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Ätzkunst

Der Künstler William Hogarth hielt Anfang des 18. Jahrhunderts das Leben des Volkes auf Londons Straßen und das der kleinen Bürger in ihren Wohnstuben fest - mit Akribie und satirischer Übertreibung. Seine Szenenfolge zum Werdegang einer Dirne machte ihn bekannt, kostete ihn aber auch etliche Aufträge reicher Aristokraten. In einer großen Ausstellung widmet sich die Londoner Tate jetzt dem brillanten Satiriker.

Von Hans Pietsch | 07.02.2007
    "Ich möchte das Auge mit dem Vergnügen unterhalten, das die Vielfalt bietet", schrieb William Hogarth 1753 in seinem Traktat "Die Untersuchung der Schönheit". Wie kein anderer englischer Künstler im 18. Jahrhundert arbeitete er nach diesem Vorsatz: er war Kupferstecher und Maler zugleich, Satiriker, Polemiker und Chronist seiner Zeit, er malte Genreszenen und Konversationsstücke, Historienbilder und Porträts. Er war erfolgreich und verdiente viel Geld. Und auch heute noch berufen sich Künstler auf ihn als Vorbild für eine ehrliche und engagierte Kunst - nicht die vordergründige höfische Eleganz des 18. Jahrhunderts stellte er dar, sondern Londons enge, schmutzige Straßen, in denen er aufwuchs und lebte: Prostitution, Trunkenheit, Diebstahl, Mord; dazu politische Korruption, die Fehler der Justiz, aber auch die positiven Seiten der aufstrebenden Bourgeoisie. Das alles mit dem Röntgenblick des Satirikers, doch immer mit großer Menschlichkeit.

    Vor allem war Hogarth aber ein großer Geschichtenerzähler. Seine Zyklen sind voller kleiner Begebenheiten, die sich dem Betrachter erst nach langem Hinsehen voll erschließen: wie auf den frühen Grafikserien "A Harlot's Progress" über ein Mädchen vom Land, das in der Hauptstadt auf die schiefe Bahn gerät, oder "The Rake's Progress" über den unaufhaltsamen Abstieg eines zum Untergang verurteilten Tunichtguts, sowie auf den großen Ölbilder-Serien wie "Marriage a la Mode", wo eine junge Frau systematisch zugrunde gerichtet wird, und "The Election" über politische Korruption und Verschwendung.

    Bei der Geißelung der Moral seiner Zeit nimmt der Maler kein Blatt vor den Mund: Francis Matthew Schutz, ein Cousin des Königs, liegt nach durchzechter Nacht mit einem furchtbaren Kater im Bett und erbricht sich in einen Nachttopf. Der Libertin Sir Francis Dashwood kniet, als Franziskaner verkleidet, vor einem kleinen Altar, betet aber nicht die Jungfrau Maria an, sondern beäugt lüstern eine mit gespreizten Beinen daliegende nackte Frau. In seinem Heiligenschein das grinsende Gesicht eines Freundes, der sich ebenfalls an dem nackten Fleisch ergötzt. Und seine Darstellungen von Paaren vor und nach dem Geschlechtsverkehr grenzen ans Pornografische.

    Und dann die Porträts - in diesem Genre hatte er mit der schärfsten Konkurrenz zu kämpfen. Anthonis van Dyck war das große Vorbild, und Hogarth wollte beweisen, dass er wie der extravagante Flame malen konnte. Dass es ihm nicht gelang, tut der Wirkung seiner Porträts keinen Abbruch. Thomas Coram, Kapitän und Philanthrop, der zusammen mit dem Maler ein noch heute bestehendes Waisenhaus gründete, sitzt an seinem Schreibtisch, der rote Rock aufgeknöpft. Die Pose des gewaltigen Herrn ist die eines Adligen oder Königs, doch man sieht: er ist ein einfacher, ehrlicher Kerl, auf den man sich verlassen kann - der es aber eilig zu haben scheint: gerade ist er von draußen hereingekommen, hat seine Handschuhe ausgezogen und seinen Hut auf den Boden geworfen. Als wolle er sagen: Maler, beeile Dich mit deiner Arbeit, ich habe viel zu tun. Oder die Kinder der Familie Graham, brav aufgereiht und zufrieden. Doch auch hier erzählt Hogarth mit fast beiläufigen Versatzstücken eine Geschichte: dass nämlich eines der Kinder während der Arbeit an dem Bild verstarb. Und im Hintergrund des Porträts der glücklich aussehenden Familie Jones sieht man auf einem Heuballen ein kopulierendes Paar.

    Die teils chronologisch, teils thematisch gehängte Schau der Tate Britain ist ein wahres Vergnügen. Jedes Bild saugt den Betrachter sofort an und lässt ihn dann nicht mehr los. Je länger man hinschaut, desto mehr kleine Geschichten entfalten sich. Sie verdichten sich zu einer prallen, chaotischen Welt, die man nicht immer völlig versteht, die trotzdem ganz von heute ist. Und am Ende kehrt man zu einigen Favoriten zurück: zu dem Porträt seiner Bediensteten, fünf Köpfe von einfachen Menschen, voller Ernst und Würde; zur "Garnelen-Verkäuferin", einen Korb mit Krustentieren auf dem Kopf, eine stolze und lebenslustige junge Frau; und im ersten Raum zu seinem Selbstporträt mit seinem Schoßhund Tramp von 1745. Ein unscheinbares Gesicht, freundlich, rund, voller Intelligenz und Mitgefühl. Wie das des Hündchens, er selbst hob oft die Ähnlichkeit mit seinem geliebten Haustier hervor.