Freitag, 29. März 2024

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Adoleszenz im Kinder- und Jugendbuch

Wenn Kinder zu Jugendlichen werden, sprechen sie ihre Teenager-Sprache, nehmen Milieu-Unterschiede wahr und knüpfen erste Liebesbande. Diese und andere Themen haben die folgenden Autoren in ihre Jugendromane miteinfließen lassen. Ein Feature.

Von Simone Hamm | 16.07.2011
    Dorfbeben
    Von Agnes Hammer
    Script 5, 280 Seiten, 12,90 Euro
    ISBN 978-3-8390-0119-6

    Die Empfindungen eines Werthers, eines Törleß, eines Tonio Krögers sind universell und sie gelten für alle Zeiten. Auch die Jugendlichen im Jahre 2011 sind aufgeregt und unsicher, wenn sie sich verlieben und sie sehnen sich nach Neuem, Unbekannten. Die Hauptpersonen in den Romanen, die heute vorgestellt werden sollen, sind ein trauriger Märchenerzähler mit einem schrecklichen Geheimnis. Ein Junge in einem kleinen Dorf, in dem man schweigt über die Vergangenheit, solange, bis das ganze Dorf davon eingeholt wird. Ein anderer Junge, der während alle im Einheitsrausch taumeln, eine andere Geschichte erlebt, die ihn ungleich mehr bewegt, eine irische Liebesgeschichte. Zwei Vierzehnjährige, die eine Reise ins Unbekannte machen.

    Agnes Hammers Roman "Dorfbeben", ein Roman von früher Schuld und später Rache, von der ersten Liebe und einer wunderbaren Großmutter, spielt in einem beschaulichen Dorf im Westerwald. Es ist ein moderner Heimatroman. Mattes hat allein mit seiner sehr jungen Mutter in Köln gelebt, bevor er zurückgekommen ist in sein Heimatdorf. Er lebt bei der Großmutter. Mattes leidet an einer Krankheit, die er "Seelentaubheit" nennt. Er hat ein extrem gutes Gehör, zuckt zusammen, wenn jemand falsch singt, hält die Geräusche der Großstadt nicht aus. Quietschende Bahnen, summende Rolltreppen, lachende Passanten, hupende Autos, rufende Kinder, bellende Hunde, klingelnde Fahrradfahrer rasen durch seinen Kopf, der zu zerspringen droht. Von manchen wird der hochmusikalische Junge deshalb für verrückt gehalten. Genau dies Widersprüchliche darzustellen, hat Agnes Hammer gereizt:

    "Seelentaubheit beschreibt den Zustand, wo das Gehirn alles gleich wichtig nimmt oder unwichtig und quasi zusammenbricht durch diese Fülle von Information, die nicht mehr bearbeitet werden können. Ich fand das sehr schön, zu schreiben wie er sich auf der einen Seite als behindert empfindet. Auf der anderen Seite hat er ja auch eine ganz große Gabe. Er macht ja trotzdem Musik, der Dorfpfarrer bringt ihm das Orgelspielen bei,er macht etwas aus seiner Behinderung. Ich fand es sehr gut eine Hauptfigur zu haben, die ambivalent ist."

    Ich höre einfach zu gut. Ich habe Anfälle von Seelentaubheit, das heißt, ich höre zwar alles, kann aber nichts mehr einordnen. Hören ohne Filter. Manchmal höre ich Dinge, die andere nicht hören können. Zum Beispiel damals, als Jakob ermordet wurde. Und alle wussten, warum. Aber niemand etwas sagte.

    Agnes Hammer erzählt vom Erwachsenwerden in einer scheinbar heilen Welt. In Rückblenden schildert sie die Hinrichtung eines kleinen Jungen, eines russischen Zwangsarbeiters. Was hat der Junge getan? Wer hat ihn verraten? Nach und nach wird deutlich, wie dieses schreckliche Kriegsverbrechen noch heute in das Leben der Dorfbewohner beeinflusst.
    Eine dörflichen Idylle kann Geborgenheit schenken, Sicherheit, Zusammenhalt. Niemand ist allein, solange er sich an die Regeln hält. Aber manchmal kann diese Idylle nur aufrecht erhalten werden kann, weil etwas verdrängt, verschwiegen wird. Und sei es ein Verbrechen.

