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Afrikas Kulturerbe
Die geretteten Schriften von Timbuktu

In Mali retteten Bibliothekare 2012 alte Schriften vor Dschihadisten. Jetzt digitalisieren sie die Manuskripte und wollen zeigen: Afrika war weit gebildeter, als die Kolonialmächte glaubten.

Von Benjamin Moscovici | 05.01.2019
    Abdel Kader Haidara, der Kopf hinter der Operation zur Rettung der Manuskripte aus Timbuktu
    Abdel Kader Haidara, der Kopf hinter der Operation zur Rettung der Manuskripte aus Timbuktu (Benjamin Moscovici)
    2012 in Mali. Timbuktu ist gefallen. Die legendenumwobene Stadt überrannt von Dschihadisten. Zu diesem Zeitpunkt hat Timbuktu schon lange nichts mehr mit der sagenhaften Stadt mit den vergoldeten Dächern zu tun, von der frühe Reisende berichten. Doch die Stadt birgt auch jetzt noch einen Schatz: Die Bibliothek mit den Manuskripten von Timbuktu. Teils jahrhundertealte Handschriften, von Generation zu Generation weitergegeben.
    "Als die Dschihadisten Nordmali einnahmen, haben wir gewusst, dass die Manuskripte in Gefahr sind. Wir mussten sie in Sicherheit bringen. Also haben wir zunächst die Bücher aus der Hauptbibliothek geholt, in Metallkisten verstaut und diese auf verschiedene Familien in Timbuktu verteilt", erzählt Dr. Abdel Kader Haïdara.
    Es ist der Auftakt zu einer spektakulären Rettungsaktion. Nur selten werden Bibliothekare wie Abdel Kader Haïdara von der ganzen Welt als Helden gefeiert. Medien rund um den Globus berichteten: Die BBC, der Guardian, die New York Times und auch der Deutschlandfunk. 2016 erschien sogar ein Buch über Haïdara und sein Team. Der Titel: "The Bad-Ass Librarians of Timbuktu", die knallharten Bibliothekare von Timbuktu. Tatsächlich haben Haïdara und sein Team zwischen August 2012 und Januar 2013 direkt unter den Augen der Dschihadisten hunderttausende Manuskripte aus Timbuktu geschmuggelt und damit möglicherweise vor der Zerstörung gerettet.
    Viele Familien haben jahrhundertelang Manuskripte verwahrt
    "Kiste für Kiste haben wir die Manuskripte mit Geländewagen nach Bamako gebracht. Natürlich mussten wir dabei sehr sorgfältig auswählen, wen wir in unsere Aktion einweihen konnten. Die meisten von uns kamen aus Familien, die selbst jahrhundertelang Manuskripte verwahrt hatten."
    Das war der spektakuläre Teil des Jobs. Aber die eigentliche Arbeit fing erst danach an: Sichten, Restaurieren und Digitalisieren. Ein Mammut-Projekt.
    "Insgesamt haben wir hier jetzt 377.491 Manuskripte. Einige davon umfassen mehr als tausend Seiten. 90 Prozent davon haben wir inzwischen katalogisiert. 95 Prozent haben eine sichere Heimat in eigens angefertigten Schutzboxen erhalten. Aber bei der Digitalisierung stehen wir noch bei etwa 40 Prozent."
    Das neue Zuhause der Manuskripte befindet sich in einem einfachen Wohngebiet in der malischen Hauptstadt Bamako und unterscheidet sich äußerlich durch nichts von den anderen tief ockerfarbenen Gebäuden der kleinen Seitenstraße. Bei einem Rundgang durch das Institut erklärt Mohammed Touré, einer der Chef-Restauratoren, die einzelnen Stationen und Arbeitsschritte.
    Mohammed Touré, einer der leitenden Restauratoren, inspiziert eine alte Handschrift aus Timbuktu.
    Mohammed Touré, einer der leitenden Restauratoren, inspiziert eine alte Handschrift aus Timbuktu. (Benjamin Miscovici)
    "Zunächst müssen alle beschädigten Manuskripte restauriert werden."
    In einem nächsten Schritt werde versucht, fehlende Stellen zu ergänzen.
    "Dafür suchen wir eine andere Kopie des gleichen Textes und hoffen darauf, dass sich die erhaltenen Fragmente ergänzen", erklärt Touré.
    Auch deshalb ist die nächste Station so wichtig: der Lesesaal. An langen Tischen mit Pergamentstapeln sitzen hier ein halbes Dutzend Männer und Frauen und lesen die Manuskripte Seite für Seite.
    "Ich arbeite hier seit vier Jahren und habe inzwischen sicher tausende Seiten gelesen. Da ist alles dabei. Geographie, Geschichte, Mathematik. Einfach alles", erzählt einer der Männer.
    Sind die Manuskripte erst einmal restauriert, gelesen, kategorisiert und verschlagwortet, geht es zur Digitalisierung. Der Raum ist mit dunklen Stoffbahnen abgehängt. Nur an den zwölf Arbeitsplätzen brennt Licht und beleuchtet die Stellen auf den Schreibtischen, wo die einzelnen Manuskriptseiten unter festmontierten Kameras zum Fotografieren hingelegt werden. Mehrere millionen Seiten, uralte und empfindliche Pergamentblätter, die alle einzeln von Hand abfotografiert und gespeichert werden müssen.
    Familien versteckten Manuskripte schon vor Kolonialmächten
    Es ist nicht nur die Liebe zu alten Handschriften, die Abdel Kader Haïdara und sein Team antreibt. Da ist auch die Hoffnung, mit einem der größten Irrtümer über den afrikanischen Kontinent aufräumen zu können. Abdel Kader Haïdara:
    "Als die Europäer kamen, haben sie bald angefangen, unsere alten Manuskripte zu sammeln und nach Europa zu bringen. Als unsere Vorfahren das mitbekamen, haben sie ihre Handschriften versteckt. Einige haben sie vergraben. Andere haben sie tief ins Innere der Sahara gebracht. Die allermeisten Manuskripte wurden während der Kolonialzeit irgendwo versteckt."
    Dann seien die Missionare und Forscher gekommen, sie hätten die Afrikaner studieren, ihre Geschichte erzählen wollen.
    "Also haben sie mit den Griots, den Geschichtenerzählern, gesprochen. Aber sie haben einfach nirgends schriftliche Quellen gefunden. Und so haben sie dann in ihren Büchern und Zeitschriften geschrieben, dass es in Afrika keine schriftlich fixierte Geschichte gebe. Nur mündliche Überlieferungen. Dieses Bild von Afrika hat sich bis heute gehalten."
    Ein ganzer Kontinent – ungebildet, wild und kulturlos. Dieses Vorurteil könne man mit den Manuskripten aus Timbuktu widerlegen, ist Haïdara überzeugt. Über Jahrhunderte haben Menschen in Timbuktu Texte zu allen erdenklichen Themen geschrieben und gesammelt. Und nach der Unabhängigkeit sind diese Werke in jahrzehntelanger Überzeugungs- und Recherchearbeit wieder ans Tageslicht geholt worden. Und je mehr Texte die Forscher fanden, umso deutlicher wurde: Die Bibliothek ist mitnichten ein rein arabisches Kulturerbe. Es finden sich auch Texte auf Bambara, Dogon, Peul, Songhay oder Bozo. Insofern ist die Bibliothek von Timbuktu weit mehr als das Gedächtnis einer alten arabischen Karawanenstadt am Südrand der Sahara. Es ist ein gesamt-afrikanisches Erbe, der Beweis, dass der Kontinent vor der Ankunft der Europäer nicht wüst und leer war.