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Nach Karlsruher Urteil zur Finanzpolitik
Aktuelle Haushaltskrise unterscheidet sich laut Historikerin Stefanie Middendorf fundamental von der Lage in der Weimarer Republik

Für die Historikerin Stefanie Middendorf unterscheidet sich die aktuelle Haushaltskrise der Bundesregierung fundamental von der Situation in der Weimarer Republik. So liege nun klar geregelt das Budgetrecht beim Parlament und die demokratische Kontrolle funktioniere. Dies zeige das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

    Die Historikerin Stefanie Middendorf im Porträt - sie trägt lange dunkle Haare, eine runde Brille und einen schwarzen Blazer. Middendorf schaut freundlich lächelnd in die Kamera.
    Stefanie Middendorf von der Schiller-Universität Jena. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Die Professorin für Neueste Geschichte/Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, sagte im Deutschlandfunk, die Frage von Haushaltsschulden sei keineswegs nur für Fachleute, sondern "eine Kernfrage der Demokratie". Dahinter stehe auch die Frage, wofür eine Gesellschaft Geld ausgebe, welche Prioritäten gesetzt würden und was als so wichtig erachtet werde, dass dafür auch Schulden aufgenommen werden könnten.

    Vergleich mit der Weimarer Republik

    Bei einem Vergleich mit der politischen Lage in der Weimarer Republik zu Beginn der 1930er Jahre gebe es zwar Ähnlichkeiten, aber auch fundamentale Unterschiede, erklärte die Historikerin. Zu den Gemeinsamkeiten zählte Middendorf den "Eindruck, in einer Polikrise, in einer außergewöhnlichen Situation zu sein". Dies Gefühl bestehe seit mehreren Jahren. Als Stichpunkte nannte sie die Corona-Pandemie, den globalen Klimawandel und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dadurch komme das Gefühl zurück, "im Notstand zu sein und im Notstand regieren zu müssen".
    In der Weimarer Republik habe es jedoch eine "grundlegenden Fragilität" der demokratischen Ordnung gegeben. Im Gegensatz dazu funktioniere heute die demokratische Kontrolle. Karlsruhe habe eine verfassungswidrige Regelung angemahnt und nun werde nach einer Lösung gesucht. Das Problem sei auch nicht entstanden, weil die regierenden Parteien keinen Konsens gefunden hätten. "Das ist völlig anders, als um 1930 der damalige Reichskanzler Brüning ein Sanierungsprogramm gegen den Willen des Reichstags durchsetzte und den Reichstag dann auch auflöste, weil es diesen demokratischen Konsens über finanzpolitische Maßnahmen nicht gab."

    Vor 100 Jahren: Hyperinflation und Weltkriegsfolgen

    Um die Lage in der Weimarer Republik noch schärfer zu skizzieren, umriss Middendorf die Situation vor 100 Jahren, also 1923: "Das Deutsche Reich ist in der Hyperinflation, es ist eine von Armut und Hunger gebeutelte Nachkriegsgesellschaft mit vielen Überhängen aus der Kriegszeit, mit einem fragilen, nicht vorhandenen Konsens" in Haushaltsfragen. Zudem habe der Staat damals große Schwierigkeiten gehabt, Kredite zu bekommen, er sei ein unzuverlässiger Schuldner gewesen. "Das ist heute völlig anders", so Stefanie Middendorf. Deutschland gelte als solvent und die Bundesregierung als handlungsfähig. Die Haushaltsnotlage sei nicht das Ergebnis eines Versagens der gemäßigten Parteien, sondern in dem spezifischen Fall sei es das Ergebnis einer verfassungsmäßigen Regelung "und der Tatsache, dass sie vielleicht nicht mehr in die Zeit passt".
    Die 2009 im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa eingeführte Schuldenbremse in Deutschland habe eine besondere Situation geschaffen, sodass ständig in einer Notlage regiert werde, führte Middendorf aus. Damit bezog sie sich auf die grundgesetzlich verankerte Beschränkung der Aufnahme von Schulden, die auf Beschluss des Parlaments ausgesetzt werden kann, wenn eine Notlage festgestellt wird.
    Das Bundesverfassungsgericht hatte den Nachtragshaushalt der Ampelregierung für das Jahr 2021 vor knapp zwei Wochen für nichtig erklärt. Demnach durften 60 Milliarden Euro zur Bewältigung der Corona-Krise nicht für andere Zwecke umgewidmet werden. SPD, FDP und Grüne hatten das Geld in den Klima- und Transformationsfonds verschoben. Das Geld fehlt nun für bereits angefangene und geplanten Projekte.

    Weiterführender Link:

    Schicksalsjahr 1923 - Der Anfang vom Ende
    Diese Nachricht wurde am 28.11.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.