    "Ich glaube, dass Dörfer so funktionieren, dass es ganz viele Dinge gibt, über die man nicht spricht. Das muss nicht immer etwas aus der NS Zeit sein. Ich komme aus dem Landkreis Altenkirchen, da gibt es auch ein Dorf, Fluterschen, wo man gemerkt hat, dass das über Jahre hinweg funktioniert. Über Jahre brachte ein Mensch Leid über andere Menschen und man guckte einfach weg wie er seine Stieftochter missbraucht hat, seine Tochter, seinen Stiefsohn. Da hat dieses System ganz lange funktioniert. Man versteht es nicht. So Dörfer haben so eine Struktur des Verschweigens."

    Agnes Hammer verschränkt die politische Kriminalgeschichte mit der Geschichte der ersten Liebe. "Dorfbeben" ist ein schnell erzähltes, unglaublich spannendes Buch - und doch auch ein leises Buch. Denn da gibt es ja Vane die Bassistin in der Band, in der auch Mattes spielt. Er ist verliebt in sie. Er will ihr nah sein und flieht ihre Nähe.

    "Das trifft einen ja in diesem Alter wie ein Schlag. Dass es so etwas gibt. Dass man so überflutet sein kann von einem anderen Menschen, dass man wirklich ständig daran denkt. Ich glaube, dass man als älterer Mensch weiß, ja das gibt sich eventuell auch oder es gibt Möglichkeiten, da weiterzugehen, aber das weiß man als junger Mensch ja nicht. Man fühlt sich ja auch wirklich ausgeliefert."

    Letztlich ist Mattes viel zu schüchtern. Er schwärmt aus der Ferne. Er schreibt Liebeslieder. Er hofft.

    "Ich fand es auch sehr schön, da der Vane die Initiative zu überlassen. Ich fand das gut, da auch so einen Rollentausch zu beschreiben, denn ist ja oft so, dass Jungen da denken,o, da muss ich was tun, da muss ich cool sein, da muss ich stark sein."

    Agnes Hammer erzählt aus der Sichtweise von Mattes, dem Seelentauben. Er ist der Icherzähler:
    "Was mir beim Schreiben so Spaß gemacht hat, es war mir wichtig, das Buch aus einer anderen Perspektive zu schreiben, nämlich aus einer männlichen Perspektive. In der Adoleszenz sind Jungen beschränkter als Mädchen, haben ganz wenige Rollenvorgaben. Das einzige Gefühl, was die wirklich zeigen dürfen, ist Wut. Es ist immer noch so. Ein Junge weint nicht.
    Darum ging es mir. Das noch einmal nachzufühlen. Schreiben ist ja noch einmal nachzufühlen, ordnen. "

    Agnes Hammer hat lange Jahre an einem Berufskolleg gearbeitet, hat 16- bis 25- Jährige unterrichtet. Spannende Lebensjahre seien das:

    "Ich glaube, dass Geschichten, die in dieser Spanne des Erwachsenwerdens stattfinden, dass die uns alle angehen. Denn ich glaube, dass uns keine Phase so prägt, wie die, wenn wir uns lösen und wenn wir ich werden. Die Person, die dann wirklich ich sagt und damit nicht meint, das Kind von dem und dem."

    Der Märchenerzähler
    Von Antonia Michaelis
    Oetinger Verlag, 446 Seiten, 16,95 Euro,
    ISBN: 978-3789142895

    Wie viele Facetten hat ein Mensch? Kann ein Mensch gut sein und rein - und harsch und gewalttätig? Kann er die schönsten Märchen erzählen und doch kalt und grausam sein? Und kann man einen solchen Menschen, der mehr als ein dunkles Geheimnis zu haben scheint, lieben, auch dann noch lieben, wenn er sich längst abgewandt hat?

