"Ich bin CvD. Das ist die Schicht, die die 20 Uhr Ausgabe macht. Wir bewegen uns ab halb zehn Uhr morgens durch verschiedene Konferenzen und versuchen, den Tag zu sortieren und die Ereignisse und zu gucken, welche Themen reportieren wir, welche Themen sind zu schwach, um Reporterberichte zu machen. Es kommen vielleicht dreitausend Themen am Tag und fünfzehn bleiben übrig und das muss man sich gut überlegen, welche 15 das sind."
Seit zwanzig Jahren pflegt Andreas Werner bei der Tagesschau die Kunst des Weglassens. Er war schon beim fünfzigsten Geburtstag der Sendung dabei und jetzt sitzt er immer noch als CvD für die 20 Uhr Ausgabe im Newsroom. Trotzdem, sein Job sei viel mehr Lust als Last, sagt der Journalist. Auch nach all den Jahren. Die Tagesschau feiert in diesem Monat ihren sechzigsten Geburtstag – aber ergriffen wirkt in der Redaktion von ARD aktuell irgendwie niemand. Und dafür ist auch gar keine Zeit. Schließlich wird das Hochamt des deutschen Fernsehnachrichtenjournalismus täglich gefeiert, mindestens zehn Sendungen sind in 24 Stunden zu stemmen. Deswegen ist der Sendung immer vor der Sendung. Die Tagesschau ist ein multimediales Großereignis geworden. Es gibt sie im Fernsehen, online, als App und on demand.
"Hier ist das Team für die 20 Uhr, hier werden alle Sendungen gemacht, vom frühen Morgen, elf zwölf, vierzehn fünfzehn und Tagesschau24. Wir gehen jetzt einmal nach drüben zur Insel der Chefin vom Dienst ... "
Großraumbüros und Redaktionsräume verteilt auf mehrere Etagen eines eigenen Gebäudes auf dem Gelände des NDR-Fernsehsehzentrums. Im Hamburger Stadtteil Lokstedt arbeitet ARD aktuell, hier sind die Redaktionen von Tagesschau und Tagesthemen. Im riesigen Newsroom stehen Dutzende Schreibtische, unzählige Monitore zeigen das eigene Programm, die der anderen, das Internet oder das Angebot des europäischen Senderverbunds. Die Tagesschau hat wie keine andere Sendung das Nachrichtenfernsehen der Bundesrepublik geprägt. Neun bis elf Millionen Zuschauer erreicht sie. Ihre Fans hat sie sogar im Lager der Konkurrenz: Bei Hans-Joachim Fuhrmann zum Beispiel. Er vertritt den Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger in der Öffentlichkeit
"Die Tagesschau steht für solide, tief seriöse Information. Die Tagesschau, das ist die klassische Nachrichtensendung."
Aber danach sah es am Anfang nun wirklich nicht aus. Einen Tag vor der ersten Ausgabe, am 26. Dezember 1952, war das Fernsehen in Westdeutschland überhaupt erst an den Start gegangen. Ein Vorgang, dem die deutsche Bevölkerung offensichtlich mit großen Ängsten gegenüberstand. NWDR-Intendant Werner Pleister suchte zu beschwichtigen.
"Man hat aber auch die Befürchtung geäußert, das Fernsehen könne dem Menschen schaden, da es im Zuge der Technisierung der Schöpfung sein Leben weiter mechanisiert. Es kommt auf uns an, ob dieses technische Mittel schadet oder nützt. Ich meine, wir könnten mit ihm die Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen vermehren. Und wir sollten es dazu benutzen, das große Wunder des Lebens im Reichtum seiner Formen und Inhalte anzuschauen und zu erkennen."
Das große Wunder des Lebens, wie Intendant Pleister es salbungsvoll nannte, ging jedoch zu Anfang nahezu unbeachtet über den Äther. Kaum ein TV-Gerät hatte den Krieg unbeschadet überstanden, neue Apparate kosteten 1000 Mark. Und auch inhaltlich köchelte die Tagesschau in den 1950er-Jahren eher auf Sparflamme. Keine Spur vom seriösen, etwas trockenen Stil, den die Ikone des deutschen Nachrichtenjournalismus heute auszeichnet. Mit schwungvollem Big Band Sound suchte die erste Tagesschau 1952 Nachkriegsdeutschland zu beschallen – jedoch noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Alles begann in einem Kellerraum in Hamburg-Eppendorf mit einer Handvoll Fernsehpionieren. Die Redakteure von damals waren mit wenig zufrieden.
"Wir waren ganz stolz, als der tausendste Zuschauer gefunden wurde. Überlegen Sie mal: Der tausendste Fernsehzuschauer."
Nichts, aber auch gar nichts hatte sieben Jahre nach dem Krieg darauf hingedeutet, wie erfolgreich das neue Medium Fernsehen einmal sein würde. Hans-Wilhelm Vahlefeld kam mit 26 Jahren als Redakteur zur Tagesschau, er hatte den Krieg überlebt, ein Philosophiestudium in der Tasche und war zu allem bereit.
"Wir Pioniere im Fernsehen, wir waren ja überhaupt nicht angesehen. Im Gegensatz zu den Kollegen des Hörfunks. Die waren ja noch wer. Wir waren ja ein Nobody. Dass sie so würde wie heute, Millionen jeden Abend vor dem Schirm, da habe ich nicht im Traum dran gedacht."
Martin S. Svoboda, ein anderer Pionier des Fernsehens und so was wie der Vater der Tagesschau, hatte den jungen Reporter Vahlefeld in die Redaktion geholt. Fernsehnachrichten galten damals noch als Trallala-Journalismus, erinnert sich Vahlefeld. Das Radio war das unangefochtene Leitmedium.
Gesendet wurde das, was bei der Wochenschau übrig geblieben war, zusammengeklebt von einer Cutterin, berichtet der heute 84-Jährige Vahlefeld.
"Mit Buntem bin ich angefangen. Seriöse Nachrichtenberichterstattung, das kam erst viel später."
