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Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffpaars

Am 22. Mai 1939 schrieb der berühmte Romanist Erich Auerbach, der auf der Flucht vor den Nazis bis Istanbul gekommen war, aus dem Exil an seinen Schüler Erwin Hellweg, er solle "in der Arbeitstechnik nicht von einem allgemeinen Problem ausgehen", sondern von einem "gut und griffig ausgewählten Einzelphänomen, etwa einer Wortgeschichte oder einer Stelleninterpretation". Niemals dürfe es, so Auerbach, "ein von uns oder anderen Gelehrten eingeführter Begriff sein"

Hans-Peter Kunisch |
    Jean Starobinski hat dieses Zitat über das Vorwort seines neuen Buchs "Aktion und Reaktion" gestellt, das jetzt im Hanser-Verlag erschienen ist. Doch Starobinski, selber inzwischen ein 81 Jahre alter, berühmter Gelehrter, ist ein Spieler. Er hat sich nur zum Teil nach dem von ihm gewählten Motto gerichtet: "Aktion" und "Reaktion", die Begriffe, auf denen sein über 400 Seiten starkes Buch fußt, sind natürlich keine gewöhnlichen, sondern abstrakte, gelehrte Wörter. Und doch kann man sie inzwischen wie auf der Straße finden, sie haben eine lange Geschichte hinter sich und sind in vielen Zusammenhängen bekannt. Wobei es die "Aktion" schon länger gibt: "agere" hieß im klassischen Latein: "(voran-)treiben, eine Herde in Bewegung bringen", während das Wort "re-agere" erst im Mittelalter eingeführt wurde. Das Gegenwort zu "agere" war bis dahin "pati", also "leiden" oder "erdulden".

    Doch das ist nicht das Ergebnis, sondern erst der Einstieg in dieses schöne Buch. Es ist im Grunde ein großartiger Zettelkasten, in dem Starobinski Fährten des Denkens nachspürt, die man schon lange vergessen oder noch gar nie bemerkt hat. Und dies auf vielen Gebieten: in der Chemie und Biologie so gut wie in der Physik, in der Medizin und in der Literatur. Nicht der Gelehrte Auerbach ist, das wird schnell klar, hier Starobinskis Vorbild, sondern Balzacs Figur Louis Lambert aus seinem gleichnamigem Roman. Balzac lässt Lambert schwärmen:

    Oft (...) habe ich köstliche Reisen unternommen, auf einem Wort durch die Abgründe der Vergangenheit, wie das Insekt, das auf einem Grashalm sitzt, nach der Laune eines Stroms schwimmt (...). Welches schöne Buch könnte man nicht schreiben, wenn man das Leben und die Abenteuer eines Wortes erzählt.

    Warum aber ist Wortgeschichte interessant? Sind Wörter nicht eines, die Sachen etwas anderes? Sicher, sagt Starobinski: Niemand mehr glaubt heute, "die Wahrheit" zu erfahren, wenn er der Geschichte eines Wortes nachgeht. Keiner hofft mehr auf das Ur-Wort. Man spricht bescheiden nur noch vom ersten schriftlich dokumentierten Fund. Und doch ist Starobinski sicher, dass gerade die Sprachgeschichte ein Mittel sei, "unsere Epoche und unsere gegenwärtige Lage zu verstehen (...), denn sie ist untrennbar mit der Geschichte der Gesellschaften, des Wissens und der Techniken verbunden." Im Alltag mag der meist langsame Bedeutungswandels eines Wortes kaum auffallen, doch über Jahre, Jahrzehnte und. wie bei Starobioslo, Jahrhunderte hinweg, wird er zu einem Dokument der Zeitgeschichte.

    Der auf den ersten Blick auffälligste Anwendungsbereich des Begriffspaars ist sicher der politische. Und wer etwa Jean-Jacques Rousseau bisher nur die simple "Rückkehr zur Natur unterschieben wollte und ihn für einen blauäugigen Erziehungsphilosophen hielt, muss dazu lernen. Starobroski präsentiert skeptische Texte von Rousseau, die heute hätten geschrieben werden können: "Es gibt zwischen den europäischen Mächten eine Aktion und eine Reaktion, die sie (...) in einer beständigen Agitation erhält; und ihre Anstrengungen sind stets vergeblich und werden stets wieder erneuert wie die Wellen des Meeres, die unablässig seine Oberfläche erregen, ohne jemals die Höhe zu ändern; dergestalt, dass die Völker unablässig tief betrübt sind, ohne jeden spürbaren Nutzen für die Herrscher."

    Wer hingegen den Philosophen George Berkeley schon für einen relativ aufgeklärten Geist hielt, der erhält eine sehr religiöse Darstellung der Liebe von ihm, innerhalb des Begriffsfelds von Aktion und Reaktion: "Die wechselseitige Anziehung der Körper kann nicht anders erklärt werden, als indem man sie auf die unmittelbare Tätigkeit Gottes reduziert, der nie davon ablässt, seine Geschöpfe zu bestimmen. (...) Ebenso kann die wechselseitige Anziehung, die zwischen den Geistern von Menschen stattfindet, durch keine andere Ursache erklärt werden. Es ist nicht die Wirkung der Erziehung, der Gesetze oder der Mode, sondern es ist ein Prinzip, das vom Urheber der Natur seit den ersten Anfängen als die Seele sich bildete, hineingescbrieben wurde."

    Wortgeschichtlich und sprachlogisch scheint klar, dass die Aktion zuerst kam und kommen musste, bevor die Reaktion eine Chance hatte. Und doch hat Kant die beiden als gleichzeitig ausgemacht. Die eine trägt die andere schon in sich. Und wer will wissen, wer die erste war?.

    Allmählich erst wird klar, aufweiche Denk-Tradition sich Starobinski vor allem bezieht: Die "Dialektik", die mit ihrem Dreischritt "These, Antithese, Synthese" das happy end jeder Geschichte erzahlen möchte. Ein happy end, das in Starobinskis Werk vollkommen fehlt: Eines geschieht, daneben oder dagegen das andere. Was aus dem Zusammentreffen der beiden folgt, wissen wir nicht.

    Diese "bescheidene" Offenheit des Ergebnisses macht Starobinskis Betrachtungsweise heute sympathischer und wahrscheinlicher als eine strenge Dialektik. Und ohne, dass er es je behaupten müsste, hat man beim Lesen dieses Buches plötzlich den Eindruck, man sei mit dem Autor zusammen vielleicht dem Weltprinzip auf der Spur.