    "Der Märchenerzähler" heißt Antonia Michaelis ebenso poetischer wie spannender Roman, indem sie höchst gekonnt Elemente aus Märchen und Thriller miteinander verwebt. Und in dem sie ganz unauffällig, ganz diskret wichtige Fragen aufwirft. Fragen, wie die oben gestellten, die fast ein wenig philosophisch anmuten.

    Die achtzehnjährige Anna verliebt sich in Abel, den stillem Mitschüler mit dem raspelkurzen Haar und dem polnischen Namen, den die anderen Kurzwarenhändler nennen, weil er Tabletten und Gras verkauft. Er steht am Rande des Schulhofs, Stöpsel in den Ohren. Er hört keine Musik. Er atmet Stille. Weißes Rauschen. Er ist übernächtigt. Auch nachts macht er Jobs, über die er lieber nicht spricht. Während der Deutschstunden legt er seinen Kopf in seine Armbeuge und schläft.

    Das Mädchen aus gutem Hause legt die Querflöte zur Seite, verlässt ihr Haus mit dem blauen Licht und wendet sich Abel zu, obwohl alle ihre Freunde dumme Bemerkungen machen.

    Sie sah ihnen zu, und sah durch sie hindurch, es war wie ein Film. Sie saß mit ihrem Wodka außerhalb des Films und war tausend Jahre alt. Keiner von ihnen hatte je eine Insel im Meer versinken sehen, keiner von ihnen hatte die Splitter eines halben Schrankes voll Geschirr aus einer Wunde gesucht, keiner war je im grauen Treppenhaus der Amundsenstrasse 18 gewesen. Die Erkenntnis traf Anna wie der Knall eines Schusses: Es sind die anderen, dachte sie, die in einer Seifenblase leben, nicht ich.

    Abel kümmert sich liebevoll um seine kleine Schwester. Die Mutter ist verschwunden. Abel, der noch keine achtzehn ist, fürchtet, dass der gewalttätige Vater oder jemand vom Jugendamt seine kleine Schwester mitnehmen könnte. Sie ist die kleine Klippenkönigin, der er ein langes Märchen erzählt. Fasziniert lauscht Anna. Abel ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Und diesen Abel, den märchenhaften, den liebt sie ohne Wenn und Aber, obwohl sie spürt, dass das Märchen nicht gut ausgehen wird und dass sie sich auf etwas sehr Gefährliches eingelassen hat.

    Anna, Anna...Ich habe nichts, nur die Worte. Ich bin der Märchenerzähler. Ich möchte Dir etwas erklären, aber ich kann nicht. Später, später vielleicht. Die Worte, die ich dazu finden muss, sind scharfkantig und verletzend, schlimmer als Rosendornen. Es gibt einen Grund für das, was geschehen ist. Es kann nicht verziehen werden und ich bitte Dich nicht darum. Wir haben uns verloren, wir werden uns nicht wiederfinden.

    Abel versucht auszubrechen aus einer Welt aus Missachtung und Dumpfheit und Brutalität, indem er ein Märchen erzählt,eine Welt erschafft mit einem Rosenmädchen, einem treuen Seehund, einer kleinen Königin mit diamantenem Herzen. Er hat eine große Begabung. Er möchte Schriftsteller werden. Doch er findet nicht heraus aus dem schmutzigen Plattenbau. Er will die Hand nicht nehmen, die Anna ihm reicht. Er will sich nicht retten lassen. Er ist viel zu stolz. Und Anna? Sie gibt nicht auf. In jedem Märchen ist das Dunkle präsent, das Böse. Die Häscher kommen näher.