"Mercedes Benz stellt vor, seinen neuen Wagen vom Typ 180. Allerdings, wird man ihn aus der Distanz noch als Mercedes erkennen?"
Dreimal in der Woche um 20 Uhr öffnete das "Deutsche" Fernsehen ein Fenster zur Welt.
Das Adjektiv "Erstes" konnten die Sprecher getrost weglassen, noch gab es ja kein Zweites Deutsches Fernsehen. Die Tagesschau holte Schiffsunglücksfälle, Klatsch, Tratsch und Berichte aus den europäischen Königshäusern in die deutschen Wohnstuben. Eine Nachricht war nur dann eine Nachricht, wenn es die passenden Bilder dazu gab. Aktualität fanden viele damals überbewertet.
"Und dies ist der Anblick auf den alle gewartet haben. Aus den Toren des Buckingham Palastes rollt die goldene Staatskarosse Elisabeths auf dem Weg zur altehrwürdigen Kathedrale von Westminster."
Das Schreiben von Texten zu Filmen, die andere gemacht hatten, das genügte Hans-Wilhelm Vahlefeld schon bald nicht mehr. Er wollte ein richtiger Reporter sein. Sein großes Vorbild war Martin S. Svoboda, der erste Leiter der Tagesschau.
"Der alte Svoboda war eben cleverer Journalist. Der hatte ein Verständnis, was die Zeit war. Dann hatte er seine Philosophie entwickelt über die Tagesschau und das war sein großer Erfolg: ‘aktuell und schnell die Tagesschau.’ Damit ging er ins Bett und damit wachte er auf."
Aktuell und schnell, das wollte auch Vahlefeld sein. Mitte der 50er-Jahre sorgte er für eine kleine Sensation. Er hatte sich auf eigene Kosten beurlauben lassen und wollte nach Fernost. Aber sein Reisegeld reichte nur bis in den Libanon.
"Ich hatte nichts zu tun. Das heißt ich hatte keine Story. Die Tagesschau, die interessierte sich ja nicht für Beirut. Und da kam das griechische Königspaar. Das weiß ich noch wie heute. Und das war für mich eine Erlösung, denn jetzt hatte ich eine Story."
Vahlefeld drehte seinen Film über das griechische Königspaar, schickte ihn per Luftpost nach Hamburg und versorgte so die Tagesschau mit dem ersten exklusiven Nachrichtenfilm. Ab 1956 gab es die Tagesschau dann täglich, sie wurde immer ernsthafter und so klang sie auch.
Die täglichen Sendungen lohnten sich jetzt, denn die Gehälter im Wirtschaftswunderdeutschland stiegen und der Preis für Fernsehgeräte sank. Immer mehr Menschen konnten sich einen Zauberspiegel, so hießen die Fernsehapparate damals, leisten. Für sie ging die Zusage von NWDR-Intendant Pleister in Erfüllung.
"Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue geheimnisvolle Fenster in Ihre Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht."
Noch sah der Zauberspiegel aus wie ein Möbel, mit Beinen und einem Körper aus Nussbaum. Aber die wilden 60er-Jahre warfen ihre Schatten voraus. Wie beim großen Vorbild der BBC, hatte die Tagesschau ab März 1959 auch einen Sprecher, der vor der Kamera saß. Und sei es nur, um das Wetter von morgen anzusagen.
"Aus Frankfurt nun die Wettervorhersage für Freitag den 11. September. Heute wieder mit dem Reisewetter zum Wochenende."
Karl-Heinz Köpcke kam vom Radio, und mit seinem sonoren "Guten Abend, meine Damen und Herren" sollte er sich in Rekordzeit in die Herzen der deutschen Fernsehzuschauer senden. Er wurde zum Inbegriff der Seriosität. In dunklem Sakko, weißem Hemd und gedecktem Schlips blickte er durch das geheimnisvolle Fenster in die Wohnungen der Deutschen. Nachrichtensprecher Köpcke verwandelte sich in Mr. Tagesschau. Und mit ihm verwandelte sich genauso geheimnisvoll sein Haupthaar, das zu Beginn seiner Fernsehkarriere einen großzügigen Blick auf die Kopfhaut erlaubte und zum Ende hin immer voller wurde. Köpcke war der erste Nachrichtensprecher, den die Deutschen bald schon als Teil ihres Wohnzimmerinventars betrachteten. Nur einmal haben sie gemeckert. Da hatte sich Mr. Tagesschau nach dem Urlaub mit Oberlippenbart vor die Kamera gesetzt – die Zuschauer schickten säckeweise Protestbriefe, und der Bart kam wieder runter. Ansonsten war Köpcke über fast jede Kritik erhaben, und Versprecher passierten eigentlich nur den anderen. Eigentlich.
"Ein Sowjetischer Systemkritiker ist heute ... Mensch ich hab das ja mit den "sch"."
Das Wohl und Wehe Deutschlands und der Welt, Schicksalsschläge und politische Großereignisse, Katastrophen und Staatsbesuche - bei der Tagesschau wurden die Ereignisse des Tages sortiert, zusammengefasst und eingeordnet. In den technisch nicht gerade überbelasteten 60ern ging man selbstbewusst mit Kreide an die Weltkarte und machte ein Kreuzchen an die relevante Stelle. Die Tagesschau etablierte sich.
"Ich bin ein Berliner, it is one small step for man ... "
Und mit der Zeit wurde der Gongschlag der Tagesschau um 20 Uhr ...
... zu einer festen Größe. Die Deutschen stellten ihre Armbanduhren nach dem Gong der Tagesschau, was fast einer nationalen Eichung gleichkam. Jetzt konnte der Feierabend beginnen. Benimmbücher aus den 1960er-Jahren rieten dringend davon ab, um 20 Uhr irgendwo vorzusprechen. Und diese Zeitmarke spielte auch in der Kindererziehung eine wichtige Rolle, berichtet Hans-Joachim Fuhrmann, Sprecher der deutschen Zeitungsverleger.
