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Ätzende Tests

Erst seit 1981 schreibt der Gesetzgeber für neue Chemikalien gründliche Tests vor. Tausende von Produkten, die damals bereits auf dem Markt waren, werden weiter verkauft - ohne genaues Wissen über die damit verbundenen Risiken für Mensch und Umwelt. Mit ihrer neuen Chemikalienrichtlinie REACH will die EU jetzt endlich nachbessern. Aufgeschreckt von Krebs- und Allergiestatistiken will sie voraussichtlich schon von Januar 2007 an die Hersteller in die Pflicht nehmen und 30.000 Altstoffe systematisch prüfen lassen.

Von Ralph Ahrens | 12.11.2006
    Es ist windstill in der Frobisher Bay, einer langgezogenen Bucht, die weit in die Baffin-Insel im Nordosten Kanadas hineinragt. Zwischen zwei Eisschollen warten drei Inuit-Jäger in ihrem Boot geduldig darauf, dass die Ringelrobbe, die vor wenigen Minuten verschwunden ist, wieder auftaucht

    Die Jäger fahren zum toten Tier und hieven es an Bord. Es ist die dritte Robbe, die die Inuit seit heute morgen erlegt haben. Genug für diesen Tag.

    Sie kehren zurück ans Festland, wo sie die Tiere zerlegen. Fleisch, Speck und Haut werden sie anschließend gerecht verteilen. Auch Meeka Kilabuk erhält einen Teil:

    " Ich esse meist Fleisch von Robben, Karibous, Fischen und Walen. Eine Delikatesse ist maktak, so nennen wir die Walhaut. Es ist unsere Art zu Leben: wir jagen, um uns zu ernähren. Jagen ist kein Sport für uns."

    Robben, Wale und auch Eisbären - die traditionelle Nahrung der Inuit. Jahrhundertelang lieferte sie in der kargen Wildnis alles, was Menschen zum Überleben brauchten. Bis man merkte, dass das Fleisch der Tiere verseucht war. Pestizide und Industriegifte gelangten mit Wind und Wasserströmungen bis in die Arktis. Wissenschaftler wiesen sowohl in Tieren als auch in Blut und Muttermilch der Inuit bedenkliche Konzentrationen etwa an PCBs, den polychlorierten Biphenylen, nach - Stoffe, die die motorische und geistige Entwicklung junger Menschen stören.

    Jahre hatte es gedauert, bis man begriff, dass mit der Natur im hohen Norden irgendetwas nicht stimmte. Bis es soweit war, wurden die giftigen Chemikalien ungehindert in die Luft. Erst seit 2004 gilt das Stockholmer Übereinkommen der Vereinten Nationen zum Bann langlebiger organischer Schadstoffe. Zwölf Substanzen, darunter PCBs, Dioxine und einige Insektizide wie auch DDT werden seitdem streng reglementiert.

    Doch die Probleme sind damit noch lange nicht gelöst.

    Köln. Ein Baumarkt am Rande der Stadt. In den Regalen meterlange Reihen von Klebstoffen, Farb- und Lacktöpfen, daneben Fliesen, Holzbretter und Vorhänge. Wissen die Käufer, was sie sich da ins Haus holen?
    " (Mann) Ich vertraue dem, was ich im Geschäft zu kaufen bekomme.

    (Frau) Man hört ja soviel, dass die Menschen krank werden dadurch. Da ist ja soviel Gift drin. Aber ich muss ja auch nach meinem Geldbeutel gucken, nicht?

    (Mann) Im Moment ist mir das sekundär. Ich brauche das als Außenfarbe - von deshalb ist mir das nicht so wichtig. Für den Innenbereich klar, da will man sehen, ob da irgendwelche Ausdünstungen sind und so weiter, aber für den Außenbereich, Balkon erst mal nicht.

