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Adel vernichtet

Belleville, im Nordosten von Paris, unweit vom Friedhof Père Lachaise. Das Viertel der Curry-Düfte und der alten Herren in ihren weiten Dschellabas. Hier sind Daniel Pennac und der Orient zu Hause. Nach Belleville kamen die ersten Einwanderer schon 1915. Zuerst die Armenier, die den Massakern durch die türkische Armee entflohen waren. Dann kamen die Juden aus Deutschland und Osteuropa. Dann die Araber aus dem Maghreb, wegen des Algerienkrieges, und Afrikaner aus der Sahel-Zone. Die letzten Immigranten waren Chinesen ab 1975, nachdem die Amerikaner Vietnam verlassen hatten.

Carine Brabandère |
    Alle Romane von Daniel Pennac spielen in diesem buntgemischten, friedlichen Nebeneinander. Für den Krimiautor eine Art Lebensutopie, leider bedroht von staatlichen Sanierungsprogrammen.

    Es hat nichts damit zu tun, dass die Leute hier besser sind als andere. Auch in Belleville gibt es Aggressionen, kleine Straftaten, vielleicht ein kleines bisschen weniger als wo anders. Aber hierher sind Menschen gekommen, die etwas Wesentliches verloren haben: ihre Heimat, ihre Familie. Wegen Krieg, Armut, Naturkatastrophen oder was auch immer. Hier wollen sie nichts Anderes, als das alles wiederaufzubauen. Deswegen passen sie auch zusammen und leben friedlich miteinander. Außerdem ist es ein altes Viertel mit Arbeiterwohnungen aus dem 19.Jahrhundert. Die Häuser haben jeweils etwa 10 Wohnungen und kleinere Geschäfte im Erdgeschoss. Da treffen sich die unterschiedlichsten Leute. Wenn das Wetter gut ist, kommen auch die jüdischen und arabischen Mamas, bringen ihre Stühle mit und plaudern. Währenddessen spielen die Kinder auf der Straße. Aber da die Omas da sind, passen die Kids auf, dass sie nicht zuviel Unsinn machen. Weil die Oma sonst schimpft. Und auch, weil sie Respekt haben. Es ist wie in einem kleinen Dorf.

    Mitten in diesem multikulturellen Kleinod wohnt die Mallaussène-Sippe. Mit Benjamin als Oberhaupt der Familie. Sein Beruf: Sündenbock. In einem Verlag wird er dafür bezahlt, den Ärger der Autoren, Lektoren und Vertriebsmanager auf sich zu laden. Seine Berufung: Bruder, Meister von sieben verrückten Halbgeschwistern und - nicht zu vergessen - vom epileptischen Hund Julius. Julius ist ein politisch bewusster Mischling, er bepinkelt nur Wahlplakate des Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen. Das Problem bei der fröhlichen Sippe besteht darin, dass, wann immer sich in Belleville ein Verbrechen ereignet, all die skurrilen Gestalten irgendwie damit zu tun haben. Und es passiert gewaltig viel in Daniel Pennacs Romanen.

    Seit fünfzehn Jahren sind die Mallaussène die Superstars des französischen Krimis. Mit Mitte fünfzig ist ihnen ihr Vater Pennac irgendwie ähnlich: unglaublich freundlich, trotz der Millionenauflagen. Hat Daniel Pennac es nicht satt, immer nur mit seinen verschrobenen Figuren in Verbindung gesetzt zu werden?

    "Nein! Ich kann nicht sagen, dass die Mallaussène mir unsympathisch sind. Ich bin ja der Autor. Für mich besteht die ganze Mallaussène-Sippe aus Worten. Es sind keine Menschen, sondern Situationen, Metaphern, Wortspiele. Erst der Leser verwandelt sie in virtuelle Menschen. Ok, ich will nicht die Macht der Worte überbewerten. Es sind natürlich auch reale Leute, Freunde die mich inspirieren. Die Figur des Stojilkovic zum Beispiel, der alte Ladenwächter. Das ist eigentlich mein Freund Dinko. Da muss ich Ihnen unbedingt eine wahre Geschichte über ihn erzählen: Wir waren im Krankenhaus. Seine Tochter hatte gerade einen Sohn geboren. Dinko guckt sich das Baby an, guckt mich dann misstrauisch an und fragt mit seinem wunderbaren slavischen Akzent: "Findest Du nicht, dass er große Hände hat? Ich fürchte, er wird ein Dieb werden". Daraufhin macht sich natürlich die Tochter große Sorgen. Aber Dinko beruhigt sein Kind. "Mach dir keine Sorgen, Liebes. Er hat auch große Füße. Die Polizei wird ihn nie fassen!" Sie können sich vorstellen, ein Geschenk für einen Schriftsteller..."