"Die Tagesschau hat schon den Tag meiner Eltern strukturiert und damit wurde mein Tag als Kind strukturiert. Das machen wir noch vor der Tagesschau, du darfst aufbleiben bis zur Tagesschau. Irgendwann hieß es dann, okay die Tagesschau darfst du noch gucken. Die Tagesschau das war das Weltgeschehen im Wohnzimmer. Jeden Abend."
"20 Uhr Klappe halten. Ne viertel Stunde guckt Vattern Tagesschau, danach, wenn man Glück hatte, musste man ins Bett, ansonsten war man vorher schon längst da."
Dass Sohn Kai 2006 Chefredakteur dieser Sendung werden würde, das hat damals in der Wohnstube der Familie Gniffke natürlich noch niemand geahnt. Dass mit der Telefonierpause um 20 Uhr, dass sei – trotz Internet und Dutzenden von Konkurrenzsendern - immer noch in ganz vielen Familien so, sagt der Erste Chefredakteur Gniffke.
"Die Tagesschau gibt den Deutschen schon Halt. Das klingt vielleicht jetzt ein bisschen sehr groß, aber es ist so. Ich glaube, dass die Leute sich vergewissern wollen, was war heute wirklich wichtig."
Seit 60 Jahren also leistet die Sendung Orientierungshilfe. Eine Aufgabe, die vor der Kamera aber zunächst nur von Männern erledigt wurde. Schließlich fingen Frauen bei Unfällen sofort an zu weinen, wusste Karl-Heinz Köpcke und das sei den Zuschauern nun wirklich nicht zuzumuten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre das auch so geblieben, aber die Redaktion befand 1976, dass jetzt auch die Tagesschau mit der Zeit gehen müsse. Da war Paragraf 218 bereits zwei Jahre alt, die Frauen in Deutschland verbrannten ihre BHs und forderten gleiche Chancen für alle.
"Die Tagesschau wollte unbedingt eine Sprecherin und Köpcke war ausgesandt worden, sich sämtliche Regionalnachrichten anzugucken, um eine zu finden. Und es waren auch schon zwanzig getestet worden. Und dann hat er mich angesprochen..."
Dagmar Berghoff wurde die erste Frau vor der Tagesschau-Kamera. Ihr Auftritt am 16. Juni 1976 war eine Sensation
"Danach wurde ich in den Raum geführt, in dem diese vielen Teams standen und ich kam mir vor wie ein Affe im Zoo. Fräulein Berghoff sagte man damals noch, Fräulein Berghoff, wie haben Sie sich gefühlt. Fräulein Berghoff, wo wohnen Sie, mit wem sind Sie liiert. Fräulein Berghoff, was essen Sie am liebsten. Da schwirrten die Fragen durch den Raum und ich musste innerlich fürchterlich lachen."
Karl-Heinz Köpcke war Mr. Tagesschau und Fräulein Berghoff wurde folgerichtig Miss Tagesschau. Ihre Fans – und dazu gehörten laut Umfragen die meisten Deutschen – hat sie nie als Bürde empfunden.
"Ich hab das ganz oft gemerkt, wenn sie mich irgendwo gesehen haben, ach Sie sind bei uns wie eine Vertraute. Wir sagen auch immer Hallo Dagmar, wenn Sie dann da sind. Es gab ja nur die drei Programme früher: ARD, ZDF und die Dritten. Und da war man im Grunde wie ein Familienmitglied und heute, wenn mich Leute noch erkennen, was noch ganz schön viele sind, dann kommt da so was, was ich ganz sympathisch finde: Ach, wir vermissen Sie."
Versprecher kamen eigentlich ganz gut bei den Zuschauern an. In einer durch und durch seriösen Nachrichtensendung sind sie fast schon so etwas wie das Salz in der Suppe.
"Boris Becker hat am Abend ... ohne Gewähr."
"Ich hatte Glück, dass die Lottozahlen danach kamen. Stellen Sie sich vor, ich hätte eine ernsthafte Meldung danach lesen müssen. Ich wäre dazu gar nicht fähig gewesen."
Aber es sind vor allem die großen, die tragischen Ereignisse, die im Gedächtnis der Zuschauer bleiben. Alles, was die junge Demokratie durchlebte, fand sich in der Tagesschau wieder, die schließlich fast so alt wie die Bundesrepublik selbst ist. Kanzler Ludwig Erhard eilte 1963 ins niedersächsische Lengede, wo in einem Eisenerzbergwerg 129 Menschen verschüttet wurden. Die Tagesschau-Kamera war mit dabei.
"Ich glaube, alle deutschen Herzen sind im Augenblick bei Ihnen. In der Hoffnung, in der Zuversicht, dass Sie wieder das Licht des Tages erblicken. Glück auf. Vielen Dank Herr Bundeskanzler."
"Da habe ich gebannt gesessen. Wenn ich mich recht erinnere, bekamen wir sogar in der Schule früher frei um das vor dem Fernseher mitzuerleben. Meine Mutter weinte, ich hatte Tränen in den Augen. Das war großes Kino."
Lengede wird als Erstes Ereignis mit täglicher Live-Berichterstattung Nachrichtengeschichte schreiben. Weil die Tagesschau und andere von den Rettungsarbeiten berichteten, die sich über viele Tage hinzogen, wurde der Druck der Öffentlichkeit so groß, dass die Bohrungen schließlich doch fortgesetzt wurden. Nach zwei Wochen geschah das Wunder von Lengede: Elf Bergleute wurden lebend gerettet. Spätestens ab diesem Zeitpunkt bekam das Einschalten des Fernsehers um 20 Uhr für die Deutschen den Charakter eines Rituals.
Ob Energiekrise, Schleyer-Entführung oder das Flugzeugunglück von Ramstein, die Tagesschau berichtete
Doch wie reagieren auf das Unfassbare? Menschlich, sagt Dagmar Berghoff, die anders als Karl-Heinz Köpcke und Werner Veigel, einen nicht ganz so puristischen Nachrichtenstil pflegte.
"Wenn es so Unglücke gibt, oder traurige Meldungen, dann darf man durchaus einen Augenblick verharren und dann weitersprechen oder schlucken. Was man nun nicht darf, ist in Tränen ausbrechen."