    Antonia Michaelis beschreibt das trostlose Leben im Plattenbau ohne falsches Mitleid und Pathos. Auch das Leben in der Neubausiedlung im Eigenheim mit großer Fensterfront und mit geradezu sterilen Sitzecken ist so großartig nicht. Die Abiturienten aus den besseren Familien sind mitleidlos, die Altachtundsechziger-Lehrer machtlos, die Jugendamtsmitarbeiter hilflos und an unsinnige Paragrafen gebunden. Dagegen setzt Antonia Michaelis die geradezu soghaften poetischen Worte Abels und zieht die Leser in ihren Bann. Niemand, der nicht ergriffen ist. Liebe, Verzeihen, Verzicht, Verrat, Verbrechen: Den "Märchenerzähler" kann man in einem Rutsch wie im Fieber lesen. Es ist ein Buch für alle, die Märchen lieben und Spannung aushalten können. Und es ist ein sehr einfühlsames Buch. Antonia Michaelis kann sich genau hineinversetzten in die achtzehnjährigen und ihre Verwirrungen der Gefühle:

    Manchmal kann ich nicht mehr unterscheiden...zwischen Schönheit und Trostlosigkeit. Ist das nicht merkwürdig? Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich glücklich bin oder traurig. Wenn ich an Dich denke, ist das so.

    Den Achtzehnjährigen hat Antonia Michaelis ihren Roman gewidmet, denen die es waren, sie es sind oder bald sein werden und all jenen, die es niemals sein werden.

    Was zusammengehört
    Von Markus Feldenkirchen
    Kein und Aber Verlag, Zürich, 352 Seiten, 19,90 Euro
    ISBN-10 3036955755

    Von den jüngeren Lesern wird jeder wissen, wo er am 11. September war. Die älteren erinnern sich genau an den Tag des Mauerfalls. Da war Markus Feldenkirchen 14, allein zu Hause, guckte Fernsehen, sah Leute auf der Mauer, vor der Mauer, Leute, sie seltsam gekleidet waren, seltsame Frisuren hatten.

    "Ich hatte, das muss ich ehrlich sagen, das Gefühl, dass mich das gar nichts anging, dass ich die Freude der Leute nicht teilen konnte, dass ich nicht berührt war. Das lag vor allem daran, dass ich nichts über die Menschen hinter der Mauer wusste, über das Phänomen DDR, ich kannte niemanden. Ja und so war das für mich eigentlich ein ziemlich unspektakulärer Tag."

    "Was zusammengehört" heißt Feldenkirchens Roman und damit spielt er natürlich an auf Willy Brandts "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört". Die erste Liebe in den Zeiten großer politischer Veränderungen. Benjamin ist auf einem Schüleraustausch in Irland und hat sich unsterblich verliebt in Victoria. Während der Lehrer erzählt, dass in Deutschland kein einziger Schuss gefallen sei, liest Benjamin einen Brief von Victoria und überlegt krampfhaft, wie er sie wieder sehen kann.

    Zum ersten Mal wurde mir die Relativität von Geschichte bewusst. Es mochte stimmen, was (mein Lehrer) Boell und Kohl und alle anderen sagten, dass dieses historische Ereignistausende, vielleicht Millionen Menschen glücklich machte. Mir aber war all das ziemlich egal. Ich erlebte gerade meinen eigenen Mauerfall.

    "Auch wenn es ein bisschen ignorant klingt und man sich schämen sollte, es zu sagen, natürlich ist einem die Höhepunkte oder die Tiefpunkte im eigenen Leben dann doch wichtiger als das was draußen ist, die große Politik. die großen historischen Ereignisse. "

    Benjamin erzählt aus der Rückschau. Inzwischen ist er Mitte 30, ein erfolgreicher, selbstsicherer Investmentbanker, der eine Dienstreise nach Irland macht. Markus Feldenkirchen:

    "Benjamin ist trotz seines modernen Berufes als Investmentbanker ein gnadenloser Romantiker. Melancholiker und Verklärer.""

    Denn immer noch, zwanzig Jahre nach dem Schüleraustausch hängt er an seiner ersten großen Liebe.

    "Diese Erfahrung um eine dramatisch große Liebe, das zu beschreiben,war eigentlich der Kern, das Anliegen, dieses Buch zu schreiben."

