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Afrikas Riese erwacht

Das westafrikanische Nigeria galt als hoffnungsloser Fall. Jahrzehntelang hatten sich zivile und militärische Machthaber hemmungslos am nationalen Vermögen bereichert. Afrikas größter Ölförderer fiel nach einer kurzen Blütezeit in den Siebzigerjahren zurück auf den Stand der Ärmsten der Armen. Das Brutto-Inlandsprodukt lag im vergangenen Jahr bei nur 310 US-Dollar pro Kopf.

Thomas Mösch |
    Politisch hatte sich Nigeria in den 90er Jahren völlig isoliert. Mit Sani Abacha putschte sich 1993 ein General an die Macht, der seine Vorgänger an Geldgier und Brutalität deutlich übertraf. In den fünf Jahren seiner Herrschaft sollen er und seine engsten Verwandten und Freunde drei Milliarden Dollar beiseite geschafft haben. 1995 brachte Abacha die Welt gegen sich auf, als er den Schriftsteller und Bürgerrechtler Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter hinrichten ließ. Sie hatten gegen die Ölförderung im Niger-Delta mobil gemacht. Das Erdöl war und ist die einzige nennenswerte Einkommensquelle des Landes.

    Seit Mai letzten Jahres regiert mit Olusegun Obasanjo nun wieder ein gewählter Präsident das Land. Und plötzlich geraten die wirtschaftlichen Potenziale Nigerias wieder ins Blickfeld. Auch aus Deutschland haben sich kürzlich Unternehmer aufgemacht, um neue Geschäftsfelder auszuloten. Susanne Meyer vom Afrika-Verein in Hamburg hat die Reise organisiert. Sie erklärt das Interesse so:

    "Es ist das größte Land... der Region, 120 Mio. Einwohner; war schon mal weit fortgeschritten bei Industrialisierung, jetzt viel nachzuholen, Ansätze sind da; hat durch Ölreichtum ganz andere Möglichkeiten als andere Länder auf dem Kontinent. wenn Probleme in richtige Bahnen laufen, dann ist Nigeria sehr, sehr attraktiver Markt auch für deutsche und europäische Unternehmen."

    Doch die bisher ungelösten Probleme lassen viele deutsche Unternehmen zögern. Die Last der Vergangenheit wiegt schwer. Nigeria ist ein von den Briten geschaffenes Kunstgebilde mit rund 250 verschiedenen Volksgruppen. Es ist zweieinhalb mal so groß wie Deutschland, aber die Infrastruktur liegt brach: Die Versorgung mit Wasser, Strom und Benzin funktioniert nur zeitweise. Das Telefonnetz, insbesondere in der Wirtschaftsmetropole Lagos, ist ständig überlastet. Und: Nigeria ist hoch verschuldet. Die Verbindlichkeiten des Landes liegen bei knapp 30 Milliarden Dollar.

    Frustrierte Jugendliche ohne Zukunftsperspektive machen das Land unsicher: Raubüberfälle, Einbrüche und Diebstahl sind an der Tagesordnung; selbsternannte Verbrecherjäger sind in einigen Landesteilen ein genauso großes Problem wie die von ihnen Gejagten; selbst kleinste Konflikte führen zu Kämpfen zwischen verschiedenen Volksgruppen. In den Ölfördergebieten zwingen Unruhen und Sabotage die Konzerne immer wieder dazu, die Produktion zu kürzen. Justiz und Polizei funktionieren nur eingeschränkt. Nigeria hat das Image, ein Pulverfass zu sein.

    Aber Sabine Meyer vom Unternehmensverband Afrika-Verein hat bei ihrer jüngsten Reise gerade auf wirtschaftlichem Gebiet schon Fortschritte bemerkt.

    "Man kann sagen... Bankensektor sich stabilisiert, Regierung hat durchgegriffen, gute Ausgangsposition; das gleiche gilt für Wechselkurs; Inflation recht stabil; Abfertigung in Häfen/Flughäfen, wo Nigeria sehr schlechten Ruf hatte, hat sich ...wesentlich verbessert."