Den elften September 2001 hat Dagmar Berghoff nicht mehr in der Redaktion verfolgt, zwei Jahre vorher war sie als Chefsprecherin in den Ruhestand gegangen.
"Es ist damals vieles ja schief gelaufen bei der Tagesschau. Beispielsweise waren irgendwann die Leitungen in die Vereinigten Staaten so ausgelastet, dass es ein großes Problem war, für die 20 Uhr ein Stück aus Washington bzw. aus New York zu bekommen."
Den Grimmepreis für die Berichterstattung, den hat damals Peter Kloeppel von RTL aktuell bekommen. Das wurmt schon ein bisschen, sagt Andreas Hummelmeier, Leiter von tagesschau.de. Aber dass die Konkurrenz den Satelliten blockiert, das werde nicht ein zweites Mal passieren.
"Das waren so Bewährungsproben wo ich im Nachhinein sage: Wir haben gelernt aus dem 11. September. Und die Maschine ist noch ein bisschen perfekter geworden und hat sich noch stärker darauf eingestellt, dass es für viele Menschen wichtig ist, dass immer 20 Uhr ist und nicht nur einmal am Tag."
Alle Versuche, eigene Nachrichtensendungen oder gar das Hauptabendprogramm gegen die Tagesschau um 20 Uhr zu programmieren, sind gescheitert. Was den ehemaligen RTL-Chef Helmut Thoma zur der Bemerkung hinriss, die Tagesschau könne man auch auf Latein und bei Kerzenschein verlesen, die Reichweite bliebe die gleiche.
"Also ich weiß nicht, für wie bescheuert man die Zuschauer halten muss, um so einen Satz sich auszudenken. Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass allabendlich neun oder zehn Millionen Menschen sich eine Fernsehsendung angucken, die sie nicht verstehen. Das ist ja das, was Thoma gemeint hatte. Kein Mensch versteht die Tagesschau. Das halte ich für eine verdammt arrogante Haltung."
Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD aktuell. Arroganz müssen sich sonst eigentlich die öffentlich-rechtlichen Programme selbst vorwerfen lassen. Gebührenfinanzierte Produkte wie die Tagesschau App würden den Zeitungen das Geschäft im Internet kaputtmachen. Wettbewerbsverzerrung nennen das die Zeitungsverlage in Deutschland und ganz besonders Christian Nienhaus, Geschäftsführer der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.
"Es geht darum, dass jemand steuerfinanziert , kostenlos Inhalte anbietet und damit unsere Märkte kaputt macht. Und das finden wir politisch skandalös und nicht gesetzeskonform."
Die Verleger haben folgerichtig ein Gerichtsverfahren gegen die ARD angestrengt, der zuständige Richter befand eine überprüfte Ausgabe in der Zwischenzeit für zu textlastig und forderte die Kombattanten auf, sich zu einigen. Kai Gniffke sieht jedoch bei den Schwierigkeiten, in denen die Medienbranche steckt, keinen Zusammenhang mit der Tagesschau App, die an die fünf Millionen Nutzer hat.
"Wir sind nicht Schuld an der Krise der Verlage, und würden wir die Tagesschau App jetzt sofort vom Markt nehmen und tagesschau.de auch dicht machen: Es würde kein einziger Verlag auch nur einen Cent mehr verdienen."
Kai Gniffke hält es für überlebenswichtig, dass sich die Tagesschau auf allen Plattformen bewährt. Die Zuschauer sollen etwas für ihre Gebühren bekommen, sagt der Journalist. Die Tagesschau live, on demand oder auf dem Smartphone: Die Sendung hat sich angepasst an das digitale Medienzeitalter, wenn auch sehr behutsam. Sie sei ein bisschen wie die Niveadose, heißt es, der Inhalt ist gleichgeblieben - nur außen rum ist sie ein bisschen hübscher. Aber alles in Maßen und ganz behutsam. Allzu heftige Reformbemühungen verträgt der Zuschauer nicht. Als es jetzt hieß, die Melodie werde neu komponiert, brach ein Sturm der Entrüstung über ARD aktuell herein. Dabei hatte sich die Anfangsmusik schon einige Male in der Geschichte der Sendung verändert und soll diesmal sowieso nur leicht modifiziert werden.
"Daran sieht man, welche Bedeutung diese Institution hat. Es ist offensichtlich ein bisschen so, als wenn man das Vater Unser umtexten würde. Das macht mir mehr Freude als dass es mich betrübt, wenn dann darüber berichtet wird. Weil es nach wie vor zeigt, welchen Stellenwert diese Sendung bei den Menschen hat."
Die Tagesschau ist die meistgesehene und älteste Nachrichtensendung um deutschen Fernsehen. Für sie zu arbeiten ist Lust, sagt Chefredakteur Kai Gniffke, aber manchmal auch ein bisschen Last, was man sehr schön an der jüngsten Diskussion über die Titelmelodie erkennen können.
Elfeinhalb Millionen Zuschauer an einem Sonntag konstatiert die Redaktionskonferenz Montagmorgen um zehn Uhr dreißig am ovalen Besprechungstisch mit Genugtuung. Nur um dann kollektiv die Sendungen des Wochenendes auseinanderzunehmen. Es wäre fatal, hatte Kai Gniffke in seinem Büro noch gesagt, wenn die Ehrfurcht vor dem Produkt so groß wäre, dass sich niemand traue, es zu kritisieren. Die Sorge ist unbegründet. Der Beitrag über den Kongo gestern Abend, der sei viel zu flach gewesen, moniert eine Kollegin. Das könne man differenzierter erklären. Natürlich ist das schwer, sagt sie, aber wenn es einfach wäre, könnte es jeder. Wir sind schließlich die Tagesschau, schiebt sie noch hinterher, bevor sich alle an ihre Schreibtische verteilen.