    (Frau) Grundsätzlich bei Lebensmitteln achte ich darauf, ob das irgend etwas drin ist, aber tatsächlich bei Tapeten et cetera nicht. Ich gebe es ehrlich zu. "

    Tatsächlich finden sich in den Regalen der Baumärkte, in den Kesseln der Chemiefabriken, in T-Shirts, Tapeten und Spielzeugen noch immer Stoffe, von denen niemand weiß, was sie bewirken. Dass manche dieser Produkte unerkannt Allergien oder gar Krebs auslösen, mag Gabriela Fleischer vom Bundesverband der Verbraucherzentralen nicht ausschließen,...

    "... weil viele Chemikalien, die in Konsumprodukten verwendet werden, nicht getestet wurden bisher. "

    Denn nur jene Chemikalien, die in den letzten 25 Jahren zugelassen wurden, musste die chemische Industrie testen. Alle Substanzen, die schon länger auf dem Markt sind, die sogenannten Altstoffe, nicht. Das soll sich jetzt mit einem neuen Gesetz ändern

    " Die neue Chemikalienverordnung soll nun dazu beitragen, dass die marktrelevanten Chemikalien endlich untersucht werden im Hinblick auf ihre giftigen Eigenschaften und im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Umwelt."

    Seit sieben Jahren arbeitet die Europäische Union an dieser neuen Chemikalienverordnung. Sie wird REACH genannt, die Abkürzung steht für Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals, also für das Anmelden, Bewerten und Zulassen von Chemikalien. Ziel ist, Mensch und Umwelt besser vor Chemikalien zu schützen. Dazu sollen in den nächsten zwölf Jahren rund 30.000 Altstoffe gezielt untersucht und bewertet werden. Und sehr gefährliche Chemikalien sollen ähnlich wie auch heute schon Pflanzenschutzmittel zugelassen werden. Diese Maßnahmen haben ihren Grund. So schreibt die Europäische Kommission im Februar 2001 in ihrem Weißbuch ‘Strategie zur zukünftige Chemikalienpolitik'.

    Die Tatsache, dass man zu wenig über die Auswirkungen vieler Chemikalien auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt weiß, gibt Anlass zur Sorge.

    Und an anderer Stelle

    Die Inzidenz (also das Auftreten) einiger Krankheiten, wie Hodenkrebs bei jungen Männern und Allergien, hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Zwar sind die Ursachen für diese Erkrankungen noch nicht geklärt, doch scheint die Besorgnis berechtigt zu sein, dass hier ein kausaler Zusammenhang zwischen Allergien und bestimmten Chemikalien besteht.

    In Würzburg hat der Hals-, Nasen-, Ohrenarzt Peter Ohnesorge seine Praxis. Rätselhafte Erkrankungen häufen sich in den letzten Jahren. So erinnert sich der Hals-, Nasen-, Ohrenarzt an ein vierjähriges Mädchen, das im Frühjahr dieses Jahres zu ihm in die Praxis kam. Es litt ständig unter Infektionen der Atemwege. Und:

    " Die Haut war sehr trocken, die Gesichtshaut war sehr trocken und es sah aus, als sei sie von der Sonne verbrannt. Ähnlich sah es in der Schleimhaut der Nase aus. Die vorderen Abschnitte der Nase waren pergamentartig trocken, fast - wenn man drauf drückte - fast knisternd."

    Die Untersuchung ergab, dass aus den Möbeln des Kinderzimmers Chemikalien ausdünsteten und zu den Beschwerden führten. Peter Ohnesorge kennt zum Glück nur wenige so schwere Fälle.

    " Aber wir haben sehr viele Schleimhautreaktionen bei Kindern. Und wenn ich Ihnen meine Hals-, Nasen-, Ohrenpraxis und die allergologische Praxis, die von solchen Patienten sehr häufig angesteuert wird, eine Statistik erstellen müsste, ich hab sie nicht erstellt, aber ich kann es schätzen, dass zirka 10 Prozent der Kinder, die zu mir kommen (...) vom häuslichen Milieu mit erkranken."

    Die Chemie ist ein zweischneidiges Schwert. Die eine Seite: Viele Stoffe sind gefährlich - einige sind brennbar, andere können Krebs auslösen. Die andere Seite: Ein großer Teil des Wohlstands der westlichen Welt basiert auf den Innovationen der Chemieindustrie. Doch nur wenige Substanzen wurden bislang systematisch auf Risiken für Mensch und Umwelt getestet, betont Stefan Scheuer vom Europäischen Umweltbüro, dem Dachverband europäischer Umweltverbände mit Sitz in Brüssel.