    Doch die Euphorie aus der Zeit des Machtwechsels von der Militärherrschaft zur gewählten Regierung ist verflogen. Präsident Obasanjo musste erkennen, dass das Zusammenspiel mit dem völlig unerfahrenen Parlament sich erst entwickeln muss. Bisher verpufft noch viel Energie im Kompetenzgerangel zwischen Legislative und Exekutive. Obasanjos Medienberater, Doyin Okupe, verweist darauf, dass die Regierung bereits einige Reformen angeschoben habe. Staatsbetriebe würden privatisiert und die Korruption bekämpft:

    "Die Verschwendung von Steuergeldern wurde gestoppt. Heute ist die Bundeskasse so gefüllt, dass jedes Bundesland mindestens das Dreifache dessen bekommt, was es im Vorjahr erhalten hat. Und das ist nicht so, weil es einen plötzlichen Geldregen gibt, sondern weil Schlupflöcher und dunkle Kanäle verstopft wurden."

    Eines der größten Hindernisse für Investitionen ist Nigerias Ruf als Weltmeister der Korruption. Gerade erst hat die internationale Anti-Korruptions-Initiative "Transparency International" das Land auf Platz eins ihrer jährlichen Umfrage gesetzt. Den nigerianischen Zweig von "Transparency International" führt Ishola Williams.

    "Es scheint, dass die Menschen die Korruption akzeptiert haben, obwohl sie wissen, dass es etwas schlechtes ist. Viele Leute glauben, sie selbst können nichts dagegen tun, es sei Aufgabe der Regierung. Jetzt haben wir einen Präsidenten, der sich offen zum Kampf gegen die Korruption bekennt. Doch bisher ist von den notwendigen Reformen noch nichts zu sehen."

    Die Schuld an den Versäumnissen gibt Williams Präsident Obasanjo. Der hat Transparency International einst mit gegründet. Das vom Präsidenten auf den Weg gebrachte Anti-Korruptionsgesetz hält Williams zwar für einen Fortschritt; ob es jedoch die Erwartungen erfüllen kann, müsse sich erst zeigen. An den wirklichen Ursachen gehe das Gesetz vorbei, wirft Williams dem Präsidenten vor.

    "Er müsste wissen, dass an einer Reform des öffentlichen Dienstes kein Weg vorbei führt, wenn man die Korruption in Nigeria bekämpfen will. Dabei geht es um neue Konzepte, die Management-Methoden aus der Wirtschaft auf den öffentlichen Dienst übertragen, damit er sich am Kunden orientiert, Finanzen effizient einsetzt und tatsächlich Leistungen für die Gesellschaft erbringt."

    Eine grundlegende Reform des öffentlichen Dienstes fordert auch John Adeleke. Der Rechtsanwalt ist Direktor des World Trade Centers in Nigerias Wirtschaftsmetropole Lagos. Die Korruption sei immer noch ungebrochen, laufe aber verdeckter ab als früher. Ansonsten solle sich die Regierung zunächst darauf konzentrieren, wichtige Dienstleistungen des Staates wieder aufzubauen, fordert Adeleke. Das gelte vor allem für die Strom- und Wasserversorgung, das Gesundheitswesen und die Bildung:

    "Heutzutage ist das Bildungssystem in einem schlimmen Zustand, und ich sage das als Arbeitgeber. Damit fehlen die Arbeitskräfte für die Entwicklung. Wir mögen ja jede Menge Arbeitskräfte haben, aber die Qualität ist das Problem. Das Problem wäre kleiner, wenn wir die ausgewanderten Fachleute zurück locken könnten."

    Mit Genugtuung sieht Adeleke, dass sich die Regierung daran macht, staatliche Unternehmen zu privatisieren. In Nigeria ist nicht nur die Infrastruktur in staatlicher Hand, sondern auch der weitaus größte Teil der Industrie. Ausländische Investoren seien nicht nur am Erdölsektor interessiert, sondern auch an Banken, Versicherungen und Zementfabriken.

    "Das Interesse kommt nicht unbedingt aus Nordamerika und Europa. Es kommt aus den erfolgreichen "aufstrebenden Märkten" und aus Südafrika. Es ist sehr interessant, dass sich bei der Privatisierung eine Süd-Süd-Kooperation abzeichnet."

    Vor allem die die Zusammenarbeit mit Südafrika müsse ausgebaut werden, argumentiert Adeleke. Beide Länder zusammen könnten die Führung des gesamten Kontinents übernehmen.

    Aus Deutschland engagieren sich vor allem Unternehmen, die schon seit längerem im Land arbeiten, wie die MAN-Tochter Ferrostahl oder Siemens, erläutert Susanne Meyer vom Afrika-Verein.

    "Die Privatisierungen waren schwieriger... als gedacht, viele Unternehmen können nicht so einfach verkauft werden, haben zu viel Personal oder zu schlechte Infrastruktur."

