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Aktion "Deutschland spricht"
Von der "Schnapsidee" zum internationalen Vorbild

Die Aktion "Deutschland spricht" will Menschen ins Gespräch bringen, die sich sonst scheinbar nichts zu sagen haben. Mit ihrer Idee haben die Initiatoren von "Zeit Online" einen Nerv getroffen. Medien aus Ländern weltweit greifen sie bereits auf.

Von Claudia van Laak | 24.09.2018
    Der Blogger Sascha Lobo (l.) und der Journalist Harald Martenstein bei der Eröffnung der bundesweiten Aktion "Deutschland spricht" zum Streitgespräch.
    Der Blogger Sascha Lobo (l.) und der Journalist Harald Martenstein trafen sich bei der Eröffnung der bundesweiten Aktion "Deutschland spricht" zum Streitgespräch. (picture alliance/Jörg Carstensen/dpa)
    Deutschland klönt, schnackt, plaudert, plappert, ratscht, quasselt. Laut und deutlich. Wenigstens gestern Nachmittag - da trafen nämlich bundesweit 9.000 Menschen zusammen, die bewusst jemanden mit einer anderen politischen Meinung kennen lernen wollten. Für autofreie Innenstädte oder dagegen, für offene Grenzen oder dagegen, für die Ehe für alle oder dagegen. Sie alle hatten zuvor sieben Fragen beantwortet, auf der Webseite von "Zeit Online" oder anderen beteiligten Medien wie "Tagesschau.de" oder dem Berliner "Tagesspiegel". "Zeit Online"-Chefredakteur Jochen Wegner:
    "Deutschland spricht war mal so eine kleine Schnapsidee, mit der wir in der Redaktion von 'Zeit Online' rumgekickt haben, so wie wir das öfter machen. Wir standen unter dem Eindruck von Trump und Brexit und sahen das gespaltene Frankreich. In all diesen Ländern ist der Gesprächsfaden zwischen den verschiedenen Sphären der Gesellschaft abgerissen. Und bei uns?, haben wir uns gefragt. Wie wäre es, wenn wir für Deutschland so eine Art politischen Tinder bauen?"
    Gesagt, getan. Die Idee traf einen Nerv, der Erfolg war überwältigend. Viele Nutzer sozialer Medien fühlten sich unbehaglich dabei, lediglich bei Twitter und Facebook über den politisch Andersdenken herzuziehen, sich zu empören. Viele waren der Ansicht, dass es nicht ausreicht, sich nur in seiner Filterblase gegenseitig zu bestätigen. Eine fremde Person mit gegenteiliger politscher Meinung persönlich zum Gespräch treffen - das Experiment "Deutschland spricht" startete bereits im letzten Jahr mit wenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Erste Erfahrungen:
    "Wenn ich den Menschen sehe, der hinter der Meinung steckt, dann ändert das komplett die Situation für mich."
    "Ich habe jetzt etwas, worüber ich weiter nachdenken muss und nachdenken werde, das war für mich das maximal erzielbare Ergebnis."
    "Das war für uns beide sehr hilfreich. Für mich, weil ich gemerkt habe, wie ich mit einer so starken Meinung jemanden verletzen kann, wo ich mit meinen Gedanken in einer sachlichen Diskussion gewähnt habe."
    "Ich habe mir so als Floskel für meine Gesprächsführung überlegt: Erst Verständnis, dann Haltung zeigen."
    Steinmeier: Wir entscheiden, wie Deutschland morgen sein wird
    Auch bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte "Deutschland spricht" einen Nerv getroffen. Wir brauchen funktionierende Gegenstrategien, sagte er gestern bei der Auftaktveranstaltung, damit die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft nicht noch größer werden. Sich persönlich mit einem Andersdenkenden zu treffen und auszutauschen, könnte eine solche Gegenstrategie sein. "Wir entscheiden, ob es uns um das Recht behalten oder um Lösungen geht. Wir entscheiden, ob Lautstärke oder Vernunft die Währung des Diskurses ist. Ob das politische Gegenüber ein würdiger Wettbewerber ist oder ein erbitterter Feind. Wir entscheiden, wie Deutschland heute spricht und deshalb auch darüber, wie Deutschland morgen sein wird."
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Eröffnung der bundesweiten Aktion "Deutschland spricht". 
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Die einen sagen, mit denen rede ich doch nicht; die anderen fühlen sich bestärkt in ihrer Opferrolle (Jörg Carstensen/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ )
    Zuvor hatte Steinmeier einen Niedergang der politischen Gesprächskultur beklagt. Hin- und herfliegende Empörungsfetzen, Hass und Gewaltausbrüche auf den Straßen, Beleidigungen und Beschimpfungen in sozialen Netzwerken. Deutschland spricht nicht, konstatierte der Bundespräsident, Deutschland brüllt. Krawallprofis gäbe es nicht nur in Ostdeutschland. "Die einen sagen, mit denen rede ich doch nicht, da halte ich lieber maximalen Abstand - und das soll das Zeichen sein. Und die anderen fühlen sich bestärkt in der Opferrolle, gerne mit dem vermeintlich unschuldigen Satz: Das wird man doch wohl sagen dürfen."
    Für den Niedergang der politischen Gesprächskultur das Internet verantwortlich zu machen, das ist Zeit-Online Chefredakteur Jochen Wegner zu einfach. Soziale Medien verstärkten lediglich bestimmte Effekte, seien aber nicht die Ursache. "Die Filterblase ist gar nicht im Internet, die ist in unserem Kopf. Wir alle tun uns extrem schwer damit, unsere Standpunkte zu revidieren, wenn neue Fakten auftauchen. Wir ignorieren lieber die Fakten."
    Vorbild für andere Länder
    Die Filterblase verlassen, dem Andersdenkenden zunächst einmal die Hand schütteln und als Person akzeptieren - das ist das Ziel von "Deutschland spricht". Bei der gestrigen Auftaktveranstaltung schüttete Blogger Sascha Lob allerdings Wasser in den Wein: Für Wohlfühlgespräche mit allen ist er nicht zu haben, bestimmte Leute müssten ausgeschlossen werden, forderte er: "'Deutschland spricht' - mit allen außer Nazis. Natürlich muss man untereinander sprechen, aber ich glaube, dass das auf keinen Fall bedingungslos geschehen darf. Im Gegenteil. Es ist wichtig, eine rote Linie zu ziehen."
    Die Aktion "Deutschland spricht" hat auch einen Nerv im Ausland getroffen - Medien nicht nur aus Österreich, Italien, Alaska und Australien haben die Idee aufgegriffen. Auch dort treffen sich bald Andersdenkende zu Wasser, Kaffee oder Wein am Strand, im Park oder auf dem Balkon.