    " Die größte Gefahr ist das Unwissen: nicht zu wissen, was die Chemikalien machen können, wenn sie mal freigesetzt sind. Und letztendlich werden fast alle Chemikalien irgendwann freigesetzt. Und die Folgen können gravierend sein, wie wir ja in den Fällen Asbest, DDT gesehen haben. Und mittlerweile gibt es auch Effekte, die sehr überraschend sind, kleinste Mengen von Stoffen, die hormonell wirksam sind, können große Schäden zum Beispiel an Embyronen erzeugen, die dann unfruchtbar sind. Das sind Folgen, irreversible Folgen. Und da wissen wir sehr wenig."

    REACH wird die Chemikalienpolitik grundlegend verändern. Denn die EU will mit REACH die Beweislast umkehren. Während bislang Behörden begründen mussten, warum sie den Einsatz eines gefährlichen Stoffes einschränken oder verbieten wollten, nimmt REACH die Industrie in die Pflicht. Stefan Scheuer

    " Der Hersteller ist für die Sicherheit seiner Produkte verantwortlich und nicht die Behörden. Und der Hersteller muss seine Produkte so gestalten, dass sie sicher verwendbar über den Lebensweg sind. Und diesen Paradigmenwechsel wird REACH jetzt bewirken. Das haben wir von Anfang an unterstützt und sehen das auch als einen der innovativen Aspekte von REACH an."

    Besonders streng sollen die Vorgaben für Chemikalien sein, die sehr gefährlich sind, also etwa Krebs auslösen oder die Fortpflanzung schädigen. Alle diese Stoffe werden, obwohl sie schon seit Jahren auf dem Markt sind, noch einmal auf Herz und Nieren geprüft. Was das bedeuten kann, beschreibt Umweltschützer Scheuer

    " Zum Beispiel haben wir für Weichmacher ein Verbot in Kinderspielzeug für Kinder unter sechs Jahren. Und REACH würde eben ein viel weiteres System schaffen, dass nicht nur bestimmte Anwendungen betroffen sind, sondern eventuell auch der gesamte Stoff."

    Zu den 'gefährlichen Stoffen', deren Einsatz künftig von einem Genehmigungsverfahren abhängen soll, zählt die EU auch Stoffe, die sich im Körper von Tieren oder Menschen anreichern.

    " Der Fokus auf diese Stoffe ist deshalb so wichtig, weil sich diese Stoffe eben nicht in der Natur abbauen lassen, dass es da keinerlei Mechanismen gibt und dass sich einige von denen eben auch im Körper anreichern, das heißt, sie finden sich wieder in Muttermilch, im Blut und richten Schaden an. "

    Das Erstellen und Zusammentragen von Daten ist ein zentraler Baustein von REACH. Dabei gilt: Je mehr eine Firma von einer Substanz herstellt oder einführt, desto mehr muss sie über die Stoffeigenschaften in Erfahrung bringen. Innerhalb von elf Jahren sollen Hersteller und Importeure rund 30.000 Altstoffe überprüfen - das sind all jene Stoffe, von denen eine Firma mehr als eine Tonne in der EU herstellt oder in die EU einführt.

    Keine Frage: REACH ist eine Herausforderung ...

    ... und deshalb wurde um REACH auch hart gerungen. Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie:

    " Die Behörden werden in Zukunft wissen, welche Stoffe in Europa produziert werden, welche nach Europa importiert werden, welche Eigenschaften diese Produkte haben, für welche Verwendungen sie vorgesehen sind und welche Expositionen von ihnen ausgehen. Das wird also schon die Informationslage bei den Behörden verbessern und damit bringt REACH auch gewisse Fortschritte in Sicherheit und Umweltschutz."

    Aber, das Ganze hat auch eine Kehrseite: Solche Daten zu erheben, kostet Geld. Viel Geld. Gerd Romanowski.

