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Adriano Sofri: Die Gefängnisse der anderen.

Nirgends in Europa hat sich die Justiz so weit vom Verstand der Menschen entfernt wie in Italien. Jeder, der dieses herzliche Land kennt, weiß, dass er sich hüten muss, mit ihr in Berührung zu kommen, es sei denn, er sei ein Krimineller: In diesem Fall ist ihr Zustand von unschätzbarem Vorteil.

Katharina Rutschky | 27.08.2001
    Nirgends in Europa hat sich die Justiz so weit vom Verstand der Menschen entfernt wie in Italien. Jeder, der dieses herzliche Land kennt, weiß, dass er sich hüten muss, mit ihr in Berührung zu kommen, es sei denn, er sei ein Krimineller: In diesem Fall ist ihr Zustand von unschätzbarem Vorteil.

    So schrieb der Schriftsteller Hans Magnus Enzenberger vor rund einem Jahr im Zusammenhang mit dem Fall Adriano Sofri. Für den Autor, Antonio Tabucchi, ist der Fall Sofri ein ‚Fall Italien', der das übrige Europa und seine Institutionen anginge. Der Historiker Carlo Ginzburg vergleicht ihn sogar mit dem Fall Dreyfuss in Frankreich. Adriano Sofri war 1969 der Mitbegründer der linksradikalen Organisation ‚Lotta Continua'. Im Italien der vertuschten rechtsradikalen Attentate, des politischen Filzes mit der Mafia und der Loge P2 hängte man 1988 in einem skandalösen Verfahren Sofri und zwei seiner Genossen, den Auftrag zu einem Polizistenmord, der bereits 16 Jahre zuvor stattgefunden hatte, an. Seit fünf Jahren sitzt Sofri rechtskräftig in Pisa im Gefängnis, wenn der italienischen Justiz niemand in den Arm fällt, wird er dort bis 2017 bleiben. Ein Gnadengesuch hat Adriano Sofri abgelehnt, er wehrt sich durch Schreiben. In der Edition Epoca ist gerade sein Buch "Die Gefängnisse der anderen" erschienen, in dem er seine Erfahrungen im Kerker reflektiert.

    Bücher über unsere Gefängnisse und ihre Bewohner hat es lange nicht mehr gegeben. Mancher wird sich wohl noch an die 70er Jahre erinnern, in denen jede Gesellschaftskritik wie selbstverständlich auch die Kritik an ihren totalen Institutionen einschloss. Gemeint waren damit vor allem geschlossene Heime für Jugendliche, Irrenanstalten und Gefängnisse. Die Hoffnung, dass eine bessere Gesellschaft ohne sie auskommen müsste, verbreitete sich auch in der westdeutschen Linken. Viele Ideen wurde damals aus Italien importiert.

    Daran erinnert uns Adriano Sofri in der zweiten Hälfte seines gerade übersetzten Buches über die "Gefängnisse der anderen". Hier analysiert er im Rückblick auf die damalige Revolte die Entwicklung des italienischen Justizapparats mit all seinen halbherzigen Neuerungen und fatalen Irrwegen in Parallele zur italienischen Gesellschaft. "Wir werden keine Gesellschaft ohne Gefängnisse zu sehen bekommen", resigniert er heute. Eine Forderung, die aus der sogenannten roten - im Unterschied zur bleiernen - Zeit übrig geblieben war, ist erfüllt worden: das Recht der Strafgefangenen auf einen Gaskocher, mit dem sie sich selber Pasta zubereiten können. Ansonsten sind die Verhältnisse in den italienischen Haftanstalten eher noch schlechter geworden. Ein hoher Prozentsatz der Inhaftierten ist aufgrund der Antidrogengesetzgebung im Gefängnis; zahlreich sind auch die illegal Eingewanderten vertreten. Genauso wie in deutschen und nordamerikanischen Strafanstalten führt die Überbelegung zu Stress und Gewaltausbrüchen. In Italien drängen sich fast 50.000 Gefangene auf 29.000 Plätzen. Dass unter solchen Umständen Resozialisierung stattfindet, bestreitet Adriano Sofri. Wer sich hier bessert, tut das aus eigener Kraft.

    Der Schriftsteller und Kolumnist von Unita und Repubblica, Jahrgang 1942, kennt das Gefängnis und das Justizsystem von innen genauso gut wie von außen. Als Mitbegründer von Lotta Continua war er einige Male inhaftiert, wurde aber nie verurteilt, bis ihm 1988 aufgrund der Aussage eines ehemaligen Genossen im Rahmen einer Kronzeugenregelung der Prozess gemacht werden konnte. Nachgesagt wird Sofri die indirekte Beteiligung an der Ermordung eines Polizeikommissars, der seinerseits verdächtigt wurde, die Ermordung eines Anarchisten bei einem Verhör als Selbstmord kaschiert zu haben. Sofri hat den Vorwurf immer bestritten; doch sein eigener Fall steht in diesem Buch nicht im Mittelpunkt der Analyse der mit der Polizei verfilzten Justiz. Auch nach seiner endgültigen Verurteilung zu 20 Jahren Haft, die er seit 1998 in Pisa verbüßt, appelliert Sofri nicht an das Mitgefühl, nicht einmal an die Solidarität mit einem politischen Gefangenen.

    Aber schließlich ist die Unterscheidung zwischen einem politischen und einem ganz normalen Gefangenen im Knast selbst weniger wichtig. Der Zusammenhang von Tat, Urteil und dieser Lebensumwelt mit Namen ‚Strafvollzug' verflüchtigt sich im Alltag des Gefangenen, den Sofri in der ersten Hälfte seines Buches so gelassen und interessant beschreibt, wie es nur einem wirklichen Humanisten und echtem politischen Kopf möglich ist. Seine Beobachtungen an sich und an den Mitgefangenen zünden vage Ideen. Vieles erinnert an die antiautoritären Überzeugungen der 60er und 70er Jahre. Sofri hat einen umfassenden Begriff von Freiheit, der hierzulande oft mit Leichtsinn, Naivität oder gar Verantwortungslosigkeit in eins gesetzt wird. Ein Gnadengesuch hat der Häftling in Pisa nie gestellt, trotz der guten Aussichten als Prominenter, der auch aus dem Ausland zahlreiche Unterstützung bekommt. Die Gefängnisse der anderen, so lässt sich der Titel von Sofris Buch auch verstehen, sind die Verhältnisse, in denen wir draußen leben und in die aus der Haft überzuwechseln nicht jeder Kniefall taugt. Sofri ist kein Bespiel für den schlechten Altersradikalismus, als den er einen Zustand benennt, in dem ätzende Kritik ohne den Mut zur Veränderung daher kommt.