"Da steht zwar immer noch Tagesschau drauf, aber die hat sich eigentlich in jedem Jahr neu erfunden, wie sie arbeitet, welches Angebot gemacht wird. Was geblieben ist, ist das Grundverständnis. Wir sind sachlich, wir sind neutral und wir machen wenig Buntes und wir versuchen, jedem Menschen jederzeit zu sagen, ob die Welt noch steht."
Seit zwanzig Jahren pflegt Andreas Werner bei der Tagesschau die Kunst des Weglassens. Er war schon beim fünfzigsten Geburtstag der Sendung dabei und jetzt sitzt er immer noch als CvD für die 20 Uhr Ausgabe im Newsroom. Trotzdem, sein Job sei viel mehr Lust als Last, sagt der Journalist. Auch nach all den Jahren. Die Tagesschau feiert in diesem Monat ihren sechzigsten Geburtstag – aber ergriffen wirkt in der Redaktion von ARD aktuell irgendwie niemand. Und dafür ist auch gar keine Zeit. Schließlich wird das Hochamt des deutschen Fernsehnachrichtenjournalismus täglich gefeiert, mindestens zehn Sendungen sind in 24 Stunden zu stemmen. Deswegen ist der Sendung immer vor der Sendung. Die Tagesschau ist ein multimediales Großereignis geworden. Es gibt sie im Fernsehen, online, als App und on demand.
"Hier ist das Team für die 20 Uhr, hier werden alle Sendungen gemacht, vom frühen Morgen, elf zwölf, vierzehn fünfzehn und Tagesschau24. Wir gehen jetzt einmal nach drüben zur Insel der Chefin vom Dienst ... "
Großraumbüros und Redaktionsräume verteilt auf mehrere Etagen eines eigenen Gebäudes auf dem Gelände des NDR-Fernsehsehzentrums. Im Hamburger Stadtteil Lokstedt arbeitet ARD aktuell, hier sind die Redaktionen von Tagesschau und Tagesthemen. Im riesigen Newsroom stehen Dutzende Schreibtische, unzählige Monitore zeigen das eigene Programm, die der anderen, das Internet oder das Angebot des europäischen Senderverbunds. Die Tagesschau hat wie keine andere Sendung das Nachrichtenfernsehen der Bundesrepublik geprägt. Neun bis elf Millionen Zuschauer erreicht sie. Ihre Fans hat sie sogar im Lager der Konkurrenz: Bei Hans-Joachim Fuhrmann zum Beispiel. Er vertritt den Bundesverband der Deutschen Zeitungsverleger in der Öffentlichkeit
"Die Tagesschau steht für solide, tief seriöse Information. Die Tagesschau, das ist die klassische Nachrichtensendung."
Aber danach sah es am Anfang nun wirklich nicht aus. Einen Tag vor der ersten Ausgabe, am 26. Dezember 1952, war das Fernsehen in Westdeutschland überhaupt erst an den Start gegangen. Ein Vorgang, dem die deutsche Bevölkerung offensichtlich mit großen Ängsten gegenüberstand. NWDR-Intendant Werner Pleister suchte zu beschwichtigen.
"Man hat aber auch die Befürchtung geäußert, das Fernsehen könne dem Menschen schaden, da es im Zuge der Technisierung der Schöpfung sein Leben weiter mechanisiert. Es kommt auf uns an, ob dieses technische Mittel schadet oder nützt. Ich meine, wir könnten mit ihm die Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen vermehren. Und wir sollten es dazu benutzen, das große Wunder des Lebens im Reichtum seiner Formen und Inhalte anzuschauen und zu erkennen."
Das große Wunder des Lebens, wie Intendant Pleister es salbungsvoll nannte, ging jedoch zu Anfang nahezu unbeachtet über den Äther. Kaum ein TV-Gerät hatte den Krieg unbeschadet überstanden, neue Apparate kosteten 1000 Mark. Und auch inhaltlich köchelte die Tagesschau in den 1950er-Jahren eher auf Sparflamme. Keine Spur vom seriösen, etwas trockenen Stil, den die Ikone des deutschen Nachrichtenjournalismus heute auszeichnet. Mit schwungvollem Big Band Sound suchte die erste Tagesschau 1952 Nachkriegsdeutschland zu beschallen – jedoch noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Alles begann in einem Kellerraum in Hamburg-Eppendorf mit einer Handvoll Fernsehpionieren. Die Redakteure von damals waren mit wenig zufrieden.
"Wir waren ganz stolz, als der tausendste Zuschauer gefunden wurde. Überlegen Sie mal: Der tausendste Fernsehzuschauer."
Nichts, aber auch gar nichts hatte sieben Jahre nach dem Krieg darauf hingedeutet, wie erfolgreich das neue Medium Fernsehen einmal sein würde. Hans-Wilhelm Vahlefeld kam mit 26 Jahren als Redakteur zur Tagesschau, er hatte den Krieg überlebt, ein Philosophiestudium in der Tasche und war zu allem bereit.
"Wir Pioniere im Fernsehen, wir waren ja überhaupt nicht angesehen. Im Gegensatz zu den Kollegen des Hörfunks. Die waren ja noch wer. Wir waren ja ein Nobody. Dass sie so würde wie heute, Millionen jeden Abend vor dem Schirm, da habe ich nicht im Traum dran gedacht."
Martin S. Svoboda, ein anderer Pionier des Fernsehens und so was wie der Vater der Tagesschau, hatte den jungen Reporter Vahlefeld in die Redaktion geholt. Fernsehnachrichten galten damals noch als Trallala-Journalismus, erinnert sich Vahlefeld. Das Radio war das unangefochtene Leitmedium.
Gesendet wurde das, was bei der Wochenschau übrig geblieben war, zusammengeklebt von einer Cutterin, berichtet der heute 84-Jährige Vahlefeld.
"Mit Buntem bin ich angefangen. Seriöse Nachrichtenberichterstattung, das kam erst viel später."
"Mercedes Benz stellt vor, seinen neuen Wagen vom Typ 180. Allerdings, wird man ihn aus der Distanz noch als Mercedes erkennen?"
Dreimal in der Woche um 20 Uhr öffnete das "Deutsche" Fernsehen ein Fenster zur Welt.