    Nie wieder hat Benjamin so intensiv gespürt, gelebt, gelitten. Da war er voller Leidenschaft. Jungen wie er, meinte Benjamin einmal, hätten Zweifel, Erwachsene hätten eine Hornhaut. Markus Feldenkirchen:

    "Alle Erfahrungen, die man das erste Mal macht, sind intensiver, dramatischer, drastischer als wenn man sie zum vierten oder fünften Mal macht. Da kommt dann das Moment der Gewöhnung, der Erfahrung hinzu und das nimmt natürlich die Dramatik aus den Dingen heraus."

    Feldenkirchen hat seinen Roman aus der Sicht eines Mittdreißigers geschrieben. Aber er fügt Briefe der beiden Liebenden ein, geschrieben wie eben sechzehnjährige einander schreiben. Dieser Kontrast macht den Reiz seines Buches aus. Er bricht seinen Roman also zweifach: Lässt kleine Liebesgeschichte im Schatten der großen Zeitgeschichte spielen, und baut rührende, manchmal fast ein wenig kitschige, aber immer ehrliche Brief in seinen Roman ein.

    Was zusammengehört ist nicht lakonisch, so flappsig wie so viele zeitgenössische Romane, in denen es um die Liebe geht. Aber es fehlt Benjamin nicht an Selbstironie. Und der sechzehnjährige ahnt, was ihn erwartet.

    Soviel glaubte ich inzwischen über das Leben zu wissen, dass es einer grausamen Chronologie folgt, und dass in jenem Maße, wie die Falten sich mehren, die Illusionen und der Glaube an eine große Liebe weichen. Es ist ein Schrumpfungsprozess, der sich an jedem Menschen aufs Neue vollzieht. Das Leben beginnt mit einem Meer an Möglichkeiten, mit jedem Ruck des Zeigers aber schwinden sie dahin, bis das Meer am Ende ein anderes ist, ein Meer aus Kompromissen. Vielleicht kann es große Lieben nur geben, solange sie nicht gelebt werden.

    Tschick
    Von Wolfgang Herrndorf
    Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 16,95 Euro
    ISBN: 978-3-87134-710-8

    Das lustigste, melancholischste, erfrischendste Buch der vergangenen Monate ist Roman wie ein Roadmovie:"Tschick" von Wolfgang Herrndorf. "Tschick", das ist der Neue in der achten Klasse, Andrej Tschichtchow, dessen Namen niemand aussprechen kann:

    So zusammengesunken, wie der da saß mit seinen Schlitzaugen, da wusste man nie: schläft der, ist der hacke, oder ist der einfach nur lässig?

    Ich-Erzähler Maik freundet sich mit Tschick an, sie bilden eine Notgemeinschaft, denn sie sind die Einzigen, die zu Ferienbeginn nicht auf den Geburtstag der Klassenschönsten, in die Maik zudem unrettbar verliebt ist, eingeladen werden. Wochenlang hat Maik an einer riesigen Bleistiftzeichnung von ihrer Lieblingssängerin Beyonce gearbeitet. Fast hätte er sie zerrissen. Einfach großartig, wie Herrndorf den Liebeskummer eines 14-Jährigen beschreibt:

    Ich überholte ungefähr 20 Jogger pro Minute. Ich rannte einfach durch den Wald uns schrie, und alle anderen, die durch den Wald rannten, gingen mir wahnsinnig auf die Nerven, weil sie mich hörten, und als mir dann auch noch einer entgegenkam, der mit Spazierstöcken ging, fehlte wirklich nur ein Hauch, und ich hätte ihm seine Scheißstöcke in den Arsch gekickt.

    Zu Hause stand ich stundenlang unter der Dusche. Danach fühlte ich mich etwas besser, etwa so wie ein Schiffbrüchiger, der wochenlang auf dem Atlantik treibt, und dann kommt ein Kreuzschiff vorbei und jemand wirft eine Dose Red Bull runter und das Schiff fährt weiter, so ungefähr.


