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AKW Tihange und Cattenom
Messdaten zur Radioaktivität online

Die Bewohner der gesamten Region an den Grenzen zu Frankreich und Belgien fürchten sie - die alten Pannen-Meiler Cattenom und Tihange. Jetzt können elf Millionen Menschen zwischen Rhein, Mosel, Saar und Maas die behördlichen Messwerte zur Radioaktivität online verfolgen – was die Sorgen aber nicht mindert.

Von Anke Petermann | 14.07.2016
    Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange.
    Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange. (AFP / Belga / Eric Lalmand)
    "Ich habe die Seite jetzt das erste Mal aufgerufen, und - ist im Prinzip gut gemacht, da sind die ganzen Stationen zu sehen, an denen gemessen wird …"
    In seinem winzigen Büro im Trierer Haus der Umwelt- und Friedensinitiativen klickt Markus Pflüger vom AntiAtomNetz Trier die neue Online-Karte an. Über die Schulter schaut ihm Winfried Blasweiler, Mitgründer der Bürgerinitiative MAUS, Messen für aktiven Umweltschutz.
    Diese grenzübergreifende Initiative hat schon radiologische Messstationen auf den Häusern installiert, als das französische Atomkraftwerk Cattenom, 50 Kilometer von Trier entfernt, vor 30 Jahren ans Netz ging. Jetzt veröffentlichen Behörden grenzübergreifend die Rohdaten von 300 Mess-Sonden zwischen Rhein, Mosel, Saar und Maas. Belgier und Franzosen machen mit, obwohl sie die Ängste der anderen vor ihren überalterten Reaktoren Cattenom und Tihange unbegründet finden.
    Nur Profis können Rohdaten verstehen
    Luxemburg, Rheinland-Pfalz und das Saarland dagegen signalisieren mit der Internetseite, dass sie die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Das finden die beiden Atomkraft-Gegner gut: Aber, sagt Pflüger, "was ich bemerkt hab, ist: Ich komm da mit, aber ich frag mich, wer versteht das noch? Wer versteht, dass die bei Niederschlag höher sind, wer kann das überhaupt interpretieren, wer weiß, dass die ganzen Messungen im Wasser fehlen." "Ja, ich denke, die Daten, so wie sie veröffentlicht werden, kann niemand interpretieren, der nicht Fachmann ist auf dem Gebiet", ergänzt Blasweiler, der Professor im Ruhestand und Profi in kernphysikalischer Messtechnik.
    Was jetzt erstmals auf Deutsch und Französisch öffentlich zugänglich ist, fasst Rolf Hentzschel vom Umweltministerium Rheinland-Pfalz im Rokoko-Saal der Trierer Aufsichtsbehörde ADD zusammen. "Das Messnetz erfasst die Gamma-Dosisleistung, das sind Gammastrahlen, die aus der Höhenstrahlung kommen, aus dem Kosmos, aus dem Erdreich kommen, all die Strahlung, die auf einen Menschen, der an derselben Stelle steht, von außen einwirkt."
    In seinem Büro rückt Markus Pflüger näher an den Bildschirm, hat jetzt die flächendeckenden Mess-Waben für die Großregion angeklickt: Zwei Hellblau-Töne signalisieren, dass derzeit alles unter den unkritischen 200 Nanosievert liegt. "Es gibt nur zwei ersten Farben, 0 bis 100 und 100 bis 200. Die dunkleren Farben findet man nicht. Ich könnte jetzt gucken, wenn die Weltkarte drauf ist, wenn ich nach Tschernobyl scrolle, da eine andere Farbe finde." Doch die Weltkarte ist nicht drauf.
    Tschernobyl hätte die ganze Karte tiefblau gefärbt
    Die Tschernobyl-Wolke von 1986 hätte mit zehn- bis dreißigmal höheren Durchschnittswerten für mehr Dunkelblau auf dem Bildschirm gesorgt, erläutert Rolf Hentzschel vom Mainzer Umweltministerium. "Wolken sind normalerweise ziemlich ausgedehnt und führen dazu, dass immer mehrere Messstationen betroffen sind, zeitgleich. Auch der Hinweis darauf, dass Starkregen-Ereignisse zum Beispiel eine kurzzeitige Erhöhung der Radioaktivität in mehreren Stationen geben kann, ist sehr hilfreich. Man sollte nicht aufgrund von Messergebnissen, die ohne behördliche Interpretation und Erläuterungen gegeben werden, eigene Maßnahmen ergreifen." Soll heißen: Das Informationssystem ist kein Überwachungsauftrag an Bürger.
    Die Schlussfolgerungen bleiben den Katastrophenschutz-Behörden überlassen. Wenn alle Mess-Waben der Großregion mit einem Schlag tiefblau werden, heißt das für die Bewohner nicht automatisch: fliehen. Evakuiert würden sie nämlich nur, wenn dazu vor dem Freisetzen von hoher Radioaktivität noch Zeit wäre.
    Die Anti-Atom-Aktivisten Pflüger und Blasweiler klicken sich in Pflügers Büro durch lauter unbedenkliche Messwerte. Vom Katastrophenschutzplan der Behörden halten sie wenig. "Ich sitz dann im Keller, und hör noch Radio, ob das mein Radiogerät das schafft? Ok, es soll über Internet gehen, könnte zwar ausfallen,…" Gleichzeitig soll man Jodtabletten besorgen, also den Keller verlassen, um sich in den Stau vor der Verteilstation zu stellen. Aber nicht, um die Kinder aus der Kita abzuholen. Pflüger schlägt sich vor die Stirn: "Also, so kann man nur noch karikieren, was da läuft."
    Die Sorge wegen der Atomkraftwerke bleibt
    Bislang bleiben die Proteste in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland gegen die störanfälligen Reaktoren jenseits der Grenze wirkungslos. Die französische Umweltministerin Ségolène Royal nahm an der Präsentation der Internetseite nicht teil. Solange das Online-Portal unbedenkliche Messwerte zeigt, kann Frankreich die Sorge der Nachbarn weiter als Hysterie zurückweisen.
    Der Berliner Tobias Goldfarb schiebt seine 18 Monate alte Tochter im Buggy über den Trierer Willy-Brandt-Platz. Den Protest, das Portal - alles was die Bedrohung durch Cattenom und Tihange wach hält - findet der junge Vater wichtig. "Ich denke, es gibt so viele Themen und Probleme, die immer aktuell sind und einem aktuell Sorgen machen, dass so eine Langzeitsorge wie Atomkraftwerke … - das fällt leicht aus dem Fokus. Es ist eine Sorge um unsere Zukunft. Denn es ist eine Technologie, von der sich gezeigt hat, dass sie nicht sicher ist, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächste schlimme Sache passiert."