    In "Adel vernichtet", dem fünften Teil der Mallaussène-Abenteuer taucht ein feiner blaublütiger Oberrechnungsrat in der Familie auf: Marie-Colbert de Roberval. Marie-Colbert hat die Eliteschule ENA absolviert, die Ecole Nationale d'Administration, wo die ganzen Minister herkommen. Nun will der Sohn aus gutem Hause um die Hand der Hellseherin Thérèse anhalten, Benjamins Schwester. Für die Mallaussène eine klare Mésalliance. Julie, Benjamins Freundin, bringt es auf den Punkt, als sie gefragt wird, was sie von dem Schwager in spe halte: "Nichts", - antwortet sie - "ein ENA-Abhänger, E-N-A- ein Einmalig Normaler Arsch, nichts weiter."

    Benjamin und die anderen sind deshalb gar nicht so unzufrieden, als Thérèse nach der Hochzeitsnacht nach Hause zurückkehrt. Abgesehen davon, dass ihr Gatte tot im Ehebett liegt. "Adel vernichtet" eben. Und Adel vernichtet so gut, dass Thérèse bald Opfer einer Explosion wird, und die ganze Familie wieder mal als Hauptverdächtige da steht. Doch keine Sorge: da Pennac nun mal keine richtigen Krimis, sondern eher Krimi-Märchen schreibt, wird sich das Drama einrenken.

    Bis dahin werden viele chaotische Ereignisse dem Leser genug Gelegenheiten gegeben haben, Daniel Pennacs subtilen Wortwitz zu genießen. Seine Merkmale sind extravagante Metaphern und freche Dialoge. Und die wilde Mischung zwischen ausgefeiltem Hochfranzösisch und buntem Banlieue-Argot, vor allem dem Slang der Beurs, der Araber zweiter und dritter Generation:

    "Die französiche Sprache ist einfach so. Sie besteht aus beiden Komponenten. Frankreich ist das einzige Land Europas, das seit dem 15. Jahrhundert zentralisisert ist. Alle Regierenden dieses zentralisierten Landes waren wie besessen, eine Einheitsprache im ganzen Land durchzusetzen. Um nur einige Daten zu nennen: Das Edikt von Villers-Cotterêts 1539, in dem François 1er entscheidet, dass alle königlichen Erlasse nicht mehr in Latein sondern auf Französisch verfasst werden. Ein Jahrhundert später: die Entstehung der Académie française, ein unglaublich kluger politischer Schachzug von Richelieu. Der Minister von Ludwig dem XIII konnte damit die Intellektuellen kontrollieren, in dem er vorgab, die Sprache zu beaufsichtigen. Alle Autokraten haben mit einer Reflexion über die französische Sprache ihre Macht gesichert. Das hatte wiederum eine interessante Folge: Da die klassische Sprache des 17. und 18. Jahrhunderts das Ebenbild der Macht war, haben sich überall kodierte Sprachen entwickelt. Das war die Geburtstunde des Argot. Ein jahrhundertlanger Sprach-Widerstand hat eine an Argot sehr reiche Sprache entstehen lassen. Wir Franzosen haben einen linguistischen Reflex. Wir brauchen Hilfsmittel, wenn wir nicht nicht verstanden werden wollen. Und das findet man in allen Gesellschaftsschichten: Selbst die Großbürgerin aus dem 16. Pariser Arrondissement spricht eine Art Slang."

    Daniel Pennacs Liebe zur französischen Sprache kann man in seinem Buch "Wie ein Roman" nachlesen: Ein Essay, der dem Autor 1994 zum ersten Mal große Resonanz in Deutschland einbrachte. Pennac war fast 30 Jahre lang Französischlehrer. Seine Erfahrungen hat er in diesem Plädoyer gegen Leseverdrossenheit gesammelt, indem er die unantastbaren Rechte des Lesers verteidigt. Darunter das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. Ein Recht, wovon der Leser von "Adel vernichtet" sicherlich nicht Gebrauch machen wird. Er wird eher mehr von diesen spritzigen Romans noirs entdecken wollen. Der richtige Zeitpunkt dafür, denn die drei ersten Mallaussène-Romane werden bei Kiepenheuer & Witsch in einer komplett neu bearbeiteten Übersetzung verlegt. Ab nächstem Herbst kann man sich wieder in die wilden Abenteuer der Strolche von Belleville hineinversetzen. Man darf gespannt sein!