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Ägypten
Interna aus dem inneren Kreis der Muslimbrüder

Nach dem Sturz des demokratisch legitimierten Präsidenten Mursi erklärte die neue Führung seine Muslimbruderschaft zur terroristischen Vereinigung und schlägt sie seitdem mit aller Härte nieder. Zumindest die ehemalige Nummer zwei der Muslimbrüder gibt ihnen darin Recht.

Von Susanne El Khafif | 14.02.2015
    Muhammad Habib ist Gast im ägyptischen Fernsehen. Es ist leicht, ihm und seinen Ausführungen über das Wesen des Islamismus auf dem Bildschirm zu folgen - anders der Versuch, ihn persönlich zu treffen, zu einem Interview.
    Es ist einer dieser seltenen Tage, in denen der Winter auch in diesem Land kalt und dunkel daherkommt. Allmählich verklingen der Lärm und der Trubel Kairos, es geht raus, weit raus in ein Neubaugebiet, irgendwo im Osten der Stadt, dorthin, wo die Wege noch keine Namen haben, der vom Regen aufgewühlte Sand erst demnächst geteert werden muss. Die Gegend wirkt öde: Hohe Wohnblocks, fast alle noch unbewohnt, in der Mitte eine große Fläche mit Bauschutt, dazwischen streunende Hunde, Plastiktüten, die der Wind vor sich hertreibt. Irgendwann soll es hier grün werden, mit Bäumen, einem Park.
    Im Treppenhaus kein Licht, dafür eine freundliche Begrüßung, im fahlen Dunkel des Raumes sitzt man einander gegenüber, kaum ist das Gesicht des anderen auszumachen. Eine eigenartige Atmosphäre. Doch Mohammed Habib kommt gleich zur Sache:
    "Nicht Mursi hat Ägypten zwischen 2012 und 2013 regiert, es war die Führung der Muslimbruderschaft. Die Menschen haben deswegen auch "Nieder mit dem Murshid" gerufen - "nieder mit dem obersten Führer." Im Sommer 2013 war das Land am Rand eines Bürgerkriegs. Ich denke, wenn die Streitkräfte nicht eingegriffen und Mursi abgesetzt hätten, wären wir heute in einer äußerst gefährlichen Lage."
    Ehemalige Nummer zwei der Muslimbrüder
    Muhammad Habib muss es wissen. Seit frühester Jugend gehört er der Bruderschaft an, ist am Ende die Nummer zwei innerhalb der Hierarchie. Als Vertreter des obersten Führers agiert er im Zentrum der Macht. Habib engagiert sich für den politisch-pragmatischen Kurs, den die islamistische Organisation seit den 1970iger-Jahren eingeschlagen hat. 2010 tritt er von seinem Posten zurück, noch ein Jahr später verlässt er die Bruderschaft. Für immer.
    "Als der heutige Präsident Sisi, der damals noch Armeechef war, die Gefahren beschrieb, da waren sie real. Hätte Mursi weiter regiert, wäre das Land auseinandergebrochen, wir wären heute Teil eines islamistischen Gebildes, vielleicht zusammen mit Libyen, dem Irak, Syrien. Wir würden bis zu den Knien im Blut stehen."
    Das Licht geht an. Endlich. Es zeigt einen kleinen, schmal gewachsenen -überraschend schüchtern wirkenden Mann Anfang 70, mit Backenbart und einer großen Brille auf der Nase. Es zeigt eine Wohnung, die einen unbewohnten Eindruck macht. Das klärt sich auf, Habib ist selten in Kairo, er lebt und arbeitet in Oberägypten, ist Professor für Naturwissenschaften, an der Universität von Assiut.
    Die neue Führung habe sich einem militanten Islamismus verschrieben, dem Qutubismus, sagt Habib, habe 2010 eine radikale ideologische Kehrtwende vollzogen. Das sei der Grund für seinen Austritt. Und der Grund für den tiefen Fall der einst so mächtigen Organisation, die die Sympathien der Menschen leichtfertig verspielt habe.
    "Die Muslimbrüder, die Gründervater Hassan El Banna folgen, haben der Gewalt vor 40 Jahren abgeschworen. Doch die Führung, die die Macht 2010 an sich riss, schlug einen anderen Kurs ein. Sie bezog sich auf Sayyid Qutb, sprach von Ignoranz und Gottesherrschaft, verwendete dabei dieselben Begriffe wie er, nämlich "Gahiliyya" und "Hakimiyya"."
    Habib: Machtgier in der Muslimbruderschaft
    Der Muslimbruder Sayyid Qutb war es, der die Grundlage für einen militanten Islamismus legte. Bis heute berufen sich islamistische Terrorgruppen auf ihn, wenn sie zum Sturz muslimischer Regime aufrufen, wenn sie die Gewalt verherrlichen und propagieren, die - wie sie sagen - einzig befreiende, nämlich göttliche Herrschaft wieder herzustellen.
    Die Bruderschaft - in der Ära Mubarak politisch pragmatisch - sei der Machtgier und dem militanten Islamismus verfallen. Nicht der Staat, so Habib, sondern die Führung der Bruderschaft selbst habe daher deren Untergang zu verantworten, habe letztlich auch die vielen Toten auf dem Gewissen, die bei der Räumung der Protestlager nach dem Sturz Mursis zu beklagen waren. Die Bruderschaft habe abgewirtschaftet, sagt er, zumindest für die nächsten Jahrzehnte. Die Hoffnung, dass vielleicht die Mitglieder den Kurs ihrer Führung korrigieren könnten, hält er für trügerisch.
    "Sie folgen ihrer Führung nahezu blind. Sie bleiben ihrer Kultur treu: der Gehorsamkeit und des Vertrauens in den Murshid. Sie isolieren sich. Ich habe wenig Hoffnung, dass sie anfangen, ihrer Führung Fragen zu stellen, sie zur Rechenschaft zu ziehen."
    Die Analyse eines einstigen Führungsmitglieds: Sie stützt die Lesart der Militärs, der Regierung, die für die Terroranschläge dieser Tage die Muslimbrüder verantwortlich machen. Doch wie glaubwürdig ist Mohammed Habib selbst? Fest steht: Er kennt die ägyptischen Gefängnisse von innen. Doch er weiß auch, wie schnell Verräter Opfer eines Attentats werden können. Es gibt ein ägyptisches Sprichwort, sagt er zum Abschied, es lautet:
    "Wer sich fürchtet, der schweigt. Wer sich nicht fürchtet, der spricht. Ich habe keine Angst. Vor niemandem. Nicht vor dem Staat, nicht vor militanten Islamisten."