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Ackerbau mit dem Geigerzähler

Wie ein Flickenteppich liegen in Weißrussland verstrahlte neben unverstrahlten Gebieten - die Wetterlage nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl vor 25 Jahren entschied über die Belastung. Eine Million US-Dollar gibt der weißrussische Staat nach eigenen Angaben noch heute pro Tag für die Bewältigung der Folgen aus.

Von Ernst-Ludwig v. Aster und Anja Schrum | 15.04.2011
    Nach dem Reaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl gingen 70 Prozent des radioaktiven Inventars über dem heutigen Gebiet Weißrusslands nieder. Eine 30-Kilometer-Zone um den Reaktor ist heute Sperrgebiet, ein Viertel der Landesfläche gilt als radioaktiv belastet.

    Wie ein Flickenteppich liegen verstrahlte neben unverstrahlten Gebieten - die Wetterlage vor 25 Jahren entschied über die Belastung. Wo es regnete, gingen verstärkt strahlende Partikel nieder. Eine Million US-Dollar gibt der weißrussische Staat nach eigenen Angaben noch heute pro Tag für die Bewältigung der Tschernobylfolgen aus. 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe.

    Vladimir Chernikov greift zu einem dicken Bildband. Auf dem Buch-Titel: Ein verkümmerter Baum, die Krone fehlt, hohes Gras umwächst den knorrigen Stamm.

    Das ist das weißrussische Buch über Tschernobyl, sagt Chernikov, hier das ukrainische, und hier das russische. Offizielle Erinnerungsbände. Strahlung, Zerstörung, Krankheit - eine Dokumentation des Schreckens. Chernikov legt das Buch zur Seite. Er leitet im weißrussischen Katastrophenschutzministerium die Abteilung zur "Bewältigung der Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl"...

    "Vor allem das radiologisch-ökologische Naturschutzgebiet in Polessje erinnert noch an die Katastrophe. Es erstreckt sich über insgesamt drei Landkreise. Der Verschmutzungsgrad ist dort noch sehr hoch. Für den Menschen wird dort noch Hunderte von Jahren das Leben nicht möglich sein. Das bleibt ein ewiges Denkmal."

    "Radio-ökologisches Naturschutzgebiet"- so nennt die Regierung die hoch verstrahlte 30-Kilometer-Sperrzone rund um den Reaktor, die nur von Wissenschaftlern betreten werden darf. Jahrelang hat Chernikov in dieser Gegend gearbeitet. Er leitete das Unternehmen "Radon". Koordinierte die Reinigung , Zerlegung und Entsorgung verstrahlter Häuser und Bauwerke. Mit seiner Mannschaft ließ er komplette Dörfer von der Landkarte verschwinden. Rund 120 Orte wurden so "begraben". Inzwischen ist Chernikov nicht mehr für den Abriss, sondern für den Aufbau zuständig.

    "Man kann von einer sozial-ökonomischen Wiedergeburt der verstrahlten Gebiete sprechen. Die Menschen werden ständig untersucht. Außerdem kontrollieren wir die Belastung der Nahrungsmittel. Das alles macht es den Menschen möglich dort relativ risikoarm zu leben. Alles mit der Unterstützung des Staates."

    Leben mit der Strahlung. Ein Feldversuch, seit mittlerweile 25 Jahren. Wissenschaftlich begleitet. Ein explosionsartiger Anstieg von Schilddrüsenkrebs kurz nach der Reaktorkatastrophe ist gut dokumentiert. Über den Anstieg anderer Krebsarten streitet die Wissenschaft nach wie vor. Über weitere Gesundheitsfolgen gibt es von der weißrussischen Regierung nur spärliche Auskünfte. Dafür aber um so mehr Informationen über die Folgen für die Vieh- und Landwirtschaft.

    "Es ist bekannt, dass radioaktives Strontium vor allem in den Knochen eingelagert wird. Zum Beispiel bei Rindern. Das Fleisch ist unbelastet, das können wir verkaufen. Die Knochen aber werden ordnungsgemäß entsorgt. Und wenn das Getreide aus diesen Regionen belastet ist, dann machen wir daraus Saatgut oder Spiritus für die Lebensmittelindustrie."

    Ackerbau mit dem Geigerzähler. Zwei Forschungsinstitute beschäftigen sich heute mit der Entwicklung von speziellen Anbaumethoden auf radioaktiv belasteten Böden. Sie sollen dafür sorgen, dass die landwirtschaftliche Produktion angekurbelt wird. Normalität in den verstrahlten Gebieten. Dazu gehören auch Kochrezepte, die Tipps geben, wie durch Zubereitungsmethoden die radioaktive Belastung bestimmter Produkte reduziert werden kann. Radioaktivität kleingekocht, Hilfe für den heimischen Herd. Ein Viertel der weißrussischen Landesfläche aber ist weiterhin radioaktiv belastet.

    Programmtipp

    Mit den Folgen des Reaktorunglück befasst sich auch die Sendung "Gesichter Europas" im Deutschlandfunk am Samstag, 16.4.2011, von 11:05 bis 12:00 Uhr unter dem Titel: Verstrahlt, verschickt, vergessen
    Die Kinder von Tschernobyl: 25 Jahre nach dem Reaktorunglück (DLF)