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Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst - Depression und Gesellschaft in der Gegenwart

Bei dem Versuch, ein autonomes Subjekt zu werden, befielen den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft gelegentlich mehr oder weniger heftige Neurosen. In ihnen drückte sich der Kampf zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Wünschen aus, wie Sigmund Freud gelehrt hat. Im 21. Jahrhundert nun, so sagen es die Statistiken, seien die Neurosen auf dem Rückzug und an ihrer Stelle breiteten sich in den sog. hochentwickelten Industrieländern in rapide steigendem Masse Depressionen aus. Was die gesellschaftlichen Ursachen dieser massenhaft auftretenden Pathologie sein könnten, hat sich der französische Sozialwissenschaftler Alain Ehrenberg gefragt und in seinem Buch 'Das erschöpfte Selbst’ eine Antwort versucht. Hans Martin Lohmann hat das Buch gelesen.

Von Hans-Martin Lohmann | 10.01.2005
    In den Praxen heutiger Allgemeinärzte sieht man nicht selten Plakate mit dem Hinweis an die Patienten, ihre Depressionen mittels gesundheitsbewusster Lebensführung zu vertreiben. Wellness-Angebote jeglicher Art versprechen dem Konsumenten in erster Linie, die Depressionen des Alltags vergessen zu machen und ihm zu neuem Wohlgefühl zu verhelfen. Am 7. Oktober vergangenen Jahres rief die European Depression Association den ersten Europäischen Depressionstag aus. Die Zahl der akut an Depressionen leidenden Deutschen wird auf vier Millionen beziffert. Laut Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation wird die Depression neben Herz- und Gefäßkrankheiten im Jahre 2o2o die häufigste Krankheitsursache sein. Sie scheint auf dem besten Weg zu sein, zur Volkskrankheit Nummer eins zu werden.

    Deshalb ist es vielleicht auch nicht überraschend, dass ein vor sieben Jahren in Frankreich erschienenes Buch mit dem Titel La Fatigue d’etre soi – wörtlich "Die Strapaze oder die Anstrengung des Selbstseins" – dort für erhebliches Aufsehen gesorgt hat. Auch der deutsche Verlag meldete bereits kurz nach Erscheinen der Übersetzung im letzten Herbst überdurchschnittliche Verkaufszahlen. Leben wir in einem neuen Zeitalter – im Zeitalter der Depression?

    Alain Ehrenbergs Buch ruft zwar kein neues Zeitalter aus. Wohl aber lenkt es die Aufmerksamkeit des Lesers mittels einer Vielzahl sowohl klinischer als auch allgemein sozialer Befunde auf die schwer zu übersehende Tatsache, dass in den heutigen westlichen Gesellschaften depressive Stimmungen und Verstimmungen in der Bevölkerung massiv zugenommen haben, die nach einer Erklärung geradezu schreien. Der Pariser Soziologe macht sich anheischig, das unheimliche Phänomen der Depression sozial-historisch und begrifflich einzukreisen und es in einen konsistenten gesellschaftstheoretischen Kontext zu rücken.

    Zunächst einmal geht es Ehrenberg um die Klärung der Frage, mit welchem Typus von Individuum man es zu tun hat, das für die seelische Störung der Depression anfällig ist. Wie und inwiefern hat sich dieses Individuum so verändert, dass es nicht mehr neurotisch, sondern eben depressiv auf die Herausforderungen und Zumutungen seiner Umwelt reagiert? Und wie muss man eine Gesellschaft – die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft – beschreiben, deren Reproduktion offenbar anderen Normen gehorcht als noch vor achtzig oder hundert Jahren?

    Was diese zweite Frage betrifft, so begnügt sich Ehrenberg leider nur mit knappen allgemeinen Hinweisen. Lesen wir den Autor richtig, so will er uns sagen, dass der globalisierte Kapitalismus der Gegenwart einen Produzententypus hervorbringt, der nicht mehr nach dem Modell arbeitsamer Askese zugerichtet ist, wie von Max Weber in seiner Schrift über die protestantische Ethik beschrieben, und nicht mehr nach dem Modell fordistisch-tayloristischer Unterwerfung unter das fremde Diktat von Produktion und Verwertung funktioniert. Vielmehr habe man es heute mit einem Typus zu tun, der eher dem Leitbild des Unternehmers als dem des Unternommenen entspreche und eher über ein Zuviel als ein Zuwenig an Individualität verfüge.