    " Wir rechnen in der Chemieindustrie beispielsweise allein mit Test- und Registrierkosten in der Größenordnung von zwei Milliarden Euro. Dazu kommen bürokratische Anforderungen, Formulare, technische Leitfäden, die eingehalten werden müssen. Und die auch zu Belastungen in noch unbekannter Höhe führen werden."

    Der Preis für einige Chemikalien kann also steigen. Und ...

    " Was auch nicht vernachlässigt werden darf, ist, dass indirekt durch REACH auch die Abnehmer der chemischen Industrie belastet werden dadurch, dass bestimmte Stoffe in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen werden und deswegen Rezepturen neu entwickelt werden müssen. Das wird Kosten verursachen, deren Höhe wir aber nicht genau kennen."

    Es gibt auch eine Gegenrechnung. Andreas Troge, Präsident vom Umweltbundesamt in Berlin.

    " Im Vergleich dazu - und das ist ein wichtiges Argument: Allein im Arbeitsschutzbereich lassen sich durch die Europäische Chemikalienpolitik 30 Milliarden Euro bis 2030 sparen, im Gesundheitsschutz etwa 5 Milliarden bis 2020. Zur Umwelt haben wir noch gar keine Angaben. Das heißt, die Rendite der Politik an sich ist deutlich positiv."

    Was ab dem nächsten Jahr auf die Hersteller der Altstoffe zukommt, ist den Unternehmen weitgehend klar. Denn für alle Chemikalien, die in den letzten 25 Jahren auf den Markt kamen, schreibt der Gesetzgeber bereits jetzt umfangreiche Tests vor. Geprüft wird also schon lange, etwa beim Chemiekonzern BASF in Ludwigshafen.

    " Hier ist der Raum, wo wir Daphnien-Tests machen (Atmo: Tür geht zu) Daphnien sind Wasserflöhe. Und wie Sie hier sehen, das sind ganz kleine Tiere, die im Süßwasser leben, kleine Krebschen. Und wir prüfen die Reaktion auf Chemikalien, die im Wasser gelöst sind."

    Sabine Zok ist Ökotoxikologin. Sie steht vor einem rot gekachelten Labortisch, vor ihr ein kleines Gefäß mit einer in Wasser gelösten Chemikalie. Von dieser Lösung stellt die Ökotoxikologin eine Reihe von Verdünnungen her, die sie dann auf eine Plastikplatte mit 24 Vertiefungen träufelt. In jedes einzelne dieser Miniaquarien setzt sie drei Wasserflöhe. In zwei Tagen wird sie nachschauen, wie viele von ihnen noch leben.

    " Daraus ermitteln wir einen Wert, der uns sagt, wie toxisch die Substanz auf Daphnien gewirkt hat."

    Dieser Wasserflohtest sei nur einer von vielen Tests, die regelmäßig durchgeführt werden, betont Martin Kayser, Leiter der BASF-Abteilung Produktsicherheit.

    " Es gibt eine ganze Reihe von Tests, die durchgeführt werden, um die Sicherheit von Chemikalien bewerten zu können. Das fängt mit physikalisch-chemischen Untersuchungen an, wo Sie dann Eigenschaften testen wie Siedepunkt, Flammpunkt oder auch Löslichkeit einer bestimmten Substanz. Dann haben Sie eben ein Beispiel für einen aquatischen Test gesehen an der Daphnie. Das ist ein sehr einfaches Lebewesen, ein sehr empfindliches Lebewesen. Hier werden akute Tests durchgeführt, aber auch längere Tests wie zum Beispiel über drei Wochen, um dann zu sehen, ob dadurch ein Effekt auf die Tiere auftritt."

    Wie giftig ein Stoff ist, testen Forscher auch an Ratten und Mäusen. Sie verabreichen den Nagetieren die Chemikalie meist mit dem Futter. Zwei Wochen später sezieren sie die Tiere und untersuchen deren Organe. Und nicht nur das. An trächtigen Ratten prüfen sie, ob die Stoffe die Fortpflanzung gefährden. Martin Kayser

    " Da wird quasi nachgesehen, ob die Tiere sich vermehren und ob sie bei Nachkommen irgendwelche schädlichen Effekte sehen. Da gibt es verschiedene Versuchstypen, die hier durchgeführt werden. Der längste Versuch ist die so genannte 2-Generationenstudie. Da untersuchen sie die Tiere von der Elterngeneration bis in die zweite Nachkommengeneration."