Das Adjektiv "Erstes" konnten die Sprecher getrost weglassen, noch gab es ja kein Zweites Deutsches Fernsehen. Die Tagesschau holte Schiffsunglücksfälle, Klatsch, Tratsch und Berichte aus den europäischen Königshäusern in die deutschen Wohnstuben. Eine Nachricht war nur dann eine Nachricht, wenn es die passenden Bilder dazu gab. Aktualität fanden viele damals überbewertet.
"Und dies ist der Anblick auf den alle gewartet haben. Aus den Toren des Buckingham Palastes rollt die goldene Staatskarosse Elisabeths auf dem Weg zur altehrwürdigen Kathedrale von Westminster."
Das Schreiben von Texten zu Filmen, die andere gemacht hatten, das genügte Hans-Wilhelm Vahlefeld schon bald nicht mehr. Er wollte ein richtiger Reporter sein. Sein großes Vorbild war Martin S. Svoboda, der erste Leiter der Tagesschau.
"Der alte Svoboda war eben cleverer Journalist. Der hatte ein Verständnis, was die Zeit war. Dann hatte er seine Philosophie entwickelt über die Tagesschau und das war sein großer Erfolg: ‘aktuell und schnell die Tagesschau.’ Damit ging er ins Bett und damit wachte er auf."
Aktuell und schnell, das wollte auch Vahlefeld sein. Mitte der 50er-Jahre sorgte er für eine kleine Sensation. Er hatte sich auf eigene Kosten beurlauben lassen und wollte nach Fernost. Aber sein Reisegeld reichte nur bis in den Libanon.
"Ich hatte nichts zu tun. Das heißt ich hatte keine Story. Die Tagesschau, die interessierte sich ja nicht für Beirut. Und da kam das griechische Königspaar. Das weiß ich noch wie heute. Und das war für mich eine Erlösung, denn jetzt hatte ich eine Story."
Vahlefeld drehte seinen Film über das griechische Königspaar, schickte ihn per Luftpost nach Hamburg und versorgte so die Tagesschau mit dem ersten exklusiven Nachrichtenfilm. Ab 1956 gab es die Tagesschau dann täglich, sie wurde immer ernsthafter und so klang sie auch.
Die täglichen Sendungen lohnten sich jetzt, denn die Gehälter im Wirtschaftswunderdeutschland stiegen und der Preis für Fernsehgeräte sank. Immer mehr Menschen konnten sich einen Zauberspiegel, so hießen die Fernsehapparate damals, leisten. Für sie ging die Zusage von NWDR-Intendant Pleister in Erfüllung.
"Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue geheimnisvolle Fenster in Ihre Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht."
Noch sah der Zauberspiegel aus wie ein Möbel, mit Beinen und einem Körper aus Nussbaum. Aber die wilden 60er-Jahre warfen ihre Schatten voraus. Wie beim großen Vorbild der BBC, hatte die Tagesschau ab März 1959 auch einen Sprecher, der vor der Kamera saß. Und sei es nur, um das Wetter von morgen anzusagen.
"Aus Frankfurt nun die Wettervorhersage für Freitag den 11. September. Heute wieder mit dem Reisewetter zum Wochenende."
Karl-Heinz Köpcke kam vom Radio, und mit seinem sonoren "Guten Abend, meine Damen und Herren" sollte er sich in Rekordzeit in die Herzen der deutschen Fernsehzuschauer senden. Er wurde zum Inbegriff der Seriosität. In dunklem Sakko, weißem Hemd und gedecktem Schlips blickte er durch das geheimnisvolle Fenster in die Wohnungen der Deutschen. Nachrichtensprecher Köpcke verwandelte sich in Mr. Tagesschau. Und mit ihm verwandelte sich genauso geheimnisvoll sein Haupthaar, das zu Beginn seiner Fernsehkarriere einen großzügigen Blick auf die Kopfhaut erlaubte und zum Ende hin immer voller wurde. Köpcke war der erste Nachrichtensprecher, den die Deutschen bald schon als Teil ihres Wohnzimmerinventars betrachteten. Nur einmal haben sie gemeckert. Da hatte sich Mr. Tagesschau nach dem Urlaub mit Oberlippenbart vor die Kamera gesetzt – die Zuschauer schickten säckeweise Protestbriefe, und der Bart kam wieder runter. Ansonsten war Köpcke über fast jede Kritik erhaben, und Versprecher passierten eigentlich nur den anderen. Eigentlich.
"Ein Sowjetischer Systemkritiker ist heute ... Mensch ich hab das ja mit den "sch"."
Das Wohl und Wehe Deutschlands und der Welt, Schicksalsschläge und politische Großereignisse, Katastrophen und Staatsbesuche - bei der Tagesschau wurden die Ereignisse des Tages sortiert, zusammengefasst und eingeordnet. In den technisch nicht gerade überbelasteten 60ern ging man selbstbewusst mit Kreide an die Weltkarte und machte ein Kreuzchen an die relevante Stelle. Die Tagesschau etablierte sich.
"Ich bin ein Berliner, it is one small step for man ... "
Und mit der Zeit wurde der Gongschlag der Tagesschau um 20 Uhr ...
... zu einer festen Größe. Die Deutschen stellten ihre Armbanduhren nach dem Gong der Tagesschau, was fast einer nationalen Eichung gleichkam. Jetzt konnte der Feierabend beginnen. Benimmbücher aus den 1960er-Jahren rieten dringend davon ab, um 20 Uhr irgendwo vorzusprechen. Und diese Zeitmarke spielte auch in der Kindererziehung eine wichtige Rolle, berichtet Hans-Joachim Fuhrmann, Sprecher der deutschen Zeitungsverleger.
"Die Tagesschau hat schon den Tag meiner Eltern strukturiert und damit wurde mein Tag als Kind strukturiert. Das machen wir noch vor der Tagesschau, du darfst aufbleiben bis zur Tagesschau. Irgendwann hieß es dann, okay die Tagesschau darfst du noch gucken. Die Tagesschau das war das Weltgeschehen im Wohnzimmer. Jeden Abend."