    In den Unternehmen weichen die disziplinarischen Modelle des Personalmanagements nach Taylor und Ford zugunsten von Normen, die autonomes Verhalten der Angestellten und Arbeiter fordern...Die neuen Modelle zur Regulation und Beherrschung der Arbeitskraft beruhen weniger auf mechanischem Gehorsam als auf Initiative: Verantwortung, die Fähigkeit, Projekte zu entwickeln, Motivation, Flexibilität – das ist die neue Liturgie des Managements. Das Bild des idealen Arbeiters ist nicht mehr das des Maschinenmenschen für repetitive Arbeit, sondern der flexible Unternehmer.

    Diesen sozioökonomischen Veränderungen entspricht, so Ehrenberg, auf individueller psychologischer Ebene ein Individuum, dessen Tüchtigkeit nicht mehr, wie früher, in Anpassungsfähigkeit und Gefügigkeit besteht, sondern in der selbstbestimmten Art und Weise, wie es sich als Handelndes zur Welt in Beziehung setzt. Musste es sich in älteren Zeiten zwischen Unterwerfung oder Rebellion entscheiden, was unweigerlich Konflikte nach sich zog, so muss es sich heute nur noch, oder doch in erster Linie, auf sich selbst beziehen. Aus dieser Lage, wenn sie denn zutreffend beschrieben ist, gewinnt Ehrenberg seine beiden zentralen Hypothesen, deren erste lautet:

    Die Depression ... ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten.

    Die zweite Hypothese heißt:

    Der Erfolg der Depression beruht auf dem verlorenen Bezug auf den Konflikt, auf dem der Begriff des Subjekts basiert, wie ihn uns das Ende des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat. Die Identifikation der Begriffe Konflikt und Subjekt geschah mit Freuds Erfindung der 'Abwehr-Neuropsychose'.

    Freud also ist für Ehrenberg der Referenzautor für ein Subjekt, das sich durch den Konflikt, durch die Spaltung zwischen dem, was möglich, und dem, was erlaubt ist, als Subjekt konstituiert. Nur wo ein Individuum vor die Aufgabe gestellt ist, zwischen zwei Optionen, zwischen Wunsch und Versagung, wählen zu müssen und so mit dem sozialen Modus der Repression und des Konflikts konfrontiert ist, kann man im emphatischen Sinne von einem Subjekt sprechen.

    Genau dies verweigert laut Ehrenberg die Depression, die ihrerseits das dominante psychische Krankheitsbild bei Individuen ist, die keine Konflikte mehr kennen, weil ihr Handeln zuvörderst von der Arbeit am Selbst bestimmt wird – an ihrer Autonomie, ihrer Eigeninitiative und Verantwortung, an ihrem Selbstwertgefühl und Wohlbefinden. Ehrenberg ist zutiefst davon überzeugt, dass diese permanente Arbeit am Selbst und an der privaten Selbstperfektionierung die meisten Menschen überfordert: deshalb die signifikante Zunahme von Alkohol- und Drogenabhängigkeit und der rasant steigende Konsum von Antidepressiva, der in einem Land wie Frankreich, das seit langem die europäische Spitze im Medikamentenverbrauch hält, besonders gut zu beobachten ist.

