verhört und am nächsten Morgen abgeschoben. Es war sowieso mein letzter Tag, dazu kam es gar nicht mehr. Nachträglich tut es mir fast ein bisschen leid, dass ich auf diese Weise eine Lebenserfahrung nie gemacht habe, nämlich wie das ist, über Nacht in einem chinesischen Verhörzimmer zu sitzen. "
    So kann es kommen, wenn ein Germanist die Forderung eines Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach einer "Bringschuld" der Wissenschaften wörtlich nimmt – und diesen öffentlichen Auftrag als eine Pflicht, deren Erfüllung durchaus Genuss bereiten könnte, an die Politik, an Medienstrategen wie PISA-Experten zurück gibt:

    " Parlamentsreden, wie sie Carlo Schmid oder Kurt Schumacher schafften - wenn da heute Frau Merkel oder auch der Bundeskanzler reden, das ist ein anderes Kaliber mal gewesen, ganz ohne Zweifel. Es hängt sicher auch damit zusammen, dass das an die Medien abgegeben worden ist, an die Bildmedien, und sie kurz sprechen müssen und in Phrasen herein rutschen. Natürlich ist so etwas wie die Kraft und die Gewalt von Rede etwas, was wir uns für unser politisches Leben wünschen müssten. Das ist ein Bereich, der – glaube ich – an Schulen und Universitäten bei uns ein bisschen kurz kommt. "

    Jochen Stöckmann war das über "Vom Betreten des Rasens. Achtzehn Arbeiten zur deutschen Literatur" von Albrecht Schöne, erschienen bei C.H.Beck. 368 Seiten kosten 29,90 Euro.