"20 Uhr Klappe halten. Ne viertel Stunde guckt Vattern Tagesschau, danach, wenn man Glück hatte, musste man ins Bett, ansonsten war man vorher schon längst da."
Dass Sohn Kai 2006 Chefredakteur dieser Sendung werden würde, das hat damals in der Wohnstube der Familie Gniffke natürlich noch niemand geahnt. Dass mit der Telefonierpause um 20 Uhr, dass sei – trotz Internet und Dutzenden von Konkurrenzsendern - immer noch in ganz vielen Familien so, sagt der Erste Chefredakteur Gniffke.
"Die Tagesschau gibt den Deutschen schon Halt. Das klingt vielleicht jetzt ein bisschen sehr groß, aber es ist so. Ich glaube, dass die Leute sich vergewissern wollen, was war heute wirklich wichtig."
Seit 60 Jahren also leistet die Sendung Orientierungshilfe. Eine Aufgabe, die vor der Kamera aber zunächst nur von Männern erledigt wurde. Schließlich fingen Frauen bei Unfällen sofort an zu weinen, wusste Karl-Heinz Köpcke und das sei den Zuschauern nun wirklich nicht zuzumuten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre das auch so geblieben, aber die Redaktion befand 1976, dass jetzt auch die Tagesschau mit der Zeit gehen müsse. Da war Paragraf 218 bereits zwei Jahre alt, die Frauen in Deutschland verbrannten ihre BHs und forderten gleiche Chancen für alle.
"Die Tagesschau wollte unbedingt eine Sprecherin und Köpcke war ausgesandt worden, sich sämtliche Regionalnachrichten anzugucken, um eine zu finden. Und es waren auch schon zwanzig getestet worden. Und dann hat er mich angesprochen..."
Dagmar Berghoff wurde die erste Frau vor der Tagesschau-Kamera. Ihr Auftritt am 16. Juni 1976 war eine Sensation
"Danach wurde ich in den Raum geführt, in dem diese vielen Teams standen und ich kam mir vor wie ein Affe im Zoo. Fräulein Berghoff sagte man damals noch, Fräulein Berghoff, wie haben Sie sich gefühlt. Fräulein Berghoff, wo wohnen Sie, mit wem sind Sie liiert. Fräulein Berghoff, was essen Sie am liebsten. Da schwirrten die Fragen durch den Raum und ich musste innerlich fürchterlich lachen."
Karl-Heinz Köpcke war Mr. Tagesschau und Fräulein Berghoff wurde folgerichtig Miss Tagesschau. Ihre Fans – und dazu gehörten laut Umfragen die meisten Deutschen – hat sie nie als Bürde empfunden.
"Ich hab das ganz oft gemerkt, wenn sie mich irgendwo gesehen haben, ach Sie sind bei uns wie eine Vertraute. Wir sagen auch immer Hallo Dagmar, wenn Sie dann da sind. Es gab ja nur die drei Programme früher: ARD, ZDF und die Dritten. Und da war man im Grunde wie ein Familienmitglied und heute, wenn mich Leute noch erkennen, was noch ganz schön viele sind, dann kommt da so was, was ich ganz sympathisch finde: Ach, wir vermissen Sie."
Versprecher kamen eigentlich ganz gut bei den Zuschauern an. In einer durch und durch seriösen Nachrichtensendung sind sie fast schon so etwas wie das Salz in der Suppe.
"Boris Becker hat am Abend ... ohne Gewähr."
"Ich hatte Glück, dass die Lottozahlen danach kamen. Stellen Sie sich vor, ich hätte eine ernsthafte Meldung danach lesen müssen. Ich wäre dazu gar nicht fähig gewesen."
Aber es sind vor allem die großen, die tragischen Ereignisse, die im Gedächtnis der Zuschauer bleiben. Alles, was die junge Demokratie durchlebte, fand sich in der Tagesschau wieder, die schließlich fast so alt wie die Bundesrepublik selbst ist. Kanzler Ludwig Erhard eilte 1963 ins niedersächsische Lengede, wo in einem Eisenerzbergwerg 129 Menschen verschüttet wurden. Die Tagesschau-Kamera war mit dabei.
"Ich glaube, alle deutschen Herzen sind im Augenblick bei Ihnen. In der Hoffnung, in der Zuversicht, dass Sie wieder das Licht des Tages erblicken. Glück auf. Vielen Dank Herr Bundeskanzler."
"Da habe ich gebannt gesessen. Wenn ich mich recht erinnere, bekamen wir sogar in der Schule früher frei um das vor dem Fernseher mitzuerleben. Meine Mutter weinte, ich hatte Tränen in den Augen. Das war großes Kino."
Lengede wird als Erstes Ereignis mit täglicher Live-Berichterstattung Nachrichtengeschichte schreiben. Weil die Tagesschau und andere von den Rettungsarbeiten berichteten, die sich über viele Tage hinzogen, wurde der Druck der Öffentlichkeit so groß, dass die Bohrungen schließlich doch fortgesetzt wurden. Nach zwei Wochen geschah das Wunder von Lengede: Elf Bergleute wurden lebend gerettet. Spätestens ab diesem Zeitpunkt bekam das Einschalten des Fernsehers um 20 Uhr für die Deutschen den Charakter eines Rituals.
Ob Energiekrise, Schleyer-Entführung oder das Flugzeugunglück von Ramstein, die Tagesschau berichtete
Doch wie reagieren auf das Unfassbare? Menschlich, sagt Dagmar Berghoff, die anders als Karl-Heinz Köpcke und Werner Veigel, einen nicht ganz so puristischen Nachrichtenstil pflegte.
"Wenn es so Unglücke gibt, oder traurige Meldungen, dann darf man durchaus einen Augenblick verharren und dann weitersprechen oder schlucken. Was man nun nicht darf, ist in Tränen ausbrechen."
Den elften September 2001 hat Dagmar Berghoff nicht mehr in der Redaktion verfolgt, zwei Jahre vorher war sie als Chefsprecherin in den Ruhestand gegangen.