    Über weite Strecken liest sich Ehrenbergs Buch, ein sehr französisches Buch übrigens, denn auch wie eine Geschichte der Psychopharmakologie, in welche die Geschichte der modernen Psychiatrie seit 195o und ihres Kampfs um die Heilung der Depression verwoben ist. Der Autor lässt kaum Zweifel daran, dass die Erfindung immer neuer Antidepressiva bis hin zur "Glücksdroge" Prozac, angesiedelt an der Schnittstelle von Körper und Geist, Biologie und Seele, wenig mit Heilung, viel aber mit Symptomreparatur zu tun hat. Von Heilung könnte man nur dann sprechen, wenn mehr als persönliches Wohlbefinden erreicht wäre – wenn ein Individuum an seinen lebensgeschichtlichen Konflikten, an seiner Biographie klug wird und lernt, mit seinen Konflikten zu leben und die unvermeidliche Schuldhaftigkeit der eigenen Biographie zu akzeptieren. Freilich, die aufwendige und langwierige Arbeit der Psychoanalyse, an deren gelungenem Ende nicht ein glückliches, sondern ein einsichtsfähiges Individuum steht, wirkt seltsam antiquiert in einer Gesellschaft, die Kostenersparnis und glattes Funktionieren zu obersten Werten erkoren hat.

    Bedauerlicherweise lässt Ehrenberg die Frage undiskutiert, ob die nicht nur von ihm konstatierte Zunahme depressiver Störungen womöglich auch etwas zu tun hat mit dem Aufkommen von psychotropen Medikamenten, die heutzutage praktisch jedem zugänglich sind. Ob, mit anderen Worten, die neuen Angebote der Pharmaindustrie im Verein mit einem neuen psychiatrischen Vokabular, das immer neue "Störungen" diagnostiziert, erst eine massenhafte Nachfrage erzeugt hat. Die Geschichte der modernen Industrie kennt viele Beispiele dafür, wie ein Angebot zu einer Nachfrage führt, die es vordem nicht gab. Insofern ist der Verdacht nicht völlig von der Hand zu weisen, dass das diffuse Krankheitsbild der Depression mit seinen Zuständen von Erschöpfung, Überforderung und Handlungsunfähigkeit ein sehr zeitgemäßes Phänomen ist, das ältere Krankheits- und Konfliktbilder bloß modisch überlagert.

    Die eigentliche Brisanz von Ehrenbergs Untersuchung liegt darin, dass sie die Abdankung des politischen Subjekts als bedrohliches Szenario an die Wand malt. Die Depression, so seine zugespitzte These, bringt das alte neurotische, konfliktfähige Subjekt zum Verschwinden und ersetzt es durch ein teigiges "Selbst", das nur noch an sich selbst und seinen Unzulänglichkeiten laboriert. Eine demokratisch verfasste Gesellschaft aber lebt davon, dass das Subjekt, der politische Souverän, in der Lage ist, vom Leiden an sich selbst abzusehen und den Blick auf das zu richten, was objektiv Leiden hervorbringt, das heißt, das Unbehagen in der Kultur nach außen zu wenden. Oder um es mit Ehrenberg zu sagen:

    Den produzierten Reichtum gerechter verteilen und die Ungleichheit der Chancen zwischen den sozialen Klassen bekämpfen: Das sind die beiden großen politischen Kompromisse, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzten. Die Spaltung des Sozialen bedingt die Einheit der Gesellschaft. Durch diesen Konflikt kann eine gesellschaftliche Gruppe bestehen, ohne dass sie ihren Sinn durch Bezug auf ein Jenseits rechtfertigen müsste und ohne dass ein Herrscher für alle entscheidet. Das ist der Kern des Politischen in der Demokratie.

    Wenn Ehrenbergs skeptische Gesellschaftsdiagnose triftig ist, müsste einem um die Zukunft der Demokratie tatsächlich bange sein. Man kann freilich mit Gründen bezweifeln, dass sich der Sozialcharakter des modernen Kapitalismus so gründlich gewandelt hat, wie der Autor zu befürchten scheint. Dennoch ist Alain Ehrenbergs Buch ein produktiver Stein des Anstoßes.

    Das erschöpfte Selbst von Alain Ehrenberg, übersetzt aus dem Französischen von Manuela und Martin Klaus Lenzen. Erschienen ist das Buch in der Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie im Campus Verlag. Es hat 305 Seiten und kostet 24.90 Euro.