    " Die neuen Stoffe werden auf Herz und Nieren geprüft, soweit sie in Mengen über einer Tonne pro Jahr in den Verkehr gebracht werden."

    erklärt Elmar Böhlen von der ‘Anmeldestelle Chemikalien', jener Behörde, der Firmen bei Neustoffen schon heute erklären müssen, wie harmlos oder gefährlich ihre Produkte sind.

    " Ich würde sagen, die neuen Stoffe, also alle Stoffe, die nach 1981 das erste Mal auf den Markt kamen, werden systematisch und gut geprüft. Und das Risiko kann aufgrund dieser Prüfung beurteilt werden und mit den Stoffen kann aufgrund dieser Beurteilung auch dann angemessen umgegangen werden."

    So ist von jeder Chemikalie, die in den letzten 25 Jahren erstmals vermarktet wurde, bekannt, ob sie giftig ist oder nicht.

    " Für alle Stoffe vor 1981 muss man davon ausgehen, dass die nicht systematisch geprüft wurden. Und die Gefahren zu den Stoffen, die negativen Eigenschaften sind größtenteils unbekannt. Und deshalb, weil man diese Unbekannte hat, kann man auch das Risiko letztlich, das von diesen Stoffen ausgeht, nicht beurteilen."

    Und die Gefahr, die - unerkannt - von den Altstoffen ausgeht, kann hoch sein, meint Elmar Böhlen und verweist dabei auf seine Erfahrung.

    " Der Anteil der Neustoffe, die durch die Prüfung in diesem Verfahren sich als gefährlich herausgestellt haben, der liegt bei über 60 Prozent, 65 Prozent etwa."

    Rund zwei von drei aller neuen Stoffe sind also gefährlich. Manche sind entzündlich, andere bewirken allergische Reaktionen oder können Krebs auslösen.

    Überträgt man diese Erfahrung auf jene 30.000 Altstoffe, die unter REACH registriert werden sollen, könnten sich bis zu 20.000 von ihnen als gefährlich erweisen - also als explosiv, erbgutschädigend oder umweltgefährdend. Bislang sind in der EU aber erst rund 7.000 Stoffe so eingestuft. Chemikalienfachmann Böhlen würde sich daher nicht wundern, wenn sich unter REACH weitere 10.000 Stoffe als gefährlich erwiesen.

    Auch Verbraucher würden davon profitieren, vermutet Elmar Böhlen:

    " Wenn zum Beispiel ein neuer Stoff von der Firma für Verbraucher vorgesehen wird, und die Firma bereitet eine Anmeldung vor und sie stellt dabei fest, dass er bei einem der Kurzzeittests auf erbgutverändernde und krebserzeugende Eigenschaften - das sind keine Tierversuche -, wenn dabei festgestellt wird, der ist positiv, dann ist meine Erfahrung, dass wir so einen Stoff gar nicht angemeldet bekommen."

    Die EU will mit REACH die erprobten Regeln für neue Chemikalien aber nicht kopieren - und das auch aus pragmatischen Gründen. 30.000 Altstoffe unter REACH innerhalb von elf Jahren so gründlich auf ihre Eigenschaften zu testen wie die rund 3.000 Neustoffe innerhalb der letzten 25 Jahre, wäre sehr aufwendig und teuer. Das will die EU der Wirtschaft auch im Hinblick auf den weltweiten Wettbewerbsdruck nicht zumuten.

    REACH wird also ein Kompromiss sein - ein Kompromiss zwischen einem Mehr an Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz auf der einen Seite und der finanziellen Belastbarkeit der Wirtschaft auf der anderen Seite.

    Das heißt auch, REACH wird meist weniger Sicherheit pro Substanz bieten als die heutigen Regeln für Neustoffe. So will die EU für jene rund 20.000 Altstoffe, von denen Firmen weniger als zehn Tonnen jährlich herstellen oder einführen, keine neuen Tests zwingend verlangen. Elmar Böhlen von der Anmeldestelle Chemikalien.