    Nigerias neuer Präsident Obasanjo genießt gerade im Ausland ein hohes Ansehen. Er gilt als integer und überzeugter Demokrat. Zwischen 1976 und 79 hatte er das Land schon einmal als Militärherrscher geführt und den versprochenen Übergang zur Demokratie vollzogen. Die damalige Zweite Republik überlebte nur eine Legislaturperiode. Heute hat der Ex-General Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass er nicht alles nach seinem Gusto entscheiden kann. Kompromisse zu schließen fällt ihm schwer.

    Trotzdem halten nigerianische und ausländische Unternehmer Obasanjo derzeit für den einzigen unter Nigerias Politikern, der den Vielvölkerstaat zusammenhalten kann. Diese Meinung vertritt auch Hans Wittmann, stellvertretender Vorsitzender der Baufirma "Julius Berger", einer Tochter des Mannheimer Konzerns "Bilfinger und Berger". Berger ist das erfolgreichste deutsche Unternehmen in Nigeria. In den vergangenen 35 Jahren hat sich der Konzern in dem westafrikanischen Land zu einer Institution entwickelt. Berger hat auch wesentlichen Anteil am vor 20 Jahren begonnenen Bau von Nigerias neuer Hauptstadt Abuja.

    Hans Wittmann selbst ist seit mehr als 30 Jahren im Land und zählt mehrere frühere Präsidenten ebenso wie den jetzigen zu seinen Freunden. In der internationalen Öffentlichkeit werde Nigeria oft Unrecht getan. Das gelte auch für das leidige Thema Korruption. Im Gegensatz zu den schlimmen Jahren unter Abacha sei es heute schon viel besser. Ein großes Unternehmen wie Berger, das als einheimische Aktiengesellschaft auch noch öffentlich kontrolliert werde, könne ohne Korruption erfolgreich sein, also ohne einen als "Nigerian Element" bezeichneten Preisaufschlag, betont Wittmann.

    "Wir haben eine eigene Ethik... kaufen uns keine Projekte, deshalb wurden wir in jüngerer Vergangenheit auch nicht bedacht bei größeren Aufgaben; wir haben heute Situation, dass wir uns nicht für "Nigerian Element" im Preisgefüge ...rechtfertigen müssen."

    Nun weisen die Umsatzzahlen wieder steil nach oben, im vergangenen Jahr um 37 Prozent. Die Chemie zwischen Berger und Regierung stimmt wieder. Das gleiche gelte für das Verhältnis zu den Gewerkschaften, berichtet Wittmann. Im Juni 1999 hatten Arbeiter die Berger-Zentrale in der Hauptstadt Abuja verwüstet. Das sei Vergangenheit, erklärt das Vorstandsmitglied. Die Politisierung der nigerianischen Gewerkschaften nach dem Ende der Militärdiktatur werde sich wieder legen.

    "Die Gewerkschaften...haben immer ihre Position gehabt und Rolle gut gespielt, Ausnahme jüngste Vergangenheit, haben ihren Platz; müssen wegen Demokratisierung auch umdenken und tun das; glaube, dass "konzertierte Aktion" wieder...die Regel sein wird."

    Nicht nur deutsche Großunternehmen haben sich in Nigeria niedergelassen und allen politischen und wirtschaftlichen Stürmen getrotzt. Schon früh haben auch Mittelständler den Weg nach Westafrika gewagt. Einige von ihnen sind in der nordnigerianischen Handels- und Industriestadt Kaduna gelandet, 200 Kilometer nördlich von Abuja. Das Ehepaar Christian und Gisela Spiess baut Empfangsanlagen für Satelliten-Programme und vermittelt Abonnements für Pay-TV. Dass Nigerianern nachgesagt wird, unseriöse Geschäftspartner zu sein, kann Gisela Spiess nicht nachvollziehen.

    "Wir haben... zwar keine Hilfe für Erhalt großer Projekte bekommen, aber Betrug oder ähnliches in den 23 Jahren hier ...noch nicht passiert."

    Die Freude am Leben in Nigeria hat das Ehepaar Spiess trotzdem verloren. Im Februar und Mai geriet das ansonsten eher beschauliche Kaduna in die Schlagzeilen der Weltpresse, weil sich Muslime und Christen gegenseitig abschlachteten. Geschätzte 2000 Tote machen die Massaker zu den blutigsten Unruhen seit dem Ende des Biafrakriegs vor 30 Jahren.