    Zwei Außenseiter haben sich getroffen. Der Russe, neu in der Klasse, sitzt im schlimmen Hemd und billigen Jeans auf dem Platz des Klassentrottels, immerhin ersetzt er eines Tages seine Schuhe aus toten Tieren durch weiße Adidas, von denen jeder natürlich sofort weiß, dass sie geklaut worden sind. Überhaupt ranken sich Gerüchte um ihn. Einer der fünfmal sitzengebliebenen Oberstufenschüler, der betont lässig vor seinem getunten Ford Fiesta steht, will sich gerade lustig machen über Tschick, da beugt der sich vor, flüstert ihm etwas ins Ohr. Das Grinsen aus dessen Gesicht verschwindet, er verstummt. Muss einer, der einen solchen Typen zum Schweigen bringt, nichts mindestens Verwandte bei der russischen Mafia haben?

    Maiks Mutter muss sich wieder einmal in eine Beautyfarm begeben, das ist der Euphemismus für Entzugsklinik. Maiks Vater, ein Unternehmer, dessen Bauvorhaben allerdings auf Eis liegen, seitdem Umweltschützer auf dem Bauland drei ausgestorbene Insekten, einen Frosch und einen seltenen Grashalm entdecken, drückt seinem Sohn zweihundert Euro in die Hand, bevor er sich mit seiner jugendlichen Assistentin zu einer ausgedehnten Geschäftsreise aufmacht. Wolfgang Herrndorf:

    "Es geht um zwei vierzehnjährige Jungs und auf die Idee zu dem Buch bin ich gekommen, weil ich die letzten Jahre Bücher meiner Jugend wieder gelesen habe, Sachen, die mir gefallen hatten. Und da ist mir aufgefallen, dass diese Bücher alle drei Gemeinsamkeiten hatten, nämlich erstens, die Erwachsenen werden sofort eliminiert, zweitens, es geht auf eine große Reise und drittens aufs Wasser. Das schien ein gutes Rezept für ein Jugendbuch zu sein. Ich fragte mich, wie ich das heute in der Bundesrepublik des Jahres zweitausend und irgendwas machen könnte, wenn ich wollte und da ist mir nichts eingefallen außer zwei Jungs klauen ein Auto und fahren herum."

    erzählte der inzwischen tot kranke Wolfgang Herrn auf einer Lesung.

    Tschick schließt einen blauen Lada kurz und fragt Maik,ob er nicht mitkommen wolle auf große Fahrt. In die Walachai. Wo immer das sein mag.

    Natürlich ist das eine Reise ins Unbekannte, eine Reise zu sich selbst. In der besten Tradition von Huckleberry Finn und Tom Sawyer, des Fängers im Roggen. Wolfgang Herrndorf hat einen Champagnerkorken knallen lassen, als die erste Rezension seines Romans erschien,in der nicht Holden Caulfield erwähnt worden ist.

    Auf einer Mülldeponie treffen Maik und Tschik das geheimnisvolle Mädchen Isa, von einem Kriegsveteranen werden sie beinahe erschossen und sie kriechen halb tot aus dem Auto, mit dem sie sich fünfmal überschlagen haben.

    Nie biedert sich Herrndorf irgendeinem Jugendjargon an. Er kopiert keine flotte Teeniesprache. Er ist ein großer Stilist, er hat eine völlig neue Sprache erfunden, das Umgangsjugendsprachliche, das "Vollporno" und "Spacko" wird hier elegant eingebaut eine lakonische Kunstsprache.
    Man schüttet sich schier aus vor Lachen und man leidet mit den Protagonisten.

    Zwei Jungen auf großer Fahrt ins Ungewisse, ein Mann,der seine erste Lieben niemals überwunden hat, eine höhere Tochter, die sich in einen geheimnisvollen, gefährlichen Märchenerzähler verliebt, ein Seelentauber, der die verdrängten Verbrechen in einem kleinen Dorf aufdeckt - so unterschiedlich diese Romane für junge Erwachsene auch sein mögen, sie sind allesamt gut geschrieben, spannend und anrührend zugleich.