    " Man muss nur die alten Prüfungen vorlegen und allenfalls physikalisch-chemische Daten und sicherheitstechnische Daten wie Explosionsgefährlichkeit machen. Aber man muss ganz klar sagen, bei diesen 20.000 Altstoffen findet keine systematische Prüfung gesundheitsschädlicher Eigenschaften unter REACH statt."

    Dennoch sieht Elmar Böhlen das künftige Regelwerk positiv

    " Man muss sehen, dass 10.000 Stoffe immerhin doch gut geprüft werden unter REACH, nämlich die 10.000 über 10 Tonnen pro Jahr."

    Besonders intensiv sollen Firmen jene rund 3.000 Stoffe überprüfen, von denen sie mehr als 1.000 Tonnen jährlich in der EU vermarkten. Das aber hat eine Schattenseite: Es führt zu sehr viel Tierversuchen. Ein Beispiel: Um zu prüfen, ob ein Stoff auf die Fortpflanzung wirkt, untersuchen Forscher heute drei Generationen von Mäusen. Pro Stoff werden in der Regel knapp 3.000 Mäuse untersucht. Das verärgert beispielsweise Corina Gericke vom Verein "Ärzte gegen Tierversuche":

    " Natürlich ist es wichtig, dass die Verbraucher vor schädlichen Substanzen geschützt werden, aber gerade Tierversuche sind eben gerade der falsche Weg, um diese berechtigte Sicherheit zu gewährleisten. "

    Weil sich Mensch und Tier Substanzen eben doch ander verstoffwechseln, meint Gericke.

    " Man kann Bücher damit füllen mit Beispielen, wie Mensch und Tier unterschiedlich reagieren. Beispiel: Blausäure ist für den Menschen sehr giftig, während einige Tierarten - Koala-Bär, Schaf - das sehr gut vertragen auch in größeren Mengen. Umgekehrt ist zum Beispiel die Petersilie für den Papageien schädlich und für den Menschen nicht."

    Eine alte Diskussion, die durch REACH wieder an Heftigkeit gewonnen hat. So fordern Tierschützer - und auch das Europäische Parlament in Brüssel - , künftig so weit wie möglich auf Tierversuche zu verzichten. Sie wünschen sich zum Beispiel einen Automatismus: Wenn eine Ersatzmethode zu einem Tierversuch anerkannt ist, dann ist der entsprechende Tierversuch zwingend durch diese neue Methode zu ersetzen.

    Auch die Unternehmen, so Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie, würden gerne auf die Tierversuche verzichten - aus offensichtlichen Gründen:

    " Tierversuche kosten viel Geld, die Tiere müssen gehalten werden, die Tiere müssen gepflegt werden, die Tiere müssen auch beschafft werden. Also, das Ganze ist mit erheblichen Kosten und Zeitaufwand verbunden. Und deswegen wäre natürlich jeder in der Industrie bestrebt, Tierversuche so weit es irgend geht zu ersetzen, durch andere unkompliziertere Methoden: Zellkulturen, Gewebekulturen, Stammzellen, gentechnische Untersuchungsmethoden, Eitests. Das ganze Spektrum."

    Die inzwischen sieben Jahre andauernde Diskussion um die künftige Chemikalienpolitik REACH hat das Interesse an alternativen Testmethoden tatsächlich verstärkt.

    In Berlin bei der ZEBET, der 'Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch', holt Manfred Liebsch eine kleine Plastikplatte aus dem Brutschrank. Er zeigt auf 24 Mulden mit trüben Pfützen.