    Die Landesregierung hatte versucht, in dem ungefähr zu gleichen Teilen von Christen und Muslimen bewohnten Bundesland das islamische Strafrecht, die Scharia, einzuführen. Für die Stadt war das auch wirtschaftlich eine Katastrophe, da die meisten Händler und Arbeiter aus dem Süden Nigerias stammende Christen sind. Viele von ihnen verließen Kaduna nach den Massakern. Auch das Ehepaar Spiess will nun nicht länger bleiben.

    "Wir sind seit Februar... entschlossen, nur noch ca. 3 Jahre hierzubleiben; wollen uns zur Ruhe setzen, weil wir diese Kämpfe und Unzulänglichkeiten nervlich nicht mehr ertragen können; hatten enorme finanzielle Einbuße, wir konnten 3 Monate fast nichts verkaufen, dafür sind laufende Kosten zu hoch: Benzin, Mieten - wir haben Haus-Büro, Workshop, täglich kein Strom; sind nicht mehr bereit, in Nigeria zu investieren ...nach diesen Unruhen."

    Wolfgang Herr dagegen gibt sich unbeeindruckt von den Gewaltausbrüchen. Er lebt ebenfalls seit über 20 Jahren in Nigeria und baut heute in Kaduna mit 135 Mitarbeitern Autositze für das Montagewerk von Peugeot. Jahrelangen Anlaufschwierigkeiten zum Trotz sieht er vor allem die Vorteile des Unternehmerdaseins in Nigeria.

    "Sie haben Freiheiten... Raum für Eigeninitiative, kein Scheuklappen- und Ressortdenken, Arbeit sehr befriedigend; allerdings muss man länger arbeiten; man kann schlecht Sachen delegieren, weil Mitarbeitern oft Kenntnisse oder Genauigkeit fehlen; habe 12-Stunden-Tage, einziger freier Tag ...ist Sonntag."

    Als Außenminister Joschka Fischer Nigeria im Frühjahr einen Kurzbesuch abstattete, referierte Wolfgang Herr über die Chancen, die Nigeria mittelständischen Unternehmen bietet. Baumaterialien, Nahrungsmittel, Konsumgüter seien lukrative Branchen sowie das Zuliefern für die Industrie:

    "Wer immer... hier investiert, sollte sich mit Nigerianern zusammentun, früher oder später braucht man einen Nigerianer als Aushängeschild; der Haussa im Norden mischt normalerweise nicht in die laufenden Geschäfte ein, anders die Ibos und Yorubas im Süden, deshalb ist es leichter, im Norden zu arbeiten ...als im Süden."

    Insgesamt sieht Wolfgang Herr Nigerias Zukunft positiv. Ob er Recht behält, hängt auch davon ab, inwieweit es gelingt, neben dem Erdöl andere Wirtschaftszweige exportfähig zu machen. Noch liefert das Öl über 90 Prozent der Deviseneinnahmen.

    Der Baukonzern-Manager Hans Wittmann glaubt, dass schon im nächsten Jahr viele Nigerianer spüren werden, dass sich die Wirtschaft erholt. Die Potenziale des Landes seien so groß, dass hier dereinst die von Helmut Kohl für Ostdeutschland versprochenen "blühenden Landschaften" zu erwarten seien.

    "Zunächst muss mal aufgearbeitet werden... Politik und Wirtschaft werden sich relativ schnell erholen; Absicht, die Wirtschaft zu liberalisieren, wesentliche Einrichtungen zu privatisieren, um aus Ressourcen mehr heraus zu holen, denn es gibt ungenutzte Ressourcen bei Mineralien und in der Landwirtschaft ...unglaubliche Potenziale."

    Die Skeptiker werden diese Aussichten kaum beruhigen. Immerhin hat Nigeria schon drei Phasen großer Aufbruchstimmung erlebt: Bei der Unabhängigkeit von Großbritannien 1960 war dem damaligen Agrarexportland eine blühende Zukunft vorhergesagt worden. Nach dem Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit Biafras bot der Ölreichtum Aussicht auf schnelle Industrialisierung. Und mit der ersten Rückkehr zur Demokratie 1979, mitten in einer Zeit hoher Ölpreise, schien sich Nigeria endgültig auf den Weg der "asiatischen Tiger" machen zu können. Der darauf folgende Absturz hat das Land nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch moralisch, tief erschüttert. Ob es die Kraft findet, noch einmal von vorn zu beginnen, ist noch nicht absehbar.