"Es ist damals vieles ja schief gelaufen bei der Tagesschau. Beispielsweise waren irgendwann die Leitungen in die Vereinigten Staaten so ausgelastet, dass es ein großes Problem war, für die 20 Uhr ein Stück aus Washington bzw. aus New York zu bekommen."
Den Grimmepreis für die Berichterstattung, den hat damals Peter Kloeppel von RTL aktuell bekommen. Das wurmt schon ein bisschen, sagt Andreas Hummelmeier, Leiter von tagesschau.de. Aber dass die Konkurrenz den Satelliten blockiert, das werde nicht ein zweites Mal passieren.
"Das waren so Bewährungsproben wo ich im Nachhinein sage: Wir haben gelernt aus dem 11. September. Und die Maschine ist noch ein bisschen perfekter geworden und hat sich noch stärker darauf eingestellt, dass es für viele Menschen wichtig ist, dass immer 20 Uhr ist und nicht nur einmal am Tag."
Alle Versuche, eigene Nachrichtensendungen oder gar das Hauptabendprogramm gegen die Tagesschau um 20 Uhr zu programmieren, sind gescheitert. Was den ehemaligen RTL-Chef Helmut Thoma zur der Bemerkung hinriss, die Tagesschau könne man auch auf Latein und bei Kerzenschein verlesen, die Reichweite bliebe die gleiche.
"Also ich weiß nicht, für wie bescheuert man die Zuschauer halten muss, um so einen Satz sich auszudenken. Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass allabendlich neun oder zehn Millionen Menschen sich eine Fernsehsendung angucken, die sie nicht verstehen. Das ist ja das, was Thoma gemeint hatte. Kein Mensch versteht die Tagesschau. Das halte ich für eine verdammt arrogante Haltung."
Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD aktuell. Arroganz müssen sich sonst eigentlich die öffentlich-rechtlichen Programme selbst vorwerfen lassen. Gebührenfinanzierte Produkte wie die Tagesschau App würden den Zeitungen das Geschäft im Internet kaputtmachen. Wettbewerbsverzerrung nennen das die Zeitungsverlage in Deutschland und ganz besonders Christian Nienhaus, Geschäftsführer der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung.
"Es geht darum, dass jemand steuerfinanziert , kostenlos Inhalte anbietet und damit unsere Märkte kaputt macht. Und das finden wir politisch skandalös und nicht gesetzeskonform."
Die Verleger haben folgerichtig ein Gerichtsverfahren gegen die ARD angestrengt, der zuständige Richter befand eine überprüfte Ausgabe in der Zwischenzeit für zu textlastig und forderte die Kombattanten auf, sich zu einigen. Kai Gniffke sieht jedoch bei den Schwierigkeiten, in denen die Medienbranche steckt, keinen Zusammenhang mit der Tagesschau App, die an die fünf Millionen Nutzer hat.
"Wir sind nicht Schuld an der Krise der Verlage, und würden wir die Tagesschau App jetzt sofort vom Markt nehmen und tagesschau.de auch dicht machen: Es würde kein einziger Verlag auch nur einen Cent mehr verdienen."
Kai Gniffke hält es für überlebenswichtig, dass sich die Tagesschau auf allen Plattformen bewährt. Die Zuschauer sollen etwas für ihre Gebühren bekommen, sagt der Journalist. Die Tagesschau live, on demand oder auf dem Smartphone: Die Sendung hat sich angepasst an das digitale Medienzeitalter, wenn auch sehr behutsam. Sie sei ein bisschen wie die Niveadose, heißt es, der Inhalt ist gleichgeblieben - nur außen rum ist sie ein bisschen hübscher. Aber alles in Maßen und ganz behutsam. Allzu heftige Reformbemühungen verträgt der Zuschauer nicht. Als es jetzt hieß, die Melodie werde neu komponiert, brach ein Sturm der Entrüstung über ARD aktuell herein. Dabei hatte sich die Anfangsmusik schon einige Male in der Geschichte der Sendung verändert und soll diesmal sowieso nur leicht modifiziert werden.
"Daran sieht man, welche Bedeutung diese Institution hat. Es ist offensichtlich ein bisschen so, als wenn man das Vater Unser umtexten würde. Das macht mir mehr Freude als dass es mich betrübt, wenn dann darüber berichtet wird. Weil es nach wie vor zeigt, welchen Stellenwert diese Sendung bei den Menschen hat."
Die Tagesschau ist die meistgesehene und älteste Nachrichtensendung um deutschen Fernsehen. Für sie zu arbeiten ist Lust, sagt Chefredakteur Kai Gniffke, aber manchmal auch ein bisschen Last, was man sehr schön an der jüngsten Diskussion über die Titelmelodie erkennen können.
Elfeinhalb Millionen Zuschauer an einem Sonntag konstatiert die Redaktionskonferenz Montagmorgen um zehn Uhr dreißig am ovalen Besprechungstisch mit Genugtuung. Nur um dann kollektiv die Sendungen des Wochenendes auseinanderzunehmen. Es wäre fatal, hatte Kai Gniffke in seinem Büro noch gesagt, wenn die Ehrfurcht vor dem Produkt so groß wäre, dass sich niemand traue, es zu kritisieren. Die Sorge ist unbegründet. Der Beitrag über den Kongo gestern Abend, der sei viel zu flach gewesen, moniert eine Kollegin. Das könne man differenzierter erklären. Natürlich ist das schwer, sagt sie, aber wenn es einfach wäre, könnte es jeder. Wir sind schließlich die Tagesschau, schiebt sie noch hinterher, bevor sich alle an ihre Schreibtische verteilen.
"Da steht zwar immer noch Tagesschau drauf, aber die hat sich eigentlich in jedem Jahr neu erfunden, wie sie arbeitet, welches Angebot gemacht wird. Was geblieben ist, ist das Grundverständnis. Wir sind sachlich, wir sind neutral und wir machen wenig Buntes und wir versuchen, jedem Menschen jederzeit zu sagen, ob die Welt noch steht."