    " Was Sie hier sehen, das sind rekonstruierte menschliche Hautmodelle. Die Haut ist das erste Organ, das man vollständig und sehr organotypisch nachbauen, rekonstruieren kann. Die Hautzellen sind ausgesät auf einer Membran, die wiederum den Boden eines Töpfchens bildet, der steht dann mit kleinen Füßen von einem Millimeter Höhe in der Zellkuklturlösung drin. Das heißt, die Haut wird von unten mit Medium versorgt und kann auf diese Art ihre Vitalität behalten. "

    Auf die Hautzellen pipettiert Manfred Liebsch die Chemikalie. Er gibt der Substanz drei Minuten Zeit, die Hautzellen zu schädigen. Dann wäscht er sie ab und färbt die gereizte Kunsthaut auf einer zweiten Plastikplatte an

    " Dann bleiben die Hautmodelle dort für drei Stunden in dieser Platte und je nach Vitalität setzen sie dann diesen Farbstoff in eine Blaufärbung in einer bestimmten Intensität um und wir können das dann herauslösen und in einem Photometer messen. "

    Sind die Hautzellen zerstört, wird der blaue Farbstoff abgebaut und die Lösung weiß. Sind sie intakt - hat die Substanz also keine ätzenden Eigenschaften - leuchtet die Kulturlösung weiter in blau.

    Noch bis vor zwei Jahren schrieben Gesetze vor, dass Forscher die zu untersuchende Substanz auf die Haut von drei Kaninchen tupfen müssen, um herauszubekommen, ob sie ätzend wirkt.

    Und es wird an weiteren Labortests gearbeitet. So hat es Manfred Liebsch mit Kollegen am ZEBET geschafft, aus embryonalen Stammzellen der Maus ein pulsierendes Herzgewebe herzustellen. Er hofft, mit Hilfe dieses Gewebes künftig prüfen zu können, ob ein Stoff einen Embryo schädigt. Und der Fachmann nennt zwei weitere grundsätzlich neue Ansätze, Tierversuche zu ersetzen: So sei es inzwischen möglich, menschliche Zellen der Leber in kleinen Bioreaktoren für längere Zeit unter Erhalt ihrer Eigenschaften zu kultivieren. Und ...

    " Wir gucken uns heutzutage Protein- oder Genmuster an, die sich aufgrund von bestimmten Substanzbehandlungen entwickeln. Und es kann gut sein, dass diese Muster uns ins die Lage versetzen, erstens im Tierversuch sehr viel früher einen Organschaden zu erkennen, und zweitens, wenn wir dann einmal so ein Muster charakterisiert haben, und sagen, das ist typisch für diesen Schaden, dann kann man vielleicht das gleiche Muster auch in Zellen erkennen, und kann damit dann sogar auf den kurzfristigeren Tierversuch verzichten."

    In Arbeit sind auch mathematische Modelle, um von der Formel und der Struktur einer Substanz auf deren wahrscheinliche Wirkung für Mensch und Tier zu schließen. Mitarbeiter des Bundesinstituts für Risikobewertung beispielsweise haben sich experimentelle Daten zur Haut- und Augenreizung von 2.000 Substanzen genauer angeschaut und daraus ein Computerprogramm entwickelt. Ob dieses Programm taugt, muss sich jetzt im Alltag zeigen. Im Rahmen von REACH unterstützt das Europäische Chemikalienbüro in Italien die Entwicklung solcher Programme.

    REACH ist dabei mehr als nur eine Datensammelmaschinerie. Die EU will mit REACH für sehr gefährliche Chemikalien - also etwa Stoffe, die krebserregend oder sehr langlebig sind - ein Zulassungsverfahren ähnlich wie heute bereits für Pestizide einführen.

    Ein Streitpunkt. Stefan Scheuer vom Europäischen Umweltbüro fordert, solche gefährlichen Stoffe nur zuzulassen, wenn es wirklich nicht anders geht. Der Umweltschützer steht nicht alleine da. Die Mehrheit des Europäischen Parlaments unterstützt ihn.

    " Das Europaparlament hat die Zulassung sehr gestärkt. Das heißt, da wäre es tatsächlich so, dass die besonders gefährlichen Stoffe ersetzt werden müssen, wenn es sicherere Alternativen gibt. Wenn es die nicht gibt, wird nochmal darauf geguckt, brauchen wir die Substanz überhaupt, ist die Substanz sozio-ökonomisch notwendig, oder überwiegen nicht die Risiken gegenüber dem Nutzen."

