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Al-Kaida ohne die mythische Führungsfigur

Wer ersetzt Osama bin Laden bei Al-Kaida? Womöglich Ayman az-Zawahiri, bin Ladens rechte Hand, ein seit Jahrzehnten enger Weggefährte und der eigentlich denkende Kopf hinter der Terrororganisation.

Von Jürgen Stryjak |
    Einer der ersten, die sich in Ägypten nach dem Tod Bin Ladens zu Wort meldeten, war Aboud al-Zomour, einstiger Freund und enger Kampfgefährte von Aiman al-Zawahiri, dem möglichem Nachfolger Osama Bin Ladens.
    Nach dem tödlichen Attentat auf Ägyptens Präsident Sadat 1981 landete Aboud al-Zomour im Gefängnis und wurde erst jetzt wieder frei gelassen. Nun fordert er Bin-Laden-Sympathisanten weltweit auf, keine Racheakte zu verüben. "Wer Touristen oder Botschaften angreift", sagt er, "attackiert Unschuldige." Angesichts der friedlichen Revolutionen in der arabischen Welt habe der bewaffnete Kampf seine Bedeutung verloren.

    Auch der Ägypter Aiman al-Zawahiri wurde nach dem Attentat auf Sadat vor 20 Jahren vor Gericht gestellt. Aus dem Käfig der Angeklagten heraus wandte er sich damals vor Kamerateams an die Weltöffentlichkeit.

    "Wir sind Muslime", ruft er, "und wir glauben an die Religion – in zweierlei Hinsicht: als Ideologie und als Lebenspraxis." Diese Ideologie führte ihn nach drei Jahren Haft Mitte der achtziger Jahre nach Afghanistan. Hier wurde er später Chefideologe von Al-Kaida und rechte Hand von Osama Bin Laden.

    Im Gepäck hatte er die Theorien von Sayyid al-Sharif, dem Führer der Extremisten-organisation Islamischer Dschihad in Ägypten.

    "Der berühmte Sayyid al-Sharif", sagt Diaa Rashwan vom Al-Ahram-Zentrum in Kairo, "hat bedeutende Bücher geschrieben, über Theorie und praktische Umsetzung des bewaffneten Kampfes, insgesamt auf über 1400 Seiten. Sie gelten als Grundlagenschriften für jeden Dschihad-Kämpfer weltweit. Sein Name hat Gewicht in der internationalen Extremistenszene. Er war der Mentor von Aiman al-Zawahiri. Beide gründeten 1968 die erste Zelle des Islamischen Dschihad."

    Auf Unterstützung durch den Islamischen Dschihad Ägyptens bei der Neustrukturierung von Al-Kaida kann Aiman Al-Zawahiri jetzt trotzdem nicht hoffen. Die Organisation hat vor Jahren dem bewaffneten Kampf abgeschworen. Sayyid al-Sharif forderte Dschihadisten in aller Welt auf, die Kämpfe einzustellen. In zahlreichen Büchern begründete er religiös, warum der Weg der Gewalt falsch war.

    Ebenso die zweite große Radikalenorganisation in Ägypten, die Gamaat al-Islamiyya. Eine ihrer Zellen verübte das Attentat in Luxor 1997, bei dem 58 Menschen getötet wurden. Kurz darauf wendet auch sie sich von der Gewalt ab.

    "Die gesamte Basis ihrer Ideen veränderte sich. Die Gamaat al-Islamiyya schuf eine komplett neue Theorie, in der Gewalt keinen Platz mehr hat. Sie sind immer noch Islamisten, sie wollen die Sharia einführen, aber sie rufen nicht mehr zu Gewalt auf. Sie sind bereit, an demokratischen Prozessen teilzunehmen."

    Aiman al-Zawahiri gilt als der mögliche neue Führer von Al-Kaida. Die ägyptische Tageszeitung Al-Masry al-Youm beruft sich am Freitag auf einen Kenner der Szene und schreibt, dass Al-Zawahiri bereits übergangsweise zum Nachfolger Bin Ladens ernannt wurde. Es seien die Exil-Ägypter bei Al-Kaida, die die Kontrolle über das Netzwerk erringen möchten. Falls das stimmt – keiner weiß das genau im Moment – , dann kann Al-Kaida aus Ägypten selber kaum Unterstützung erwarten.

    In Ägypten, wie auch in Tunesien, im Jemen und in anderen arabischen Ländern bewegt sich der gesellschaftliche Mainstream derzeit in Richtung Zivilgesellschaft und Demokratie. Das merken auch die einst gewaltbereiten Extremisten-Organisationen, wie die ägyptische Gamaat al-Islamiyya. Im März veranstaltete sie, deren Aktivisten vor knapp anderthalb Jahrzehnten 58 Touristen töteten, eine öffentliche Kundgebung vor dem Luxor-Tempel. Vor Hunderten Teilnehmern betonten ihre Funktionäre, wie wichtig Tourismus sei und dass das Konzept der Gewalt falsch war.

    Die meisten Ägypter hoffen, sagt Islamismus-Experte Khalil Al-Anani, dass Al-Kaida irgendwann der Vergangenheit angehöre, genau wie Mubarak oder George W. Bush. Überhaupt könne man bei Al-Kaida nicht von einer Organisation sprechen.

    "Es gibt keine Verbindung zwischen ihrer Zentrale in Pakistan und Afghanistan sowie den anderen radikalen Dschihad-Bewegungen weltweit. Es gibt ideologische Berührungspunkte, aber keine organisatorische Koordination zwischen ihnen."

    Al-Kaida sei eher eine Idee, die sich in einer Art Metastasenbildung ausbreitete.

    Die Zellen dieses ideologischen Geschwürs können allerdings immer noch enormes Unheil anrichten. Die Terrorgefahr besteht weiter.

    Die Unterstützer von bin Laden in Pakistan, sagt Al-Anani, seien immer noch sehr aktiv, sie seien in der Lage zu planen und zu operieren, sie könnten westliche Ziele angreifen. Auch die Al-Kaida-Zweigstelle auf der Arabischen Halbinsel im Jemen arbeite weiter, genau wie die im westlichen Nordafrika.

    So gilt etwa der Prediger Anwar Al-Awlaki im Jemen ebenfalls als möglicher bin-Laden-Nachfolger. Laut US-Geheimdienstberichten ist er der Chef von Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel. Im Internet ruft Al-Awlaki zu Angriffen gegen den Westen auf und versucht, Attentäter zu rekrutieren.

    Aber auch im Jemen gilt: Wo die Menschen sich einen eigenen gewaltfreien Weg aus ihrer Misere eröffnen, stoßen Extremisten seltener auf Sympathie. Zwei Monate nach dem Beginn der friedlichen Massenproteste gegen Präsident Salih haben mehrere hundert jemenitische Stammesführer Al-Kaida Aktivitäten in ihren Gebieten untersagt. Einer der jungen Anführer der Proteste, Abdel-Hadi al-Azari, erklärte optimistisch, die Ära Al-Kaidas gehe zu Ende.