    Ein strenges Zulassungsverfahren, so die Argumentation, könnte die Chemieindustrie dazu bringen, umwelt- und verbraucherfreundlichere Substanzen zu entwickeln und anzubieten.

    Einige Kunden in einem Kölner Baumarkt würde das freuen.

    "(Mann) ..Und zwar aus eigener persönlicher negativer Erfahrung: Dass ich zurzeit seit einigen Monaten ganz ernsthaft erkrankt bin am Krebs mit dem Hintergedanken der Wissenschaftler eindeutig als Umweltkrebs, also Umweltbelastung auf Chemikalien und und und

    (Frau) Ich bin sehr empfindlich, hautempfindlich, Und es ist ja teilweise schon bei Waschmitteln, je nachdem, was man nimmt.

    (Mann) Na, auf jeden Fall, klar, weil ich keine Lust habe, mir irgendwelche giftige Dämpfe reinzuziehen. Wenn ich weiß, dass es sozusagen Öko geht, also nicht so ätzend oder so, dann nehme ich das auch. "

    Noch ist nichts entschieden. Der Ministerrat, in dem Minister aus allen EU-Staaten vertreten sind, hat weniger strenge Vorstellungen als das Europaparlament. Der Ministerrat will, dass man "sehr gefährliche Stoffe" unter Auflagen auch dann zulässt, wenn es bereits Ersatzstoffe gibt. Das Parlament dagegen will, dass die besseren Ersatzstoffe zum Zuge kommen.

    Sieben Jahre ringen die EU-Experten bereits um eine vernünftige Lösung. Ein Kompromiß wird derzeit verhandelt, voraussichtlich noch in diesem Jahr wird man sich einigen. Doch in der Sache überzeugt sind die Kontrahenten deshalb noch lange nicht. Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie bezweifelt prinzipiell, dass die aufwendige Zulassung sehr gefährlicher Stoffe zu sichereren Produkten führen wird.

    " Es wird überhaupt durch REACH keine Innovationsschübe geben. Das ist unsere feste Überzeugung in der Industrie. Es wird sich die Datenlage verbessern, aber es wird keine Innovationsschübe geben."

    Er befürchtet sogar, dass ein Zulassungsverfahren dazu führen wird, dass Unternehmen auch die Produktion sicherer Chemikalien einstellen werden.

    " Die Unternehmen werden sehr kritisch prüfen, welche Stoffe sie ins Zulassungsverfahren bringen - und das wird dazu führen, dass manche Stoffe, die ohnehin wirtschaftlich auf der Kippe stehen, die vielleicht schon am Rande von roten Zahlen sind, dann im Zweifelsfall eher zurückgezogen als weiter angeboten werden."

    Das müsse aber nicht unbedingt spürbare Folgen haben. Das meint jedenfalls Andreas Troge, der Präsident des Umweltbundesamtes.

    " Wir haben aus allen Chemikalienregulierungen gelernt bei Einzelstoffen, dass sich über die Zeit hin - und zwar binnen weniger Jahre - die Industrie sehr schnell anpasst. Es gibt gewisse Anpassungskosten. Damit werden aber neue Märkte erschlossen. "

    Andreas Troge gibt ein Beispiel aus der Vergangenheit:

    " Der Ersatz der Fluorchlorkohlenwasserstoffe - Stichwort FCKW, stratosphärische Ozonschicht - seit Beginn der 90er Jahre hat im Grunde dazu geführt, dass wir Ersatzstoffe bekommen haben, die wesentlich weniger ozonschädlich sind. Und wir gehen jetzt den Pfad, diese Ersatzstoffe, die wiederum Treibhauscharakter haben, auch sukzessive zu ersetzen."

    ... durch für das Klima noch unschädlichere Chemikalien. Auch REACH könne solch eine Erfolgsstory werden, meint Andreas Troge. Das stetig zunehmende Wissen werde Wirkung zeigen: Manche Unternehmen werden freiwillig darauf verzichten, gefährliche Stoffe in Verbraucherprodukten einzusetzen. Und die Politik wird diese Entwicklung durch strenge Regeln beschleunigen. So könnte REACH schrittweise das Risiko für Mensch und Umwelt senken.